2.57.1 (vpa1p): Innerpolitische Lage.

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Das Kabinett von Papen Band 1Das Kabinett von Papen Bild 183-R1230-505Wahllokal in Berlin Bild 102-03497AGöring, Esser und Rauch B 145 Bild-P046294Ausnahmezustand in Berlin während des „Preußenschlages“.Bild 102-13679

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Innerpolitische Lage.

Der Reichskanzler betonte, daß die jetzige innerpolitische Lage, vor allem die zunehmenden Terrorakte politischer Parteien eine schwere Belastung für die Reichsregierung darstellten. Nach seiner Ansicht müsse dringend Abhilfe geschaffen werden.

Der Reichsminister des Innern gab eine eingehende Darstellung der innerpolitischen Lage. Er führte aus, daß in Süddeutschland eine gewisse Beruhigung eingetreten sei, nachdem zuerst die beiden Verordnungen des Reichspräsidenten gegen politische Ausschreitungen vom 14. und 28. Juni 19323 große Erregung ausgelöst hätten. Die Verordnungen würden auch in Süddeutschland richtig angewendet.

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RGBl. I, S. 297 und 339.

In Preußen sei die Situation hinsichtlich der erwähnten Verordnungen von Anfang an gut gewesen. Die Besprechung einiger süddeutscher Staats- und Ministerpräsidenten mit Hirtsiefer4 habe zu keinen positiven Ergebnissen geführt, hauptsächlich wegen der besonnenen Haltung des Staatspräsidenten Bolz.

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Über diese Besprechung, die auf Einladung Hirtsiefers am 27.6.32 im PrWohlfMin. stattgefunden hatte, liegt eine undatierte Aufzeichnung des hamb. Bgm. Petersen vor. Danach hatten teilgenommen: für Preußen: Hirtsiefer, Severing, Klepper, Abegg; für Bayern: Stützel, Schäffer; für Württemberg: Bolz; für Hessen: Adelung; für die drei Hansestädte: Petersen, Schönfelder, Löwigt, v. Spreckelsen; außerdem namentlich nicht genannte Vertreter Badens, Thüringens und Lippes. Zu Beginn der Besprechung hätten Hirtsiefer und Severing über „Grund und Zweck der Einladung“ mitgeteilt: „Es sei wünschenswert, daß die Länder, welche nicht unter nationalsozialistischer Leitung ständen, sich über die Stellung zu den Notverordnungen der Regierung Papen aussprächen, damit, wenn möglich, eine einheitliche Stellungnahme herbeigeführt würde. Ferner sei zu überlegen, ob angesichts der schweren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die durch die Aufhebung des Uniformverbots der SA und des Demonstrationsverbots nach allgemeiner Überzeugung ausgelöst würden, die Länder bei dem Herrn Reichspräsidenten direkt vorstellig werden sollten, um ihm ihre Befürchtungen und Sorgen vorzutragen. Wenn das auch die süddeutschen Länder schon getan hätten [vgl. Dok. Nr. 21], so käme doch in Frage, ob nicht auch diejenigen Länder, welche der gleichen Ansicht seien, dazu verpflichtet seien.“ Über Verlauf und Ergebnis der anschließenden diesbez. Aussprache heißt es dann in der Aufzeichnung Petersens u. a.: „Allgemein und ausnahmslos wurde bemerkt, daß die Bevölkerung durch die erste Notverordnung in einen Erregungszustand geraten sei, dessen Gefahren nicht stark genug hervorgehoben werden könnten, und, soweit darüber eine Ansicht geäußert wurde, ging sie dahin, daß die Berechtigung der bevorstehenden Notverordnung [vgl. Dok. Nr. 41] der Verfassung gegenüber nicht gegeben sei. Alle Vertreter der Länder erkannten nicht allein das Recht, sondern auch die Verpflichtung an, dem Reichspräsidenten rechtzeitig auch abseiten der Länder die Gefahren zu schildern, die man voraussehe. Die Mehrzahl der Länder war aber der Meinung, daß das nicht überstürzt werden solle, schon um den Anschein zu vermeiden, als ob in solchen Vorstellungen eine politische Tendenz gegen die Reichsregierung gesehen werden könne. Die Frage des richtigen Zeitpunktes, ferner die Frage, ob einzelne Länder oder die Länder, deren Regierungen auf dem Boden der zur Sprache gekommenen Befürchtungen ständen, insgesamt einen Vortrag bei dem Reichspräsidenten erbitten sollten, wurde offengelassen, dabei nur allgemein ausgesprochen, daß die Entscheidung dieser Frage nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfe.“ Schließlich habe Hirtsiefer festgestellt, „daß in den wesentlichen Punkten eine völlige Übereinstimmung“ bestehe, und „unter Zustimmung sämtlicher erschienenen Länderregierungen“ vorgeschlagen, „die Länderregierungen wieder zusammenzuberufen, wenn dafür ein aktueller Anlaß gegeben sei“ (StArch. Hamburg, Senatskanzlei-Präsidialabteilung 1932 A 69).

