1.2 (wir1p): II Erfüllungspolitik

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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II Erfüllungspolitik

Das mit Abstand wichtigste Problem der Regierungen Wirth war die Reparationsfrage. Diese besonders komplizierte und spröde Materie bedarf ausführlicher Erläuterung.

Mit der Annahme des Londoner Ultimatums hatte Wirth zugleich sein Regierungsprogramm außenpolitisch sowohl als innenpolitisch weitgehend festgelegt: der Versuch der Erfüllung des Zahlungsplanes mußte nach außen, die Bemühung um die Aufbringung der nach diesem Plan festgelegten Verbindlichkeiten nach innen bestimmender Faktor seines politischen Handelns werden. Dazu sollte die Abrüstung im geforderten Umfang durchgeführt und die Prozesse gegen die Kriegsbeschuldigten eingeleitet werden.

[XXXIV] 1. Außenpolitische Aspekte

Wenden wir uns zunächst der außenpolitischen Komponente der Reparationspolitik zu. Die Aufbringung von 1 Milliarde Goldmark als feststehender Annuität mußte am Anfang aller Erfüllungspolitik stehen, sah doch der Londoner Zahlungsplan hierfür nur eine Frist bis zum 30. Mai 1921 vor, wenn er auch die Zahlung in Schatzanweisungen mit dreimonatiger Laufzeit gestattete95. Mit diesem Problem befaßte sich die Regierung Wirth unverzüglich, und schon in seiner Regierungserklärung vom 1.6.1921 konnte Wirth den Willen zur Erfüllung durch den Hinweis auf die fristgerechte Zahlung der ersten Milliarde unter Beweis stellen96: 150 Millionen Goldmark stammten aus den Beständen des Reiches, 850 Millionen Goldmark wurden in Schatzwechseln mit dreimonatiger Laufzeit aufgebracht. Die Schwierigkeiten, die Regierung und Reichsbank bis zur termingerechten Einlösung dieser Schatzwechsel zu überwinden hatten, stellte Wirth in seinem Schreiben vom 16.8.1921 an den britischen Botschafter dar, in dem er eindringlich darauf hinwies, in welchem Umfang die Zahlung von Kredithilfen des Auslandes abhängig gewesen war und die Fälligkeit somit nur im Vorgriff auf die Zukunft hatte geleistet werden können97.

95

Siehe Art. III des Zahlungsplanes, RT-Drucks. Nr. 1979, Bd. 367 .

96

Siehe Dok. Nr. 3 und RT Bd. 349, S. 3709 .

97

Dok. Nr. 68.

Mit der zentralen Führung von Reparationsverhandlungen hatte die deutsche Regierung durch Erlaß des Reichspräsidenten vom 31.7.1919 die Kriegslastenkommission beauftragt98. Verhandlungspartner war bisher die durch den Versailler Vertrag eingesetzte alliierte Reparationskommission gewesen. Nach der Annahme des Londoner Ultimatums wurde die Zuständigkeit der Kriegslastenkommission erweitert: auch die Verhandlungen mit der neu eingesetzten Unterkommission der Reparationskommission, dem Garantiekomitee, sollten ihr obliegen99.

98

RGBl. 1919 I, S. 1363 . Zu ihrer Zusammensetzung siehe auch Dok. Nr. 31, Anm. 1.

99

Zusammensetzung und Aufgaben siehe Dok. Nr. 39, Anm. 1; zur Zuständigkeit siehe Dok. Nr. 31, P. 3.

Das Garantiekomitee hielt sich vom 16. – 29. Juni 1921 zu ersten Beratungen über die Durchführung des Londoner Zahlungsplanes in Berlin auf100. Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist in den Noten des Garantiekomitees vom 28. Juni 1921 an den Reichskanzler festgehalten101. Sowohl dem alliierten Garantiekomitee als auch der Kriegslastenkommission war es um die Ausführung des Londoner Zahlungsplanes gegangen; aber während die Kriegslastenkommission in erster Linie danach trachtete, durch Interpretationen der im Plan enthaltenen Bestimmungen die deutschen Verbindlichkeiten niedrig zu halten, wollte das Garantiekomitee vor allem organisatorische Probleme lösen, wie Festlegung der Raten und Fälligkeitstermine, Art und Höhe der zur Sicherheit gestellten deutschen Einnahmequellen und die Durchführung der alliierten Kontrolle.

