1.131 (str2p): Nr. 245 Sitzung von Reichskabinett, beteiligten Ländern und Fünfzehnerausschuß über Fragen des besetzten Gebiets. 13. November 1923, 11 Uhr

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Nr. 245
Sitzung von Reichskabinett, beteiligten Ländern und Fünfzehnerausschuß über Fragen des besetzten Gebiets. 13. November 1923, 11 Uhr

R 43 I /189 , Bl. 327–3321

1

Abdruck bei R. Morsey, Die Rheinlande, Preußen u. d. Reich 1914–1945. Zu dieser Sitzung liegen vor eine Parallelaufzeichnung von Erkelenz (BA: NL Erkelenz  57, Bl. 42–45) und eine Aufzeichnung Jarres’ über die Ausführungen von Luther, Brauns und Hagen (BA: NL Jarres 6).

Anwesend: von der Reichsregierung: Stresemann, Fuchs, Luther, Jarres, Brauns, Graf von Kanitz; StS Kempkes, Trendelenburg; GeneralKom. Schmid; MinDir. Kempner, Kalle, Köpke; MinR Graf Adelmann, Reichardt, Jaffé, Claußen, Weirauch; Vortr.LegR v. Friedberg; Gerichtsassessor a. D. Landwehr; für Preußen: MinPräs. Braun; MinDir. Nobis, Löhrs; für Bayern: Gesandter von Preger; für Hessen: StPräs. Ulrich, Gesandter von Biegeleben, IM von Brentano; für Baden: StPräs. Köhler, Gesandter Nieser; für Oldenburg: MinPräs. von Finckh, StM Heer; für die besetzten Gebiete: Hagen, OB Adenauer, OB Hamm; vom Fünfzehnerausschuß: Meerfeld, Görres, Klupsch, Rippel, Hommelsheim, Priester, Erkelenz, Falk, Krücke, Scholz, Schmitz, Moldenhauer, Mönnig; Protokoll: RegR Wienstein.

Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung2.

2

Nach der Aufzeichnung von Erkelenz begann die Sitzung folgendermaßen: „Stresemann: knüpft an die Sitzung von Hagen vom 25. Oktober an. Die Verhandlungen mit Stinnes über die Aufnahme der Kohlenlieferung sind wieder gescheitert. Auch andere Verhandlungen sind gescheitert. Finanziell ist unsere Lage außerordentlich schwierig. In Hagen mußten meine Zusagen betreffend Weiterzahlung der Zuschüsse des Reichs an das besetzte Gebiet notwendig sehr unbestimmt sein. Ich mußte mir andere Entscheidungen vorbehalten. Wir haben zur Zeit in Deutschland zwei Millionen Arbeitslose, dazu weitere zwei Millionen Kurzarbeiter. Vom 15. November ab wird die Rentenmark als wertbeständiges Reichsgeld eingeführt. Diese Rentenmark im besetzten Gebiet in Umlauf zu bringen, ist unmöglich. Ein sofortiges Disagio wäre unvermeidlich. Dem französischen Botschafter in Berlin habe ich erklärt, für die durch politische Vorgänge entstandene Arbeitslosigkeit könne das Reich nicht aufkommen. Gestern hat er mir erwidert, das Reich solle auf die Bergherren einwirken, damit diese endlich die Kohlensteuer bezahlen und Kohlen liefern. Dabei hat der Bergbau schon viel mehr getan, als er hätte tun sollen. Das Kabinett hat beschlossen, die Zahlungen an das besetzte Gebiet einzustellen, sobald die Rentenmark am 15. November in Kraft tritt. Wir haben die Frage besprochen, ob wir für zehn Tage die Zahlungen noch weiterleisten sollen und können, falls die Gemeinden entsprechend den Vorschlägen des Reiches Notgeld ausgeben. Das besetzte Gebiet muß jetzt verhandeln über Maßnahmen, die notwendig sind. Das besetzte Gebiet ist ein Okkupationsgebiet gemäß der Haager Landkriegsordnung. Wie soll das besetzte Gebiet sich mit den Okkupationsmächten auseinandersetzen? Es darf nicht über staatsrechtliche Fragen verhandeln, sondern nur über wirtschaftlich-soziale Maßnahmen. Juristisch liegen verschiedene Vorschläge vor. Aber die Beratungen sind noch nicht abgeschlossen. So kann man aber zum Beispiel verhandeln über die Beseitigung rechtlicher Hindernisse für die Eintragung einer eigenen Währungsbank im besetzten Gebiet. Die Regierung will nicht den Rechtsbruch Frankreichs legalisieren. Das Reichskabinett und das preußische Staatsministerium sind sich einig, es muß eine Kundgebung an die Welt erlassen werden, daß nach dem vollzogenen Rechtsbruch des Einmarsches in das besetzte Gebiet alle Leistungen aus dem Versailler Vertrag ruhen. Sonst entstehen durch eventuelle private Vereinbarungen zwischen den Industrien und der Besatzungsbehörde neue Pflichten für die Regierung. Auch Italien möchte gern Kohle von uns haben. Wir sind aber nicht mehr in der Lage, das alles zu bezahlen. Alle Leistungen an das besetzte Gebiet, insbesondere auch für Erwerbslosenunterstützung, könnten wir nur für eine ganz kurze Zeit noch leisten. Durch die Festsetzung eines Termins üben wir dann vielleicht auch einen Druck dahingehend aus, daß irgendwie Verhandlungen in Fluß kommen. Jedenfalls sind nach dem Erlaß einer solchen Erklärung auch die Vertreter des besetzten Gebietes dann in ihren Entscheidungen freier als jetzt. Wer gehört eigentlich zum 15er Ausschuß? Ich habe vergeblich versucht, das festzustellen. – Mönnig: Ich bin nicht gefragt worden. Sonst hätte ich die Namen angeben können.“ Notizen Adenauers während dieser Sitzung bei K. D. Erdmann, Adenauer i. d. Rheinlandpolitik, S. 131, Anm. 14.

