1.1 (vpa1p): I. Kabinettsbildung

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Das Kabinett von Papen Band 1Das Kabinett von Papen Bild 183-R1230-505Wahllokal in Berlin Bild 102-03497AGöring, Esser und Rauch B 145 Bild-P046294Ausnahmezustand in Berlin während des „Preußenschlages“.Bild 102-13679

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I. Kabinettsbildung

Über das Ende der Regierung Brüning und die Bildung eines neuen Reichskabinetts unter Franz v. Papen ist viel geschrieben worden1; undeutlich blieben gleichwohl bis zum heutigen Tage die Konturen der hintergründig-beherrschenden Rolle, die Kurt v. Schleicher hierbei spielte, unklar auch der Zeitpunkt, an dem er Papen – sei es beim Reichspräsidenten, sei es in anderer Umgebung – zum erstenmal als Kanzlerkandidat ins Spiel zu bringen suchte. Während nämlich die zeitgeschichtliche Forschung durchaus geneigt ist, derartige Initiativen Schleichers und auch Offerten gegenüber Papen schon für Anfang oder Mitte Mai 1932 anzunehmen2, versichert dieser in seinen Memoiren mit aller Bestimmtheit, daß er erst bei einer Unterredung mit Schleicher am 28. Mai, zwei Tage vor Brünings Demission, mit der Frage seiner Kanzlerschaft konfrontiert worden sei3. Dabei habe er sich mit der von Schleicher gegebenen negativen Lagebeurteilung und dessen Überlegungen zur staatlichen Neugestaltung (u. a. Errichtung eines „autoritären“ Regimes, Personalunion zwischen Kanzler und preußischem Ministerpräsidenten) weitgehend einverstanden erklären können, jedoch auf seine Frage, wie denn die von Schleicher beabsichtigte „Einspannung der NSDAP in den Rahmen eines Präsidialkabinetts“ gelingen könne, lediglich zur Antwort erhalten, daß Hitler in Verhandlungen mit ihm, Schleicher, eine Tolerierung der neuen Regierung zugesichert habe, und zwar unter der Vorbedingung, daß das im April 1932 erlassene SA-Verbot unverzüglich aufgehoben und der Reichstag aufgelöst würde. Im übrigen war aber Papens Stellungnahme äußerst skeptisch. So bezweifelte er nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern auch bei einer am übernächsten Tage abgehaltenen neuen Besprechung mit Schleicher die eigene Befähigung zu einer derart schwierigen Führungsaufgabe und wies darauf hin, daß es ihm nicht einmal möglich sein werde, die zur Krisenbewältigung unbedingt notwendige „Sammlung aller zur Mitarbeit bereiten Kräfte“ herbeizuführen, denn außer den Sozialdemokraten würde[XX] sich ihm vor allem das Zentrum schroff versagen, sollte er, ein Mitglied dieser Partei, die Kanzlernachfolge des so ungnädig verabschiedeten Brüning antreten. Dennoch drängte Schleicher unentwegt weiter und fuhr fort, die Kanzlerfähigkeit Papens zu betonen, wies auch eine offenbar vollständige Ministerliste „überparteilicher Fachleute“ vor4 und erinnerte schließlich daran, daß Hindenburg nunmehr Loyalität und rasches Entgegenkommen erwarte. Papen freilich zögerte auch jetzt noch, sprach am folgenden Tage (31. 5.) mit seinem Parteivorsitzenden Kaas, der ihm unter Androhung entschiedenster Ablehnung seitens der Zentrumspartei die Zusicherung abrang, bei seiner unmittelbar anschließenden Unterredung mit dem Reichspräsidenten diesen bitten zu wollen, von seiner Betrauung mit dem Kanzleramte wegen der zu befürchtenden Zentrumsgegnerschaft unbedingt abzusehen. Gegenüber Hindenburg, der soeben erst zweitägige „informatorische“ Besprechungen zur Regierungsbildung mit den Führern der Reichstagsfraktionen mehr oder weniger ergebnislos abgeschlossen hatte5, konnte er sich mit dieser Argumentation jedoch nicht durchsetzen. Angesichts der eindringlichen Bitte des Präsidenten, ihn in entscheidender Stunde nicht „im Stich“ zu lassen, und seines massiven Appells an „Gehorsam“ und „soldatisches Pflichtgefühl“ erklärte sich Papen vielmehr fast ohne Widerstand bereit, die Kanzlerschaft anzutreten. Am späten Nachmittag des 31. Mai 1932 wurde er daraufhin von Hindenburg mit der Bildung einer „Regierung der nationalen Konzentration“ beauftragt6.