100

Siehe Dok. Nr. 31, Anm. 2.

101

Siehe Dok. Nr. 39.

[XXXV] Dem deutschen Verhandlungsziel – nämlich 1. durch eine günstige Auslegung des Begriffs Ausfuhr die variable Annuität so niedrig wie möglich zu halten, 2. die Ausfuhr als Bemessungsgrundlage für die variable Annuität durch einen günstigeren Index zu ersetzen und 3. die direkte Erhebung der Ausfuhrabgabe zu verhindern – war infolgedessen wenig Erfolg beschieden: das Garantiekomitee erklärte in den Noten zwei und drei vom 28.6.1921 lediglich, die deutschen Darlegungen zum Begriff Ausfuhr und zum Ersatz des Ausfuhrindexes an die Reparationskommission weiterleiten zu wollen, und nur in der Frage der direkten Erhebung der Ausfuhrabgabe wollte es einen bedingten Zahlungsaufschub zugestehen102.

102

Dok. Nr. 39, Note 3.

Schon bei diesen ersten Verhandlungen hatte sich aber gezeigt, welche Bedeutung die Alliierten der Gestaltung des deutschen Budgets und insbesondere dem Problem der zur Balancierung des deutschen Haushaltsplanes möglichen Reformen beimaßen103.

103

Dok. Nr. 39, Schluß der Note 1.

Die deutsche Antwortnote vom 29. Juli 1921 erkannte mit Ausnahme einiger technischer Änderungsvorschläge die vom Garantiekomitee in den Noten vom 28.6.1921 mitgeteilten Fristen und den Zahlungsplan an. Darüber hinaus kündigte sie Maßnahmen der deutschen Regierung zur Festigung des Markkurses an: das geplante große Steuerprogramm solle dem Reich den Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben des ordentlichen Haushalts ermöglichen, in den auch die Ausgaben zur Erfüllung des Zahlungsplanes und die Besatzungskosten eingestellt werden sollten. Schließlich leitete die Note die endgültige Regelung für die Organisation der Kontrolle ein104.

104

S. Dok. Nr. 59 und Dok. Nr. 59, Anm. 8.

Die vom Garantiekomitee ausgeklammerten, mit der Ausfuhrabgabe zusammenhängenden Fragen – Interpretation ihres Begriffes und Ersatz des Ausfuhrindexes durch einen anderen – behandelte die Reparationskommission mit einer Note vom 24.8.1921, die deutlich machte, daß eine einschränkende Interpretation und damit eine Senkung der deutschen Verpflichtung auf diesem Wege keinesfalls zu erreichen war105. Der auch in dieser Note wiederholte Vorschlag, den Ausfuhrindex durch einen anderen zu ersetzen, wurde von der deutschen Regierung daher nur aus taktischen Gründen weiterverfolgt106.

105

Dok. Nr. 73.

106

S. Dok. Nr. 77.

Der zweite Besuch des Garantiekomitees im September 1921107 galt der Kontrolle, inwieweit die nächstfälligen Raten, insbesondere die Januarrate 1922108 von der deutschen Regierung gedeckt werden konnten. Die Kriegslastenkommission unterbreitete bei dieser Gelegenheit einen deutschen Vorschlag zur Verringerung der Transferschwierigkeiten für die termingebundenen Devisenablieferungen, der vom Garantiekomitee aber nicht endgültig akzeptiert wurde109. Mitte November 1921 trafen dann die Mitglieder der Reparationskommission[XXXVI] selbst zu Verhandlungen mit der Kriegslastenkommission in Berlin ein. Das Kabinett bereitete diese Besprechungen vor, erarbeitete Verhandlungsziele110 und diskutierte in nahezu täglichen Chefbesprechungen oder Kabinettssitzungen den jeweiligen Verhandlungsstand111.

107

S. Dok. Nr. 95, Anm. 2.

108

S. Dok. Nr. 39, Note 1.

109

S. Dok. Nr. 130, Anm. 6.

110

Dok. Nr. 130; Dok. Nr. 131.