[1043] Einleitend kam er auf seine Hagener Besprechungen zurück3 und führte sodann aus, daß die Lage im besetzten Gebiet außerordentlich bedenklich, daß aber auch die finanzielle Lage des Reichs sehr gefährdet sei4. Er machte sodann davon Mitteilung, daß einer soeben erhaltenen Nachricht zufolge die Verhandlungen der Herren Stinnes und Vögler mit den Franzosen abermals gescheitert seien5. Hierauf fuhr der Herr Reichskanzler fort: Wir haben für 2 Millionen Arbeitslose und Kurzarbeiter im besetzten Gebiet zu sorgen. Ich habe den französischen Botschafter in Berlin davon in Kenntnis gesetzt, daß wir es ablehnen müssen, für Arbeitslosigkeit im besetzten Gebiet einzustehen, die eine Folge der französischen Politik ist. Poincaré hat sich dahin geäußert, die Deutsche Regierung müsse auf die deutschen Bergwerksbesitzer in der Richtung einwirken, daß sie größere Zugeständnisse den Franzosen bewilligten6. Aber trotz allergrößter Zugeständnisse von seiten der Bergwerksbesitzer sind die Verhandlungen gescheitert. Die Überzeugung des Reichskabinetts geht dahin, daß mit Einführung der Rentenmark die Erwerbslosenzahlungen im besetzten Gebiet von seiten des Reichs aufhören müssen. Es wird vielleicht noch möglich sein, die Zahlungen zehn Tage über den 15. November hinaus[1044] zu leisten. Dann aber müssen die Erwerbslosenzahlungen für das besetzte Gebiet seitens des Reichs aufhören7.

3

S. Dok. Nr. 179 u. Dok. Nr. 210.

4

S. Dok. Nr. 227, P. 79; Dok. Nr. 232, P. 3; Dok. Nr. 242, P. 3.

5

S. Dok. Nr. 246.

6

Vgl. Stresemanns Ausführungen in Dok. Nr. 232, P. 3; Dok. Nr. 242, P. 3 mit Anm. 9.

7

S. Anm. 9 zu Dok. Nr. 242.

Was die Frage der Rheinischen Notenbank anbelangt, so kann und will die Reichsregierung die Gründung der Notenbank nicht offiziell genehmigen8. Andererseits ist das eine klar, daß der Bevölkerung des besetzten Gebiets in irgendeiner Weise geholfen werden muß. Es ist selbstverständlich für das besetzte Gebiet von außerordentlichen Folgen, wenn das Reich keine Erwerbslosenunterstützungen mehr zahlt9. Die Reichsregierung beabsichtigt, eine Kundgebung an alle Mächte zu richten, die dahin geht, daß alle Leistungen an die Bevölkerung des besetzten Gebiets mit Einführung der Rentenmark aufhören[1045] müssen und daß den Besatzungsmächten die Verantwortung für alles entstehende Unglück zur Last fallen müsse10. Ein großer Teil der Schwierigkeiten wird behoben werden, wenn Arbeit für die Bevölkerung des besetzten Gebiets wieder geschaffen wird. Bis jetzt ist man aber in dieser Hinsicht nicht weit gekommen. Die Herren Vertreter des besetzten Gebiets mögen sich überlegen, wie man aus der so überaus schwierigen Situation herauskommen kann.

