2.21.6 (vsc1p): [6. Außerhalb der Tagesordnung: Todesurteile]

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[6. Außerhalb der Tagesordnung: Todesurteile]

6. Außerhalb der Tagesordnung teilte Herr Staatssekretär Hölscher mit, daß dem Staatsministerium (Kommissaren des Reichs) zurzeit 5 Todesurteile vorlägen, nämlich gegen Reins, Potocki, Kabelitz, Schimanski und Lüdicke8. Weiter lägen im Justizministerium noch 9 Strafsachen mit 12 im ordentlichen Verfahren erkannten Todesurteilen und drei Todesurteile des Sondergerichts in Bielefeld vor. In der Strafsache gegen Reins rühre das Todesurteil bereits vom[81] Februar her. Die Todesurteile Potocki und Reins seien dem geschäftsführenden Kabinett Braun schon im Mai 1932 zur Entscheidung darüber vorgelegt worden, ob es von dem Begnadigungsrecht Gebrauch machen wolle; sie seien aber nicht zur Entscheidung gelangt, weil das Kabinett Braun sich auf den Standpunkt gestellt habe, daß es sich bei der Frage der Vollstreckung oder Nichtvollstreckung von Todesurteilen nicht um ein „laufendes Geschäft“ handele, das zur Zuständigkeit einer geschäftsführenden Regierung gehöre. Durch die Entscheidung des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932 sei die Sache nicht klarer geworden. Der Herr Reichspräsident weise in seinem Erlaß vom 18. November 19329 die Begnadigung den Kommissaren des Reiches zu; der Staatsrat habe sich auf den Standpunkt gestellt, daß diese Regelung dem Artikel 54 der Preußischen Verfassung widerspreche10. Das Kabinett Braun begründe seine Auffassung, daß die Übertragung des Begnadigungsrechts auf einen Reichskommissar „zum mindesten äußerst zweifelhaft“ sei, insbesondere damit, daß über die Begnadigung mit anderen Ländern Verträge bestünden. Obwohl er dieses Argument keinesfalls für stichhaltig erachte, könne er, Hölscher, selbst keinesfalls vorschlagen, die Todesurteile vor einwandfreier Feststellung der Zuständigkeit vollstrecken zu lassen. Es sei mit Sicherheit zu erwarten, daß die Verteidiger der Verurteilten bei der Bekanntgabe der bevorstehenden Vollstreckung das Kabinett Braun um Entscheidung anrufen würden. Auch könnten die Verteidiger außerdem die Entscheidung des Gerichts, wie dies im Falle Reins bereits geschehen sei, darüber fordern, ob die Kommissare des Reiches oder das Kabinett Braun für die Ausübung des Begnadigungsrechts zuständig seien. Die gegenwärtige Situation sei für das Justizministerium unerträglich. Zu ihrer Behebung sehe er nur einen Weg, und zwar halte er eine Klage des Herrn Reichskanzlers gegen den Staatsrat und gegen das Kabinett Braun beim Staatsgerichtshof mit dem Ziele für angebracht, festzustellen, wessen Zuständigkeit zur Ausübung des Begnadigungsrechts gegeben sei. Er bitte um die Ermächtigung, eine derartige Klage mit Beschleunigung durch kommissarische Besprechungen vorbereiten zu lassen.

8

Die Angelegenheit war bereits am 27.10.32 von der kommissarischen PrStReg. verhandelt, vorläufig aber vertagt worden (s. dazu diese Edition: Das Kabinett v. Papen).

9

Zum Gesamtzusammenhang sowie zum Inhalt des Erlasses vgl. Dok. Nr. 4, Anm. 3.

10

In seiner Sitzung vom 24.11.1932 hatte der Pr. Staatsrat grundsätzlich festgestellt, daß der Erlaß des RPräs. vom 18.11.1932 „in wesentlichen Punkten der Entscheidung des Staatsgerichtshofs nicht Rechnung“ trage und der „Reichs- und der Landesverfassung“ widerspreche. Unter den danach einzeln aufgeführten Beanstandungen ist die Übertragung des Begnadigungsrechts an die Reichskommissare ausdrücklich aufgeführt (Pr. Staatsrat, 29. Sitzung vom 24.11.1932, Sitzungsberichte Sp. 615 ff.).

Herr Reichsminister Dr. Ing. Bracht hielt es für zweckmäßig, daß sich Herr Staatssekretär Hölscher mit Herrn Staatsminister Dr. Schmidt in Verbindung setze, um mit dem Kabinett Braun ein gewissermaßen freundschaftliches Einvernehmen über das Petitum einer derartigen Klage zu erzielen11.