111

Dok. Nr. 141; Dok. Nr. 142; Dok. Nr. 143; Dok. Nr. 144; Dok. Nr. 145; Dok. Nr. 149

Während es in den voraufgegangenen Verhandlungen mit dem Garantiekomitee um die Durchführung des Londoner Ultimatums gegangen war, kündigte sich nun schon bei der Vorarbeit zu den Verhandlungen mit der übergeordneten Reparationskommission ein neuer Kurs der Regierung an: während die deutschen Unterhändler nur die für sie günstigste Auslegung des Londoner Zahlungsplanes erstrebt hatten, zielten die neuen Überlegungen der Reichsregierung auf Verhandlungen über eine Stundung der Verbindlichkeiten oder eine Revision des Zahlungsplanes ab112.

112

Siehe dazu die Ausführungen Rathenaus zum Sturz der Mark in Dok. Nr. 130 und die vorbereitenden Beratungen in Dok. Nr. 131.

Am Rande offizieller Zusammenkünfte mit der Reparationskommission ergab sich die Gelegenheit, dieses Terrain zu sondieren113: so diskutierten Staatssekretär Hirsch und Logan, einer der beiden amerikanischen Vertreter der Reparationskommission, über die mit dem Verfall der Mark wachsenden Schwierigkeiten der deutschen Regierung, die für die Reparationszahlungen notwendigen Devisen aufzubringen114.

113

Siehe Dok. Nr. 131, Anm. 5.

114

Siehe Dok. Nr. 136 u. Dok. Nr. 131, Anm. 1.

Nach der offiziellen Mitteilung der Reprationskommission an den Reichskanzler, daß die im Januar und Februar 1922 fälligen Raten voll gezahlt werden müßten, wenn Deutschland ernste Konsequenzen vermeiden wolle, sah Wirth seine Politik auf den Weg der Kreditbeschaffung verwiesen115. Zwar hatte sich, wie die Staatssekretäre Hirsch und Schroeder erfahren hatten, die englische Seite zu Verhandlungen über eine Modifizierung des Zahlungsplans nicht grundsätzlich abgeneigt gezeigt und auch Wirth konnte aus einem Gespräch mit Bradbury berichten, daß England nur aus taktischen Gründen an der Zahlung der nächstfälligen Raten, die für Belgien bestimmt seien, festhalte; denn ohne die Unterstützung Belgiens könne es die Franzosen nicht für ein Moratorium gewinnen. Ein Versuch zur Neuregelung des Reparationsproblems sei dennoch aussichtslos – so schloß der Reichspräsident hieraus –, bevor nicht alle Möglichkeiten der Kreditbeschaffung für die Abdeckung der Januar- und Februarrate unternommen seien116.

115

Siehe Dok. Nr. 141.

116

Siehe Dok. Nr. 141, Anm. 5 und Dok. Nr. 145.

Trotz der schlechten Erfahrungen mit den zur Aufbringung der ersten Milliarde aufgenommenen kurzfristigen Mendelsohnkrediten117 begann die Reichsregierung infolgedessen wiederum Verhandlungen um kurzfristige Kredite, und zwar entsprechend auch der Forderung der Reparationskommission nach zwei Richtungen hin118: einmal wandte sich Wirth mit Schreiben vom[XXXVII] 12. November 1921 erneut an die Industrie und ersuchte sie um Beschaffung kurzfristiger Kredite in Höhe von 500 Millionen Mark zur Abdeckung der Januar- und Februarraten119. Der Schritt war zuvor sowohl mit dem Vorsitzenden des Reichsverbandes der deutschen Industrie, Bücher, als auch mit Bradbury und später der gesamten Reparationskommission besprochen worden120.

117

Siehe Dok. Nr. 68, Anm. 3 u. Ausführung des RK in Dok. Nr. 141.

118

Siehe dazu Bericht des RK in Dok. Nr. 141.

119

Schreiben siehe Dok. Nr. 142, Anm. 3.

120

Siehe Dok. Nr. 141, Anm. 5; Dok. Nr. 142 u. Dok. Nr. 143, Anm. 5.