1

Vgl. diese Edition: Die Kabinette Brüning I/II, S. LVIII ff., XCIV ff.; Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 172 ff.; Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 511 ff.; Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, S. 180 ff.; Brüning, Memoiren 1918–1934, S. 567 ff.; Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, S. 315 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 971 ff.; Schulze, Weimar, S. 368 ff.; Winkler, Der Weg in die Katastrophe, S. 533 ff. und 611 ff.

2

Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 518; Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, S. 197; Trumpp, Franz von Papen, S. 67 ff.; Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 889, Anm. 345; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 981; Broszat, Kurt von Schleicher, in: Sternburg (Hrsg.), Die Deutschen Kanzler, S. 343.

3

Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 182 ff. – Schäffer notierte hierzu unter dem 5.6.32: „Luther erzählt, daß Brüning ihm gesagt habe, er nehme an, daß Papen schon vier Wochen vorher genau gewußt und zugestimmt habe, die Regierung zu übernehmen. Papen umgekehrt schwöre, daß er von den Dingen überrascht worden sei.“ (Schäffer-Tagebuch, IfZ ED 93, Bd. 21, S. 554).

4

Vgl. Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 187. – Über den Inhalt dieser Liste ist nichts bekanntgeworden, auch darüber nicht, ob in ihr Namen von Persönlichkeiten enthalten waren, die der kommenden Papenregierung nicht angehörten, zuvor aber als Kandidaten für verschiedene Regierungsämter im Gespräch gewesen waren. Bei letzteren handelte es sich u. a. um 1) Graf Westarp, dessen Berufung auf den Kanzlerposten vom Reichspräsidenten anscheinend in den Tagen vom 28. bis 30.5.32 vorübergehend erwogen wurde. Vgl. die Aufzeichnung Westarps „Zu Brünings Rücktritt, diktiert Mittwoch, 1.6.32“, in: Conze, Zum Sturz Brünings, in: VfZG 1 (1953), S. 283. 2) Goerdeler, der ebenfalls eine Zeitlang als Kanzlernachfolger Brünings gehandelt, aber auch mit dem Wirtschafts- und dem Arbeitsministerium in Verbindung gebracht wurde. Vgl. Ritter, Carl Goerdeler, S. 53; Braun, Weg durch vier Zeitepochen, S. 242 f.; Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 124, 130, 135 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 980 f. Als unzutreffend dürfte die Feststellung Hubers (ebd., S. 980) anzusehen sein, Goerdeler habe sich selber „um seine Aussichten auf das Kanzleramt“ gebracht, weil „er im April 1932 über den Kopf des Reichskanzlers und des ganzen Reichskabinetts hinweg dem Reichspräsidenten unmittelbar eine Denkschrift mit einem umfassenden innenpolitischen Reformprogramm“ vorlegte. Unzutreffend schon deshalb, weil eine derartige Umgehung nicht stattgefunden hat. Nach Ausweis der Reichskanzleiakten hatte Goerdeler nämlich diese Denkschrift am 21.4.32 korrekterweise an den Reichskanzler übersandt mit der Bitte um Kenntnisnahme, Genehmigung und Weiterleitung an den Reichspräsidenten. Die Weiterleitung erfolgte dann durch StS Pünder unter dem 23.4.32 (R 43 I /2045 , Bl. 66–93). 3) Frhr. Hermann v. Lüninck, Kandidat für das Reichsernährungsministerium (Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, S. 206); 4) Schätzel, Kandidat für das Reichspostministerium (ebd. S. 207); 5) Schmitt, Kandidat für das Reichsfinanzministerium (ebd.). 6) Nadolny, Kandidat für das Außenministerium (Nadolny, Mein Beitrag, S. 121).