8

S. Dok. Nr. 234; Dok. Nr. 233, P. 1. Über die weitere Entwicklung gibt eine vertrauliche Aufzeichnung von Schuberts vom 22.11.23 Aufschluß. Danach hatte D’Abernon von einem Besuch Hagens berichtet, der erklärt habe, die Rheinländer würden die Goldnotenbank nur bei englischer Beteiligung aufbauen und wenn sie von der RReg. autorisiert worden sei. In Koblenz habe Hagen nichts über eine englische Beteiligung gesagt. D’Abernon habe die Diskrepanz bemerkenswert gefunden und eine Unterrichtung gewünscht. Der Botschafter sei über das englische Verhalten nicht informiert. Im Falle einer englischen Beteiligung solle diese so groß wie die französische sein, und die Bankgründung solle nicht über den Kopf der brit. Regierung hinweg erfolgen (Pol.Arch.: Büro RM 15, Bd. 4). Von einer Reise nach England hatte der Bankier von Schwabach am 19.11.23 berichtet: „Bald nach meiner Ankunft hatte ich mit Herrn Schröder über die zu errichtende Rheinische Bank gesprochen und daraufhingewiesen, daß es vor allen Dingen darauf ankommt, dafür vorzusorgen, daß die Gründung, wie es auch für die Hamburger Goldbank geschehen ist, als eine Notaktion gelten muß, die nur bis zu dem Augenblick wirksam bleiben darf, in welchem das Gesamtdeutschland den Übergang zu einer festen Währung vollziehen kann. Baron Schröder teilte meine Ansicht sowohl in bezug auf die Wichtigkeit dieses Planes als auch, insofern er gleich mir eine Beteiligung Englands für wünschenswert hält, wobei er für die Zukunft wertvolle Winke gegeben hat. – Bald darauf sprach ich über dieselbe Angelegenheit Sir Eyre Crowe, der mir mitteilte, daß England sich entschlossen hätte, eine Beteiligung an dem Unternehmen abzulehnen, um der französischen Ruhrpolitik vollkommen fernzubleiben. Ich erwiderte ihm, daß diese Haltung an sich verständlich und vielleicht auch logisch wäre, in praxi aber dazu führte, daß den Franzosen vollkommen freie Hand gelassen würde. Ich bat ihn und er versprach mir, sich durch einen Sachverständigen nach der wirtschaftlichen Bedeutung der Bankgründung zu erkundigen und bis dahin nicht endgültig Stellung zu nehmen. – In eben jenen Tagen hat nun ohne mein Zutun eine Unterhaltung über denselben Gegenstand zwischen Baron Schröder und dem Gouverneur der Bank of England stattgefunden, wobei der letzte sein Interesse an der Bank und sein Bedauern darüber, daß das Foreign Office ein Veto eingelegt habe, geäußert hat. Auf Schröders Zureden hat er sich bereit erklärt, noch einmal vorstellig zu werden. Da Mr. Norman ein ungewöhnlich hohes Ansehen in London genießt und mein Gespräch mit Sir Eyre Crowe, wie ich vermute, vorbereitend gewirkt hat, ist eine englische Beteiligung vielleicht noch möglich“ (Briefauszug vom 20.11.23; Pol.Arch.: Büro RM 15, Bd. 4).

9

Der PrVolkswohlfM hatte in einem Schreiben an den RFM vom 10.11.23 ausgeführt, daß Hagen und Tirard noch weitere 2 Monate benötigen würden, um die Rheinische Goldnotenbank aufzubauen, und daß Hagen in dieser Zeit eine große Summe der Rentenmark in das Rheinland ziehen wolle zur Stützung der rheinischen Währung. Die zwei Monate sollten für Gegenaktionen benutzt werden. Da bisher das besetzte Gebiet auf Kosten des unbesetzten gelebt habe, werde es sich als wirksam erweisen, wenn die Rentenmark nicht an das besetzte Gebiet gegeben werde. „Die Franzosen haben bisher eine völlig destruktive, staatszerstörende, aber keine aufbauende Politik im Rheinland getrieben. Sie werden den ungeheuren wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die mit Einstellung der Reichs- und Staatszahlungen auf sie einstürmen umso weniger gewachsen sein, als nach allen Nachrichten der französische Finanzminister nicht geneigt ist, große Summen zur Finanzierung des rheinischen Staates auszuwerfen, da er nicht die Abwärtsbewegung des französischen Franken fördern will.“ Die Folge werde sein, daß bei Einstellung der Reichszahlungen an die Erwerbslosen usw. die Loslösungsbestrebungen in sich zusammenfallen. Der PrVolkswohlfM bat um Nachricht, ob oder ob nicht die Rentenmark in das Rheinland eingeführt werden solle und von welchem Zeitpunkt an die Reichszahlungen eingestellt würden (R 43 I /189 , Bl. 320–321).