[205] Die Kommunistische Partei entfalte eine erhebliche Tätigkeit in Preußen. Die Abwehr in Preußen sei unzureichend. Wenn in Preußen eine starke Staatsgewalt vorhanden wäre, müsse die kommunistische Gefahr nicht zu so erheblicher Berunruhigung Veranlassung geben. In Wahrheit sei jedoch die Autorität der Regierung in Preußen stark erschüttert. Die Polizei erlebe, daß die nationalsozialistische Bewegung immer stärker anwachse, erhalte jedoch Befehle von Minister Severing zur Bekämpfung dieser Bewegung5.

5

Hierzu vgl. die ganz ähnlich lautenden Mitteilungen der PrLT-Abg. v. Winterfeld und Borck, die am 8. 7. auf rasches Eingreifen in Preußen gedrängt hatten (Dok. Nr. 53 und 54).

Der Preußische Landtag sei bis zum 24. August vertagt worden. Der preußische Haushalt sei immer noch nicht in Ordnung. Augenblickliche Schwierigkeiten würden durch einen Kredit der Reichsbank behoben6.

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Zur Haushaltslage Preußens vgl. Dok. Nr. 11 und 138.

Sehr zu verwerfen sei ein Aufsatz des Staatsministers Severing im „Vorwärts“ am 9. Juli nach dem Wiedererscheinen dieser Zeitung7. Die politische Aufregung nach dem 31. Juli werde noch größer sein.

7

Der Aufsatz Severings ist abgedr. in Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof, S. 36. Zum Verbot des „Vorwärts“ (4.–8. 7.) s. Anm. 35 zu Dok. Nr. 40.

Nach sehr sorgfältiger Überlegung sei er zu dem Ergebnis gekommen, daß jetzt für die Reichsregierung der psychologische Moment zum Eingreifen gekommen sei8. Er schlage vor, dem Herrn Reichspräsidenten eine Verordnung[206] zur Vollziehung vorzulegen, durch die ein Reichskommissar für Preußen eingesetzt werde. Die polizeilichen Verhältnisse müßten durch Ersetzung der Polizeipräsidenten in Ordnung gebracht werden.