5

Hierzu die „Aktennotiz“ Meissners vom 31.5.32 in: Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 84.

6

Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 189 ff.; Schultheß 1932, S. 93.

Franz v. Papen, geboren 1879 im westfälischen Werl als Sohn einer alteingesessenen katholischen Landadelsfamilie, hatte seinen beruflichen Werdegang als Soldat begonnen: Nach Ausbildung in Kadettenanstalten, Dienst im kgl. preußischen Pagenkorps und Düsseldorfer Jahren als Ulanenoffizier, in denen er[XXI] als Renn- und Hindernisreiter bekannt wurde, absolvierte er eine mehrjährige Generalstabsausbildung und wurde – zum Hauptmann befördert – Anfang 1914 als Militärattaché nach Washington entsandt, von wo er Ende 1915 auf Drängen der USA wegen Vorbereitung von Sabotageakten gegen amerikanische Einrichtungen wieder abberufen werden mußte. Bald nach Kriegsende schied Papen, der zuvor als Bataillonskommandeur im Westen und als Generalstabsoffizier im Bereich des türkischen Verbündeten Verwendung gefunden hatte, aus dem Heeresdienst aus. Seine Nachkriegskarriere begann er als Mitglied der Zentrumspartei, für die er 1921 in den Preußischen Landtag gewählt wurde, dem er (mit Ausnahme der Jahre 1928–1930) bis April 1932 angehörte. In dieser Eigenschaft profilierte er sich als Experte für Agrarfragen und war Vorstandsmitglied verschiedener landwirtschaftlicher Interessenverbände. Sein Verhältnis zur Zentrumspartei gestaltete sich in den Jahren nach 1925, als er bereits Aufsichtsratsvorsitzender der „Germania“, ihres Zentralorgans, geworden war, keineswegs reibungslos. Es wurde um so problematischer, je weiter Papen – nach eigenem Zeugnis Monarchist „bis an das Ende meiner Tage“7 – an den äußersten Rand des rechten Zentrumsflügels rückte und je nachdrücklicher er sich, vor allem in der Ära Brüning, für eine Regierungsbeteiligung der Rechtsparteien, für die Abkehr vom Parlamentarismus und für eine allmähliche Hinwendung zur autoritären Staatsform aussprach8.

7

Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 24.

8

Zur Biographie: Trumpp, Franz von Papen, S. 50 ff.; Bach, Franz v. Papen in der Weimarer Republik, S. 11 ff.; Hörster-Philipps, Konservative Politik in der Endphase der Weimarer Republik, S. 212 ff.