10

S. dazu Dok. Nr. 241. Eine weitere Fassung des Aufrufs, die auf Luthers Gedankengänge aufbaut, befindet sich im NL Maltzan : „Nachdem alle Versuche der Reichsreg. mit den Besatzungsmächten über das wirtschaftliche Los der Bevölkerung des okkupierten Gebietes zu Verhandlungen zu kommen, gescheitert sind, [zuvor: Nachdem Frankreich und Belgien alle Versuche der Reichsregierung, über das wirtschaftliche Los der Bevölkerung des okkupierten Gebietes zu Verhandlungen zu kommen, endgültig abgelehnt haben] und nachdem das Reich in die tatsächliche Unmöglichkeit versetzt worden ist, einen 100 Millionen Rentenmark übersteigenden Zuschuß dem besetzten Gebiet für alle durch die Besetzung und den widerrechtlichen Einbruch hervorgerufenen Schäden, insbesondere auch für die Erwerbslosenfürsorge zur Verfügung zu stellen, bleibt kein anderer Weg übrig, als daß die Bevölkerung selbst aus eigener Kraft den Versuch macht, das zu tun, was zur Erhaltung ihres Lebens unbedingt erforderlich ist. Soweit eine Regelung nach dieser Richtung notwendig werden sollte, muß die Bevölkerung der besetzten Gebiete davon ausgehen, daß es sich nur um einen vorübergehenden tatsächlichen Zustand der Okkupation handelt. Bei allen Maßnahmen, die zur Erhaltung des Lebens der Bevölkerung und zur Beseitigung des Elends unumgänglich sind, geht die Reichsregierung unter keinen Umständen von der Voraussetzung aus [aus: Auffassung ab], daß durch solche während der Okkupationszeit getroffenen Maßnahmen eine Änderung der bestehenden staatsrechtlichen Verhältnisse zu Reich und Ländern nicht herbeigeführt [aus: herbeigeführt wird]“ (Pol.Arch.: NL Maltzan, Besetzes Gebiet; auch in BA: NL Jarres 6).

Der Reichsminister der Finanzen11: Bis jetzt hat das Reich finanziell sich[1046] durch den Druck von Noten aufrechterhalten. Wir sind jetzt aber so weit, daß die Papiermark ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt. Kennzeichnend für die jetzige Lage ist eine Meldung des Landesfinanzamts Köln, daß selbst Billionenzahlungen an die Beamten nichts mehr nützen. Die tiefste Ursache dieses finanziellen Elends liegt darin, daß die deutsche Wirtschaft keine abbaubaren Reserven mehr hat. Als die ungeheuere Erwerbslosigkeit sich zeigte, war das Schicksal der Papiermark besiegelt. Es ist selbstverständlich, daß die im besetzten Gebiet bestehende Lage lediglich auf das Verhalten der Einbruchsmächte zurückzuführen ist. Es fragt sich, was geschehen kann12.