11

Am 4.1.1933 übersendet StS Hölscher dem „Pr.Min.Präs. (Kommissar des Reichs)“ den Entwurf einer Klageschrift, der in seinem Ministerium entstanden war. Er geht davon aus, „daß die Streitfrage als eine Verfassungsstreitigkeit innerhalb Preußens angesehen werden solle“. Da aber bei der Vorbereitung der Klageschrift erneut Bedenken entstanden sind, läßt Hölscher diesem Klageentwurf am gleichen Tage einen zweiten folgen, in dem „als Kläger das Deutsche Reich und als Beklagter das Land Preußen, vertreten durch das Preuß. Staatsministerium“ aufgeführt sind (GehStA Berlin, Rep. 84 a, Bd. 4388, Bl. 199–227). Ob vorher die angeregte Fühlungnahme mit dem PrJM und dem Kab. Braun stattgefunden hat, ist aus den Akten nicht ersichtlich.

Die Klageentwürfe begleitet Hölscher mit einem umfangreichen Gutachten, in dem er nunmehr feststellt, daß überhaupt keine Zweifel an der Zuständigkeit in Begnadigungsfragen bestehen könnten, weil die Ausübung des Gnadenrechts „ein Akt der Verwaltung“ und damit der „Diktaturgewalt nach Art. 48 Abs. 2 RV“ unterworfen sei. „Die Abtrennung von Zuständigkeiten der Landesregierung und ihre Übertragung auf ein Reichsorgan findet, wie in der Entscheidung vom 25. Oktober 1932 dargelegt ist, nur darin ihre Grenze, daß der Landesregierung die Befugnisse erhalten bleiben müssen, die zur Aufrechterhaltung der Selbständigkeit des Landes und seiner rechtlichen Stellung im Reich wesentlich und unentbehrlich sind. Zu diesen Befugnissen gehört aber die Ausübung des Begnadigungsrechts ebensowenig wie das Recht zur Beamtenernennung […].“ („Gutachten über die Frage, ob die Ausübung des Gnadenrechts in Preußen dem Preußischen Staatsministerium oder den Kommissaren des Reichs zusteht“, undat., aber wohl um den 10.1.33 entstanden, in: R 43 I /2281 , S. 621–635).

[82] Herr Reichsminister Professor Dr. Popitz empfahl dringend, eine derartige Klage in erster Linie mit Gründen „der Rechtssicherheit und Menschlichkeit“ zu belegen. Der Appell an die Menschlichkeit werde in der Öffentlichkeit seine günstige Wirkung nicht verfehlen.

Herr Reichsminister Dr. Ing. Bracht schloß sich diesem Wunsche an und hielt es gleichfalls für zweckmäßig, in der vom Justizministerium zu fertigenden Klage hervorzuheben, daß aus dem Komplex der zwischen dem Staatsministerium und den Kommissaren des Reichs strittigen Rechtsfragen aus Gründen der Menschlichkeit gerade diese Frage der Zuständigkeit für das Begnadigungsrecht gewählt werde, um sie im Klagewege möglichst bald zu klären12.

12

In seinem Gutachten geht Hölscher auch auf den zuletzt genannten Gesichtspunkt ein: „Für die Verurteilten bedeutet die Ungewißheit über ihr Schicksal eine besondere seelische Qual, die sich auf die Dauer notwendig nachteilig auf ihren Zustand auswirken muß. Die Rücksichtnahme auf die Verurteilten gebietet deshalb, die Zeitspanne, in der die Verurteilten auf eine Entscheidung warten müssen, möglichst kurz zu halten. Dieser selbstverständlichen Forderung der Menschlichkeit kann bei dem derzeitigen Zustand nicht nachgekommen werden. Denn die Kommissare des Reichs müssen wegen der zu der Frage der Ausübung des Begnadigungsrechts von dem Preußischen Staatsministerium in der Öffentlichkeit eingenommenen Stellungnahme Bedenken tragen, eine Entschließung der fraglichen Art, bei der es sich um Tod oder Leben des Betroffenen handelt, zu fassen, solange nicht ihre Zuständigkeit unbestritten feststeht. Es würde untragbar sein, wenn etwa, nachdem die Kommissare in einem Falle beschlossen hätten, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen, das Staatsministerium mit der Bitte, eine entgegengesetzte Entscheidung zu treffen, von den Verurteilten angerufen und gleichzeitig die Öffentlichkeit mit agitatorischen Behauptungen über einen ‚Justizmord‘ beunruhigt würde.“ Außerdem befürchte er, daß die Verurteilten die Gerichte anrufen könnten. „Hiermit würde aber vor den Strafkammern der Landgerichte und in der Beschwerdeinstanz vor den Strafsenaten der Oberlandesgerichte eine Frage zur Entscheidung gebracht werden, die sich nach ihrem staatsrechtlichen Charakter und ihrer Bedeutung zur Entscheidung durch diese Gerichte nicht eignet. Zudem müßte damit gerechnet werden, daß die Strafsenate der Oberlandesgerichte voneinander abweichende Entscheidungen treffen könnten.“ – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 49, P. 1 und Dok. Nr. 66, P. 1.

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