Über Charakter und Persönlichkeit v. Papens, die in einem Großteil der darstellenden Literatur, soweit sie nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen ist, eine vorwiegend kritische und häufig negative Wertung gefunden haben9, urteilen die engeren Mitarbeiter und Weggefährten seiner Kanzlerzeit in verhältnismäßig positiver Weise. So bescheinigen ihm vor allem die Kabinettskollegen großen „Idealismus“, loben seine „Tatkraft“ und sehen ihn durch „Intelligenz“ und bemerkenswerte „Rednergabe“ ausgezeichnet, die ihm auf Konferenzen „allgemeine Aufmerksamkeit“ gesichert habe. Auch rühmen sie fast ohne Ausnahme seine „gesellschaftlichen Fähigkeiten“ und seine immer gleichbleibende „Liebenswürdigkeit“, die im Kabinett alsbald eine „höchst angenehme Zusammenarbeit“ habe entstehen lassen10. Allerdings finden sich auch in dieser Überlieferung einschränkende oder kritische Urteile, unter anderem die Beobachtung, daß geduldiges „Warten nicht seine Stärke“ gewesen und sein Verhalten[XXII] zuweilen durch „Impulsivität“, „Sprunghaftigkeit“ und falsche Vorstellungen von den Schwierigkeiten seiner Regierung bestimmt worden sei. Verschiedentlich wird sogar bemängelt, daß er – besonders auf dem Felde der Wirtschafts- und Finanzpolitik – nicht über ausreichende „Sachkenntnisse“ verfügt habe, um seiner hohen Führungsaufgabe in einer solchen Krisenzeit ganz gerecht werden zu können11. Es erscheint daher kaum verwunderlich, daß diesem Kanzler von keinem der Zeitgenossen ausgesprochen staatsmännische Qualitäten attestiert worden sind. Doch dürften sie in ihm zumindest einen äußerst wendigen Moderator der Kabinettsarbeit gesehen haben, wohl nicht zuletzt deshalb, weil, wie vor allem Schwerin v. Krosigk bestätigt, die „Kabinettssitzungen unter Papen stets zu einem Ergebnis führten“ und überhaupt „ein Musterbeispiel geschickter Verhandlungsleitung“ gewesen sind12.

9

Eschenburg, Franz von Papen, in: VfZG 1 (1953), S. 153, 157, 169 („eine der umstrittensten Persönlichkeiten der jüngsten deutschen Vergangenheit“; ohne staatsmännisches Format; eitler, überheblicher Aristokrat); Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 519 ff.; Fest, Franz von Papen und die konservative Kollaboration, in: Von Weimar zu Hitler, S. 229 ff. (Mann „frivolen Charmes“, „gewissensarmer Selbstgerechtigkeit“, „unüberbietbarer Verblendung“, „mangelnder persönlicher Kontur“); Höhne, Franz von Papen, in: Sternburg (Hrsg.), Die Deutschen Kanzler, S. 325 und 335 („oberflächlicher Herrenreiter“, „Mitschuldiger am deutschen Untergang“).

10

Dok. Nr. 232, P. 1; ferner: Schwerin v. Krosigk, Es geschah in Deutschland, S. 140, 146 f.; Schwerin v. Krosigk, Staatsbankrott, S. 111; Luther, Vor dem Abgrund, S. 272; Braun, Weg durch vier Zeitepochen, S. 228 f.; Aufzeichnungen des StS Schwarzkopf, S. 5 und 13, in: NL Schwarzkopf , Kl. Erw. 779/3.

11

Dok. Nr. 21, Anm. 20; Dok. Nr. 233; ferner; Luther, Vor dem Abgrund, S. 273 f.; Schäffer-Tagebuch, IfZ ED 93, Bd. 21, S. 658, Eintragung vom 11.7.32 über Mitteilungen des StS v. Bülow: „Papen sei [in Lausanne] ungleichmäßig und sprunghaft gewesen, intelligent, aber nicht daran gewöhnt, solche Verhandlungen zu führen“; Schwerin v. Krosigk, Staatsbankrott, S. 111; Braun, Weg durch vier Zeitepochen, S. 229.

12

Schwerin v. Krosigk, Staatsbankrott, S. 118; ähnlich auch Luther gegenüber Schäffer am 5.6.32: „Die Sitzungen [des neuen Kabinetts], die er mitgemacht habe, seien eine Reparationsbesprechung und eine Etatssitzung gewesen. Auf beiden habe Papen sehr geschickt und ganz in Form als Reichskanzler vorgesessen und sei für jede sachliche Bemerkung zu haben gewesen.“ (Schäffer-Tagebuch, IfZ ED 93, Bd. 21, S. 554).