11

Hierzu die Aufzeichnungen von Erkelenz: „Luther (Reichsfinanzminister): Bis vor kurzem war die Papiermark noch Zahlungsmittel. Jetzt ist sie es nicht mehr. Denn die Billionenziffern helfen nichts mehr. Die Beamten hungern. Es sind keinerlei Reserven mehr da. Wir haben gelebt vom Kapital der Rentenbesitzer. Der Umtausch von Papiermark in Devisen, der im besetzten Gebiet im großen Umfange vor sich gegangen ist, hat der Mark den Rest gegeben. Das sehen sie an der Kursspannung zwischen der Kölner und der Berliner Börse. Der letzte Grund ist der maßlose Notendruck. Die ungeheure Erwerbslosigkeit an der Ruhr, die von den Franzosen gewollt ist, nahm uns die letzte Hoffnung. Was kann geschehen? Erste Voraussetzung: Stillegung der Notenpresse. Vorher muß aber ein anderes Zahlungsmittel geschaffen werden. Auch die Goldanleihe ist größtenteils im Meer der Inflation versunken. Der Ruf nach wertbeständigen Zahlungsmitteln hat die Entwertung noch beschleunigt. Die Rentenmark ist für das besetzte Gebiet nicht zugelassen. Sie muß davor bewahrt werden, daß sie sofort in Devisen umgesetzt wird. Das würde aber gerade im besetzten Gebiet sofort geschehen. Wir haben deshalb einen Weg vorgeschlagen, daß die Gemeinden ihrerseits Notgeld ausgeben. Das könnte eine Zeitlang helfen, wenn nicht große Erwerbslosigkeit bestände. Wir suchen noch einen Weg, um vom 15. November ab, dem Tage des Inkrafttretens der Rentenmark, noch für zehn Tage das besetzte Gebiet mit Papiermark zu bezahlen. Die nötigen Summen übersteigen jede Phantasie. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Es handelt sich nicht mehr um einen Entschluß, sondern um eine unausweichliche Folgerung aus der gegebenen Lage. Es muß die Möglichkeit geschaffen werden, über die Lebensfrage des besetzten Gebietes mit den Besatzungsmächten zu verhandeln. Das besetzte Gebiet hat Kohlen, das unbesetzte Gebiet verliert vielleicht diese Kohlen. Das besetzte Gebiet ist in normalen Zeiten ein Überschußgebiet. Wie alles letzten Endes ausgeht, weiß niemand. Jetzt stehen wir vor zwingenden Notwendigkeiten.“ Nach Jarres’ Aufzeichnung führte Luther aus: „Ersparnisse aufgezehrt nichts mehr da. Versuche der Franzosen hindern uns zu arbeiten: Künstliche Erwerbslosigkeit im Ruhrgebiet. Druckpressen stillzustellen: Geht nur bei neuem Zahlungsmittel. Goldanleihe war nur kl[eines] Mittelchen. Rentenmark: im bes. Gebiet nicht zugelassen; aber mit der Zulassung müßte verhütet werden, daß sie in Devisen umgewandelt wird. Städtenotgeld: damit kann etwas geholfen werden (Preußen). Zahlungen auf Reichskonto damit, gegen Hinterlegung d. Gegenwerts im unbesetzten Gebiet. Erwerbslosengelder im Ganzen damit nicht möglich. Für 10 Tage soll versucht werden: 1. Normalzahlungen: aus Notgeld weiter, auf Dauer nicht; 2. Erwerbslose: bis 25. 11.; 3. Okkupationsleistungen an Dritte [?]: sofort/Markvorschüsse; 4. Okkupationsleistungen an Belgien und Frankreich [?]: Abbau. Unausweichliche Erklärung.“

12

Vgl. Anm. 15 zu Dok. Nr. 242.

Die Notendruckpresse wird stillgelegt werden. Selbst wenn wir nun Rentenmark ins besetzte Gebiet schaffen wollen, so haben wir keine Gewähr dafür, daß nicht die Franzosen und Belgier die Rentenmark ebenso wie die Papiermark beschlagnahmen.

Auf dem Wege des Städtenotgeldes kann für einige Zeit geholfen werden. Jede Entschlußfassung kann aber nur dahin gehen, uns aus den französischen Banden soweit zu befreien, daß es für das deutsche Volk noch Lebensmöglichkeiten gibt.

Reichsminister des Innern13: Erforderlich ist vor allem Klarheit über die Lage und Klärung über den einzuschlagenden Weg. Das Problem des besetzten Gebiets ist ein Finanzproblem. Tatsächlich ist das Gebiet von uns getrennt. Da das Reich in absehbarer Zeit nicht mehr in der Lage ist, Zahlungen an das besetzte Gebiet zu leisten, muß dem besetzten Gebiet in irgendeiner Weise geholfen werden. Das Reich muß die Ermächtigung geben, die Verwaltungs- und wirtschaftlichen Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind. Diese Ermächtigung wird einem Ausschuß, vielleicht dem Fünfzehnerausschuß, zu übertragen sein14.

13

Zu Jarres’ Ausführungen heißt es in der Aufzeichnung von Erkelenz: „Nun muß die Klärung der Verhältnisse des besetzten Gebietes vorgenommen werden. Ich habe die Tatsachen seit langem kommen sehen. Vielleicht ist das alles in erster Linie ein Finanzproblem. Aber wir müssen uns die Frage stellen, ob die Basis dieser Überlegung richtig ist. Faktisch ist das besetzte Gebiet schon vom Reich getrennt. Diese Trennung wird sich infolge der Finanzsorgen verschärfen. Der Weg zum eigenen Leben darf nur im Einvernehmen mit dem Reich gesucht werden. Ich habe die Zuversicht, daß wir nur vorübergehend getrennt werden. Später werden wir uns wiederfinden. Wir müssen zu internationalen Verhandlungen vor ein besseres Forum kommen. Die Leistungen aus dem Friedensvertrag müssen ruhen. Eine entsprechende Erklärung muß allen Mächten zugehen. Neben diesem außenpolitischen Schritt muß sich dann das Rheinland selbst helfen können. Der Makel, der auf ehrlich suchende Menschen entfällt, muß weggenommen werden. Deshalb muß das besetzte Gebiet, unbeschadet der Staatsform und Rechtslage, die Verwaltungs- und Wirtschaftsmaßnahmen treffen, die zur Lebenssicherung notwendig sind. Wir haben ein furchtbares Los hüben und drüben zu erwarten. Vielleicht finden sich aber doch einmal Mittel des Ausgleichs. Zunächst muß der 15er-Ausschuß sich zurückziehen und seine Entschlüsse fassen, die er uns dann bekanntgeben kann.“