8

Zur unmittelbaren Vorgeschichte RIM v. Gayl in einem undatierten, wahrscheinlich Ende Juli 1932 verfaßten „Aktenvermerk“: „Nachdem in den ersten Tagen des Juli 1932 die Lage in Preußen immer gefahrdrohender erschienen war und nachdem sich insbesondere gezeigt hatte, daß in Preußen gegen die Terrorakte nicht mit der genügenden Schärfe vorgegangen wurde, und die Reden des Ministers Severing und des Polizeipräsidenten Grzesinski auch nicht auf die Absicht schließen ließen, etwas Energisches gegen die Kommunisten zu unternehmen, schien mir immer deutlicher die Notwendigkeit zu einem Eingreifen in den nächsten Tagen gegeben. Ich verabredete daher für Sonnabend, den 9. Juli, nachmittags 5 Uhr eine Zusammenkunft mit dem Reichswehrminister von Schleicher in seiner Privatwohnung in der Alsenstraße, um mit ihm die Lage zu besprechen. Meine Auffassung, daß die Zeit zu einem Eingreifen in Preußen vor der Tür stehe, wurde von dem Reichswehrminister geteilt. Ich trug daher am Sonntag, dem 10. Juli, nachmittags dem Herrn Reichskanzler, den ich bei seiner Rückkehr von Lausanne auf dem Anhalter Bahnhof empfangen hatte, in aller Kürze meine Auffassung der Lage vor und verabredete mit ihm für Montag, den 11. Juli, vormittags 9 Uhr in der Reichskanzlei eine eingehende Besprechung, die verabredungsgemäß stattfand und in der ich eingehend die Notwendigkeit des Eingreifens vortrug. Die Folge dieser Unterredung war eine Kabinettsbesprechung am gleichen oder am nächstfolgenden Tage, in der das Gesamtkabinett der nunmehr vom Herrn Reichskanzler und auch von mir vertretenen Auffassung der Lage beitrat.“ (NL Gayl  36, Bl. 8).

Als Reichskommissar schlage er den Reichskanzler vor, der seinerseits Unterkommissare einsetzen könne. Nach seiner Auffassung sei jetzt die historische Stunde gekommen, um die Beziehungen zwischen dem Reich und Preußen zu regeln. Eine Verwaltungsreform in Preußen werde notwendig sein. Sachsen und Süddeutschland müßten über die Absichten der Reichsregierung beruhigt werden. Der Reichskommissar in Preußen müsse bleiben, bis die Verwaltungsreform durchgeführt sei. Eine Klage der jetzigen Preußischen Staatsregierung vor dem Staatsgerichtshof halte er für möglich, aber aussichtslos. Strengste Geheimhaltung sei notwendig9. Die Formulierung der Verordnung bitte er dem Reichsminister der Justiz und ihm zu überlassen.

9

Gayl hierzu in einem seine Ministertätigkeit behandelnden Memoirenmanuskript u. a.: „Als die Lage sich im Sommer 1932 zuspitzte und der Schlag gegen die Regierung Braun-Severing notwendig wurde, mußte ich zur unbedingten Geheimhaltung der Vorbereitungen den Entwurf der Verordnung zur Absetzung der Preußenregierung außerhalb des Dienstgebäudes in meiner Wohnung von einer sicheren Verwandten schreiben lassen. Das zur Herstellung der Durchschläge benutzte Kohlepapier vernichtete ich eigenhändig. Die Reinschrift und einen Durchschlag trug ich am Leibe, den zweiten Durchschlag der Ministerialdirektor Gottheiner. Die zur Zustellung an die preußischen Minister bestimmten Ausfertigungen wurden gleicherweise gefertigt. Nur so gelang es, die Geheimhaltung zu gewährleisten. Bis zur Vorlage beim Reichspräsidenten hatten nur sechs Augen den Inhalt der Verordnung gesehen.“ (NL Gayl  4, Bl. 66).

Vielleicht könnten die Reichsminister als Kommissare für die entsprechenden preußischen Ressorts bestellt werden. Politische Staatssekretäre und Ministerialdirektoren in Preußen müßten notfalls ersetzt werden.

Als Kommissar für das Preußische Ministerium des Innern schlage er den früheren Staatssekretär Dr. Peters vor. Die Polizei in Berlin könne man vielleicht dem Kommandanten von Berlin unterstellen.

Der Reichswehrminister stimmte den dargelegten Grundgedanken zu. Er betonte gleichfalls, daß die Autorität der Staatsregierung in Preußen erschüttert sei. Oberpräsident Noske habe ihm kürzlich erklärt, ohne Autorität der Staatsregierung könne er nichts ausrichten.

Was die Personalfrage anlange, so sei vielleicht die Mitteilung von Interesse, daß ein nationalsozialistischer Führer ihn dringend gebeten habe, keinen prominenten Nationalsozialisten als Kommissar in Preußen einzusetzen.