Die Bildung des Papenkabinetts, das in seiner Zusammensetzung nach Auffassung des bayerischen Ministerpräsidenten „den Eindruck machte, als ob das deutsche Volk aus Großagrariern, Schwerindustriellen und Intelligenzschulzen bestände“13, vollzog sich dank der von Schleicher geführten personellen Vorbesprechungen schnell und reibungslos. Schon am Nachmittag des 2. Juni waren, abgesehen vom Arbeitsressort, alle Ministerien neu besetzt14 und die Vereidigungen durch den Reichspräsidenten vorgenommen, der sich bei dieser Gelegenheit „in der Gesellschaft seiner neuen Kabinettsmitglieder wohl und zufrieden“ zeigte15.

13

MinPräs. Held so bei einer Kölner Wahlrede am 23.7.32. Vgl. Anm. 3 zu Dok. Nr. 94.

14

Zur Ernennung des Kanzlers und der Minister am 1. und 2.6.32 vgl. Anm. 1 zu Dok. Nr. 2.

15

Vgl. Braun, Weg durch vier Zeitepochen, S. 226.

Auf den einflußreichsten und wichtigsten Posten, den des Innenministers, hatte Hindenburg den Deutschnationalen Wilhelm Freiherr v. Gayl berufen, der, einer unter Friedrich dem Großen geadelten ostpreußischen Soldatenfamilie angehörend, bekanntgeworden war durch sein Wirken als Reichskommissar bei der Abstimmungskommission in Ostpreußen (1920), als langjähriger Vorsitzender der Ostpreußischen Landgesellschaft und als Bevollmächtigter Ostpreußens zum Reichsrat. Gayl, von verschiedenen seiner Zeitgenossen als bescheidene und stets zurückhaltende, allerdings „ganz überlegene und ungewöhnlich gescheite“ Persönlichkeit geschildert16, hatte seine Mitgliedschaft in der DNVP sofort nach der Ernennung zum Minister aufgegeben – ebenso wie Franz Gürtner, der neue Justizminister. Dieser, nach Ansicht Schwerin v. Krosigks der „anständigste und ruhigste Mann im Kabinett“17, war aus dem bayerischen Justizdienst hervorgegangen und in Bayern zehn Jahre lang Staatsminister der Justiz gewesen18.[XXIII] Die Leitung des Auswärtigen Amts übernahm auf ausdrücklichen Wunsch des Reichspräsidenten Konstantin Freiherr v. Neurath, der, aus dem württembergischen Justizdienst kommend, schon 1901 in das Außenministerium eingetreten war und seit 1922 mehrere Gesandtschaftsposten, zuletzt den des Botschafters in London innegehabt hatte19. An die Spitze des Wehrministeriums wurde Generalleutnant Kurt v. Schleicher berufen, Initiator und in entscheidenden Dingen, wie wir sehen werden, Schrittmacher des Kabinetts, der bisher, ohne in der Reichswehr ein Truppenamt versehen zu haben, fast ausschließlich „Berater“ des jeweiligen Wehrministers gewesen war, seit 1929 als Chef des Ministeramts in diesem Ministerium. Planck, einer seiner engsten Freunde und Mitarbeiter, sah in ihm einen Mann von großer Intelligenz und Willenskraft, aber auch bemerkenswerter Eitelkeit20. Das Finanzministerium übernahm – ebenfalls erst nach präsidialem Griff ans Portepee – der zuvor in diesem