14

S. Dok. Nr. 242, P. 3. Vom AA war eine Aufzeichnung Köpkes dem RK durch von Schubert vor der Besprechung mit den Ländern und den Vertretern des Rheinlandes übergeben worden. Sie enthielt „die Bedenken des Auswärtigen Amts gegen die beabsichtigte Rheinlandverordnung: 1) Die beabsichtigte Verordnung würde weder im alt- noch im neubesetzten Gebiet ohne Genehmigung der obersten Okkupationsbehörde (Rheinlandkommission bzw. Militärbefehlshaber) geltendes Recht werden. Diese werden aber ihre Zustimmung verweigern, da sie in ihren Augen den Zweck verfolgt, Deutschland seiner Pflichten aus dem Rheinlandabkommen zu entledigen. 2) Bestenfalls wird die Rheinlandkommission die Gründung der Verwaltungskommission zum Anlaß nehmen zu einer Staatsgründung in ihrem Sinne: Das Ziel Frankreichs ist ein autonomes Rheinland außerhalb des Reichs. 3) Frankreich würde aber trotz Gründung eines derartigen selbständigen Staates das übrige Deutschland aus seinen Klammern nicht freilassen. Es würde zunächst darauf bestehen, daß wir unter Brief und Siegel die neue Staatsgründung anerkennen; außerdem würde es eine neue Verpflichtung des Rumpf-Deutschlands zum Tragen seines verhältnismäßigen Anteils an den Reparationslasten verlangen; vorher auf keinen Fall Freigabe der Ausfuhr von Eisen und Kohle aus dem Ruhrrevier. 4) Bayern wird seine besetzten Gebiete niemals dieser Verordnung unterstellen und auf seine eigene Verwaltung verzichten. Staatsrechtlich dürfte es auch mit der Weimarer Verfassung nicht vereinbar sein, daß allein durch Reichsverordnung die den Ländern vorbehaltene Verwaltungshoheit gegen ihren Willen auf andere Organe übertragen wird. 5) England wird dieser Regelung als einem Verzicht Deutschlands auf Rhein und Ruhr zugunsten Frankreichs niemals zustimmen. Wird dieser Akt plötzlich ohne jede Fühlungnahme mit England vorgenommen, so werden unsere Fäden zu England damit endgültig zerreißen. 6) Die Verordnung enthält nicht einmal die Bestimmung, daß die Verwaltungskommission unter irgendeinem Rechtsorgan steht, kommt aber darauf hinaus, daß Rhein- und Ruhrland auf Zeit souverän erklärt wird, eine völkerrechtliche Unmöglichkeit. Die völkerrechtliche Verantwortung werden wir damit für Rhein und Ruhr nicht los. 7) Frankreich wird die ganze Sache als camouflage betrachten, durch die wir uns von den Reparationsleistungen zu drücken versuchen. Es wird dadurch unser Verhältnis zu Frankreich in ein Stadium erhöhter Spannung treten, während zur Zeit gerade mehrere recht aussichtsreiche Verhandlungen schweben, die eine Entspannung erwarten lassen. 8) Es erscheint geboten, diese Verhandlungen vor allem Weiteren zu beschleunigen und die Ergebnisse zunächst abzuwarten“ (Pol.Arch.: NL Maltzan , Besetztes Gebiet).

[1047] Gesandter v. Preger: Ich kann mit der Übertragung der geplanten Befugnisse an den Fünfzehnerausschuß auf keinen Fall einverstanden sein. Die Pfalz ist im Ausschuß nur sehr schwach und absolut unsachgemäß vertreten15. Im übrigen ist grundsätzlich die Übertragung so weitgehender Befugnisse an eine Kommission zu verwerfen16.

15

Vgl. Dok. Nr. 234.

16

Vgl. o. Anm. 14: P. 4.

Staatspräsident von Hessen17: Einer Kommission dürfen nicht so weitgehende Vollmachten übertragen werden. Mit dem Fünfzehnerausschuß kann ich mich auch nicht einverstanden erklären18. Man würde weiterkommen, wenn die Länder selbst für sich mit Frankreich verhandelten.