Eine Endlösung mit Bezug auf die Beseitigung des Dualismus Reich-Preußen halte er für notwendig.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte aus, daß die allgemeine Lage rein wirtschaftlich kaum zu halten sei. Vielleicht könne man jetzt mit einem Arbeitsbeschaffungsprogramm herauskommen. Vielleicht könne man auch den Versuch machen, auf die S.A. und S.S. Einfluß zu nehmen.

[207] Der Reichswehrminister warnte dringend vor einem derartigen Versuch.

Der Reichskanzler führte aus, daß jetzt ein Entschluß gefaßt werden müsse. Die Polizeigewalt müsse eine feste Staatsführung spüren. Bisher seien alle Maßnahmen der Reichsregierung durch die Preußische Staatsregierung sabotiert worden. Vielleicht könne man den süddeutschen Ländern versichern, daß man den gesetzgebenden Körperschaften ein Gesetz unterbreiten wolle, wonach eine Beseitigung der eigenstaatlichen Rechte der Länder nur mit Zustimmung der Länder erfolgen könne10.

10

Ein solches Gesetz wurde nicht erlassen. Zur Frage der Eigenstaatlichkeit der Länder vgl. die Ausführungen des RK und des RIM auf der Stuttgarter Länderkonferenz am 23.7.32 (Dok. Nr. 83).

Der Reichsminister der Justiz wies darauf hin, daß man die Einsetzung eines Reichskommissars vor allem für die Öffentlichkeit motivieren müsse. Ein Grund könne darin liegen, daß der Etat in Preußen nicht in Ordnung gebracht werde.

Der Reichsarbeitsminister führte aus, er sei über die jetzigen Absichten des Reichskabinetts bisher nicht unterrichtet gewesen. Er könne die Lage schwer beurteilen. Die Durchführung der ganzen Aktion stelle er sich nicht einfach vor. Er sprach sich im übrigen gegen Reservatrechte Süddeutschlands aus und betonte, daß es ihm schwer falle, jetzt schon der Einsetzung eines Reichskommissars in Preußen zuzustimmen.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß die beabsichtigten Maßnahmen im Auslande Aufregung und Kritik verursachen würden. Das würde ihn aber nicht schrecken. Er halte es für richtig, mit den süddeutschen Ländern vorher über die Absichten der Reichsregierung zu sprechen11.

11

Zur Unterrichtung der süddt. Länder, die unmittelbar nach Beginn der Aktion gegen Preußen erfolgte, vgl. Dok. Nr. 72 und 73.

Der Reichsverkehrsminister betonte, daß in Preußen Ordnung geschaffen werden müsse. Er habe von einer kürzlich stattgefundenen Besprechung von Sozialdemokraten und Kommunisten gehört mit dem Thema „Antifaschismus“12.

12

Bezieht sich möglicherweise auf Initiativen des StS Abegg, über die v. Gayl in der Ministerbesprechung am 12. 7. berichtet (Dok. Nr. 59, P. 4).

Der Reichswirtschaftsminister betonte die Notwendigkeit einer Reichsreform. Eine Verbindung des Reichskanzlers mit dem Reichskommissar für Preußen sei notwendig. Der Reichskommissar müsse als ein von den Parteien unabhängiger Beamter arbeiten. Natürlich sei eine Bewegung zu vermeiden, die den Bestand des Reichs erschüttere.

Staatssekretär Dr. Meissner betonte die Wichtigkeit der Begründung der zu erlassenden Verordnung. Er teilte mit, daß Ministerialdirektor Dr. Brecht kürzlich die Auffassung vertreten habe, die Preußische Staatsregierung könne nichts für die bestehenden Schwierigkeiten, der Landtag habe versagt. In Wirklichkeit habe jedoch die Preußische Staatsregierung versagt.

Der Reichskanzler faßte das Ergebnis der Besprechung folgendermaßen zusammen:

Das Reichskabinett ist sich einig über die Einsetzung eines Reichskommissars in Preußen. Die Begründung und Formulierung der zu erlassenden Verordnung[208] wird dem Reichsminister des Innern und dem Reichsminister der Justiz überlassen. Die Personalfragen sind noch zu klären.

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