Ressort als „Etatsdirektor“ erfolgreiche Lutz Graf Schwerin v. Krosigk, angesehen bei Kollegen und zeitgenössischen Beobachtern nicht zuletzt deswegen, weil er in „allen Fragen seiner Zuständigkeit stets eine klare und durchdachte Stellung“ einnahm20a. Neuer Ernährungsminister wurde Magnus Freiherr v. Braun, Gutsherr und wie v. Gayl gebürtiger Ostpreuße, jedoch aus schlesischem Uradel stammend, der in den Jahren nach 1910 Landrat, Pressechef im Reichsamt des Innern und in der Reichskanzlei, dann Regierungspräsident und schließlich seit 1926 Generaldirektor des Reichsverbandes der Deutschen Landwirtschaftlichen Genossenschaften gewesen war. Sein nachdrückliches Eintreten für eine agrarprotektionistisch orientierte Neuordnung der deutschen Außenhandelspolitik brachte ihn in einen langwierigen Konflikt mit Wirtschaftsminister Hermann Warmbold, der sich im Interesse von Industrie, Handel und Schiffahrt entschieden für die Aufrechterhaltung eines möglichst unbeschränkten Außenhandels aussprach. Warmbold, früher Professor an der landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim, Vorstandsmitglied der I.G. Farben und Wirtschaftsminister im zweiten Kabinett Brüning, gewann im Kreise der Reichsminister wegen seiner hohen Intellektualität besonders Ansehen, war aber wohl „zu fein und wissenschaftlich, um sich im Kabinett, seiner überragenden Bedeutung entsprechend, ganz durchsetzen“ zu können21. Die Ministerämter für Post und Verkehr wurden dem Karlsruher Reichsbahndirektionspräsidenten Paul Freiherr v. Eltz-Rübenach übertragen, der, strenggläubiger Katholik und „Gentleman vom Scheitel bis[XXIV] zur Sohle“22, sich im Reichskabinett mit einer gegenüber Papen betont loyalen und weitgehend auf seine Zuständigkeiten beschränkten Rolle als Fachminister zufriedengab. Die Besetzung des Arbeitsministeriums, dessen Geschäfte zunächst „auftragsweise“ von Wirtschaftsminister Warmbold geführt worden waren, erfolgte erst am 6. Juni, und zwar durch Berufung des Schwaben Hugo Schäffer, zuvor unter anderem Direktor in der Friedrich Krupp A.G. (1922/23) und Präsident des Reichsversicherungsamts (1924–1932). Im Zuge der nach dem „Preußenschlag“ vorgenommenen organisatorischen Änderungen ernannte der Reichspräsident schließlich Ende Oktober 1932 zwei prominente Mitglieder der Kommissariatsregierung zu Reichsministern ohne Geschäftsbereich, nämlich Franz Bracht, vormals Chef der Reichskanzlei (1923/24) und langjähriger hoher Kommunalpolitiker, sowie Johannes Popitz, bedeutender Finanzsachverständiger (Steuerrecht, Finanzausgleich) und von 1924–1929 Staatssekretär im Reichsfinanzministerium23. Vor dem Preußenkabinett begründete Papen diese Ernennungen mit der Absicht, „eine Verklammerung der Kommissarischen Preußischen Staatsregierung mit der Regierung des Reiches“ herbeizuführen24.