17

In der Aufzeichnung von Erkelenz schließen die Ausführungen des Hess. StPräs. direkt an Jarres an. Danach nahm die Diskussion folgenden Verlauf: „Staatspräsident Ulrich: protestiert namens des Freistaates Hessen gegen diesen Vorschlag. Das gehe nicht an. Der 15er-Ausschuß sei keine Einrichtung, die zu solchen Schritten ein Recht habe. – Stresemann: Falk hat eine Pause vorgeschlagen. Der 15er-Ausschuß soll sich ja jetzt nicht sofort entscheiden. – Ulrich: So wie die Herren es sich bisheran vorgestellt, geht es nicht. Ich muß mich namens des Freistaates Hessen entschieden dagegen verwahren, daß irgend eine Kommission Beschlüsse faßt. – Stresemann: Wer Vollmacht haben soll, darüber hat ja auch das Kabinett noch nicht beschlossen.“

18

Vgl. Dok. Nr. 240.

Reichsarbeitsminister19: Die Ausgaben, welche die künstliche Erwerbslosigkeit im besetzten Gebiet verursacht, sind ungeheuerlich. Wir hatten am[1048] 1. November 800 000 Erwerbslose und Kurzarbeiter im unbesetzten Deutschland, 2 Millionen Erwerbslose und Kurzarbeiter im besetzten Deutschland. Die Ausgaben für die Arbeitslosen des unbesetzten Deutschland für die Zeit vom 1. bis 30. November werden sich auf 36 Goldmillionen belaufen; die Ausgaben für die Zeit vom 10. bis 30. November für die Arbeitslosen des besetzten Deutschlands auf 75 Goldmillionen.

19

Zu Brauns Ausführungen heißt es in der Aufzeichnung von Erkelenz: „Am 1. November gab es im unbesetzten Gebiet 800 000 Erwerbslose, im besetzten Gebiet zwei Millionen Erwerbslose. Das unbesetzte Gebiet hat vom 15. Oktober bis jetzt 36 Millionen Goldmark für Erwerbslosenunterstützung verlangt. Für das besetzte Gebiet brauchen wir alle zehn Tage 75 Millionen Goldmark zur Erwerbslosenunterstützung. Es sind nur noch zwei Drittel der Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt.“ Die Parallelüberlieferung von Jarres lautet: „Erwerbslose bes[etztes] Gebiet 2 Mill., unbes[etztes] Gebiet 800 000. 10 Tage Erwerbslose = 100 Mill. GM. 1.–30. 11.: 36 Mill. GM (unbes. Geb.); 10.–30. 11.: 75 Mill. GM (bes. Gebiet). Kurzarbeiter: nur ⅔ vollbeschäftigt (Grund Preislage über Weltmarkt).“

Auf die Frage des Hessischen Staatspräsidenten, ob das Reich sämtliche Zahlungen an das besetzte Gebiet einstellen wolle, führte der Reichsminister der Finanzen folgendes aus20:

20

Die weitere Diskussion verlief nach der Aufzeichnung von Erkelenz bis zu den Äußerungen Hagens folgendermaßen: „Adenauer: Aus allen Erklärungen der Regierungsvertreter bleibt mir unklar, was eigentlich gesagt wird. Soll nur keine Erwerbslosenunterstützung mehr gezahlt werden, oder sollen überhaupt keine Zahlungen mehr an das besetzte Gebiet geleistet werden? Man müsse zunächst doch wissen, in welchem Verhältnis die Zahlungen für die Erwerbslosen zu den Zahlungen für die anderen Verpflichtungen stehen. – Luther: Man muß vier Gruppen von Zahlungen unterscheiden: 1.) an die Besatzungsmächte. Diese Zahlungen sollen sofort eingestellt werden. 2.) die Okkupationslasten. Sie sind im Abbau und können noch weiter geleistet werden. 3.) Zahlungen für Erwerbslosenfürsorge. Hier handelt es sich um ungeheuerliche Summen, die wir überhaupt nicht bezahlen können. Höchstens können wir nach dem 15. November noch zehn Tage lang bezahlen. 4.) handelt es sich noch um die normalen Leistungen der Verwaltung. Sie können vorläufig aus Notgeld der Gemeinden gedeckt werden. – Adenauer: findet, daß Luther die Frage immer noch nicht klar beantwortet hat. – Luther: Wir können diese ungeheuren Zahlungen für Erwerbslosenfürsorge nicht weiter leisten.“

Es sind folgende Arten von Zahlungen zu unterscheiden21:

21

Vgl. zum folgenden Anm. 16 zu Dok. Nr. 242.

1.

Normale Zahlungen (Beamtengehälter, Staatsarbeiterlöhne usw.);

2.

Zahlungen für die künstlich hervorgerufene Arbeitslosigkeit;

3.

Markvorschüsse an die Besatzungstruppen;

4.

Entschädigungen an Deutsche, die durch die Besatzungsmächte Schaden erlitten haben (auf Grund des Liquidationsschädengesetzes usw.).

Die Zahlungen zu 1. sind an sich noch für einen längeren Zeitraum möglich, aber sie müssen auf jeden Fall mal aufhören, wenn wir aus dem besetzten Gebiet infolge des Verhaltens der Einbruchsmächte überhaupt keine Einnahmen mehr erzielen. Ich hoffe allerdings, daß die Städte meinem Wunsche entsprechen und sich zur Herausgabe von Notgeld entschließen. Die Zahlungen zu 2. können nicht über den 24. November hinaus fortgesetzt werden. Andernfalls würden wir auch die Rentenmark denselben Weg gehen lassen wie die Papiermark. Die Zahlungen zu 3. sollen sofort aufhören. Die Zahlungen zu 4. müssen allmählich abgebaut werden, zum Teil sind sie schon abgebaut.

Geheimrat Hagen22: Ich möchte nur kurz über die Unterhaltung berichten,[1049] die ich vorgestern mit Tirard in Bonn hatte. Bei den Franzosen besteht meines Erachtens der lebhafte Wunsch nach Verhandlungen über die künftige Gestaltung des besetzten Gebiets23. In der Frage der Goldnotenbank halte ich ein Weiterkommen für möglich. Morgen wird Tirard Adenauer und mich wieder empfangen24.

22

Hierzu lautet die Aufzeichnung von Erkelenz: „Hagen–Köln: War beauftragt vom 21er-Ausschusses des Provinziallandtages und hat am 11. November die erste [!] Besprechung mit Tirard in Bonn gehabt. Tirard hat den lebhaften Wunsch, mit den rheinischen Vertretern zu verhandeln. Es steht weitgehendes Entgegenkommen in Aussicht. Am 14. November findet die nächste Zusammenkunft mit Tirard statt. Ich bin gefragt worden, ob die von uns eingesetzte Kommission Unterschriften leisten könne. Diese Frage habe ich verneint. Ich sagte, die Pfälzer und die Hessen wollten nicht in einen einheitlichen Rheinstaat aufgehen. Tirard meinte, das könne durch Departements gemacht werden. Auch auf dem Gebiet der Goldnotenbank werden wir mit Tirard weiterkommen.“ In der von Jarres stammenden Überlieferung heißt es: „Wunsch bei Tirard lebhaft, in eine Verhandlung wegen bes. Gebietes zu treten. Verhandlungen von Reg. zu Reg. abgelehnt. Mittwoch [14. 11.] Verhandlungen. Keine Autorisation zum Abschluß, nur zur Information. Evtl. Separatismus [?].“

23

S. Dok. Nr. 234.

24

Über die am 14.11.23 stattfindende Besprechung des westdt. Verhandlungsausschusses mit Tirard vgl. K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik, Dok. Nr. 12, S. 308 f. – Über die Unterredung mit Adenauer sandte Tirard am 15. November ein Telegramm an Poincaré, auf das sich der frz. Ministerpräsident in einem Telegramm an Tirard vom 3.12.23 bezog. Poincaré referierte den Inhalt der Unterhaltung: „[…] au cours de laquelle celui-ci vous avait exposé, avec force détails, son plan de création d’une Rhénanie autonome demeurant dans le cadre du Reich. Mais affranchie de la constitution de Weimar et formant, dans la confédération allemande un état industriel puissant et riche qui régirait par ses interventions la politique de Berlin dans le sens de la Paix. M. Adenauer vous avait précisé que l’Etat rhénan aurait son parlament, son budget, sa monnaie et sa représentation diplomatique propre. Il était même allé jusqu’à vous dire qu’il serait disposé à assumer personallement la réalisation d’une solution de cette nature s’il ivait le sentiment qu’elle répond aux désirs de la France“ (BA: ZSg 105/10). Vgl. hierzu K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik. S. 136 f.

Die Sitzung wurde hierauf unterbrochen25.

25

Hierzu heißt es in der Aufzeichnung von Erkelenz: „Die Besprechung wird um ein Uhr vertagt, da die Ministerpräsidenten der Länder den Wunsch haben sich zunächst einmal unter sich zu besprechen.“ Zum Fortgang s. Dok. Nr. 247.

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