16

Aretin, Krone und Ketten, S. 102 f.; zur Biographie: Schwerin, Wilhelm Freiherr v. Gayl.

17

Vgl. Dok. Nr. 236.

18

Vgl. Reitter, Franz Gürtner. Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881–1941.

19

Melchior am 3.8.32 gegenüber Schäffer u. a.: „Eine sehr angenehme Enttäuschung sei Neurath für ihn [in Lausanne] gewesen. Er könne zwar nicht drei Sätze hintereinander sprechen, ohne aus der Konstruktion zu fallen, aber er habe gesunden Menschenverstand und die nötige Kraft, um das, was er als richtig erkannt habe, auch durchzusetzen.“ (Schäffer-Tagebuch, IfZ ED 93, Bd. 22 a, S. 709).

20

Planck so gegenüber Schäffer am 22.8.32 (Schäffer-Tagebuch, ebd., S. 789). Vgl. auch diese Edition: Das Kabinett von Schleicher, S. XXI ff.; Broszat, Kurt von Schleicher, in: Sternburg (Hrsg.), Die Deutschen Kanzler, S. 337–347.

20a

Luther, Vor dem Abgrund, S. 277.

21

So StS Schwarzkopf (RWiMin.) unter dem 18.9.32 in seinem Tagebuch (NL Schwarzkopf , Kl. Erw. 779/3, S. 22). Magnus v. Braun (Weg durch vier Zeitepochen, S. 241) über Warmbold: Er sei von großer „geistiger Wendigkeit“ gewesen, beherrschte Zahlen und Daten „wie ein Zirkuskünstler“.

22

So REM v. Braun, ebd., S. 241 f.

23

Zu den Ernennungen (29. 10.) s. Dok. Nr. 179, P. 4. Zu Popitz vgl. Dieckmann, Johannes Popitz. Entwicklung und Wirksamkeit in der Weimarer Republik.

24

Dok. Nr. 183, P. 1.

Auf den für die Koordination der gesamten Regierungstätigkeit wichtigen Posten des Staatssekretärs in der Reichskanzlei berief Hindenburg mit Zustimmung des Kabinetts25 am 2. Juni den als Vertrauensmann Schleichers geltenden Oberregierungsrat Erwin Planck, der seit Mitte der zwanziger Jahre in der Reichskanzlei als Verbindungsmann zum Wehrministerium und als Referent für auswärtige Angelegenheiten fungiert hatte. Zum Reichspressechef und Ministerialdirektor wurde sodann am folgenden Tage der seit längerem in der Reichspresseabteilung tätig gewesene Vortragende Legationsrat Heinrich Ritter v. Kaufmann-Asser ernannt, der aber – weil er „für die Innenpolitik zu wenig Verständnis“ zeigte – schon Mitte August verabschiedet und durch den Leiter der Presseabteilung im Reichswehrministerium, Major Erich Marcks, ersetzt werden mußte26.

25

Dok. Nr. 2, P. 1.

26

Anm. 9 zu Dok. Nr. 104.

Den Mittelpunkt der ersten Sitzungen des neuen Kabinetts bildeten Erörterungen über Form und Inhalt der Regierungserklärung und über den Termin der geplanten Reichstagsneuwahl. Dabei folgten die Minister der von Papen und Schleicher vertretenen Auffassung, daß eine „möglichst kurz gefaßte“, auf konkrete Programmaussagen verzichtende Kundgebung, in der auch die Auflösung des Reichstages bekanntgegeben werden könne, vorzuziehen sei. Außerdem erklärten sie sich, um Handlungsfreiheit oder – wie Schleicher formulierte – „eine gewisse Zeit für sachliche Arbeit“ gewinnen zu können, damit einverstanden, die Wahlen am letztmöglichen Termin, dem 31. Juli 1932, stattfinden zu lassen27.

27

Dok. Nr. 2, P. 2; 5, P. 2; 6.

[XXV] Die am 4. Juni herausgegebene Regierungserklärung nannte die Lage des deutschen Volkes eine beispiellose „seelische und materielle Krise“, deren Ursachen nicht nur im Versailler Vertrage und in den weltwirtschaftlichen Vorgängen zu suchen seien, sondern auch und vor allem in den Versäumnissen der „Nachkriegsregierungen“, die durch bedenkenlose Förderung des „Staatssozialismus“ die moralische Kraft der Nation geschwächt und dadurch die Ausbreitung des „Klassenkampfes“ und des „Kulturbolschewismus“ begünstigt hätten. Einhalt könne dieser Entwicklung nur geboten werden durch Zusammenfassung aller staatserhaltenden Kräfte „auf der Grundlage der unveränderlichen Grundsätze der christlichen Weltanschauung“. Die neue Regierung werde den Kampf um die Lebensmöglichkeiten der Deutschen unverzüglich aufnehmen, vor allem auf dem Felde der Außenpolitik, wo es gelte, „unserem Vaterlande endlich volle Gleichberechtigung“ zu gewinnen28.

28

Dok. Nr. 7.

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