Zum anderen wollte die Reichsregierung auf Anregung von Kindersley, einem Vertreter des Bankhauses Lazard Brothers, in England nach weiteren Möglichkeiten zur Kreditgewinnung suchen: der Reichsbankpräsident Havenstein sollte an den Gouverneur der Bank von England, Norman, herantreten, um zu ermitteln, unter welchen Bedingungen hier Kredite zu erlangen wären121.

121

Dok. Nr. 142; der Brief Havensteins konnte in R 43 I nicht ermittelt werden, sein Inhalt ist jedoch in der Antwort Normans (Dok. Nr. 166, Anm. 7) zusammengefaßt.

Das Ergebnis dieser Bemühungen lag bei der Abreise der Reparationskommission nur teilweise vor: der Reichsverband der deutschen Industrie hatte am 18.11.1921 mitgeteilt, daß er eine Möglichkeit zur Erlangung kurzfristiger Kredite nicht sehe, weil die pünktliche Rückzahlung nicht gewährleistet werden könne. Eine Abdeckung der beiden fälligen Raten sei nur als Vorschuß auf den langfristigen Kredit denkbar, über den zur Zeit auf der Grundlage der beiden Entschließungen des Reichsverbandes verhandelt werde122. In der Verknüpfung beider vom Kanzler ausdrücklich als getrennte Aktionen bezeichneter Kreditersuchen entsprach die Antwort der Industrie nicht den in den Chefbesprechungen geäußerten Erwartungen123. Die bei der Verabschiedung der Reparationskommission überreichte deutsche Note enthielt dann auch keine offizielle Mitteilung der von der Industrie erteilten Antwort, doch meldete sie trotz ihres sonst versöhnlichen Charakters Bedenken an, ob es gelingen könne, die geforderten Kredite zu beschaffen124.

122

Dok. Nr. 106, Anm. 2 u. Dok. Nr. 133, Anm. 1; Wortlaut des Schreibens der Industrie siehe Dok. Nr. 147, Anm. 1.

123

Vgl. Dok. Nr. 142 u. Dok. Nr. 143.

124

Wortlaut siehe Dok. Nr. 147, Anm. 4.

Die Entscheidung über die Aktion Havensteins bei der Bank von England fiel erst am 3.12.1921 mit der Antwort Normans an Havenstein: Norman schloß die Möglichkeit zur Erlangung kurzfristiger Kredite völlig aus125.

125

Wortlaut siehe Dok. Nr. 166, Anm. 7.

Die englische Verhandlungsgeneigtheit hatte den Reichsminister a. D. Rathenau schon einige Tage vor der Entscheidung Normans zu inoffiziellen Verhandlungen nach England geführt126. Nach dem Bericht, den er hierüber in der Chefbesprechung vom 12.12.1921 gab, zeichnete sich endgültig eine Wendung zur Politik des Moratoriums ab. In einer Chefbesprechung und einer Kabinettssitzung vom 13.12.1921 wurde ein Moratoriumsgesuch entworfen, das bereits am 14.12.1921 der Reparationskommission übergeben werden konnte127. Die Regierung erbat darin unter Hinweis auf die fehlgeschlagene[XXXVIII] Aktion bei der Bank von England eine Stundung für die beiden nächstfälligen Raten, für die neben den Gutschriften aus den Sachlieferungen nur 150–200 Millionen Goldmark aufgebracht werden könnten, und wies zugleich darauf hin, daß auch bei den zukünftigen Zahlungen Schwierigkeiten zu erwarten seien128.

126

Siehe Dok. Nr. 149, Anm. 2.

127

Siehe Dok. Nr. 166; Dok. Nr. 167 u. Dok. Nr. 168.

128

Zum Wortlaut der Note siehe Dok. Nr. 167, Anm. 1.

Schon zwei Tage später, am 16.12.1921, antwortete die Reparationskommission, daß sie vor einer Entscheidung über das Gesuch zusätzlicher Aufklärungen der deutschen Regierung bedürfe129. Während der Chefbesprechung vom 19.12.1921, in der die Beantwortung dieser Anfrage diskutiert wurde, ordnete Wirth zwar die Vorbereitung einer solchen Note an die Reparationskommission an, mit ihrer Absendung sollte man jedoch bis zur Rückkehr Rathenaus warten, dessen zweiten Londoner Aufenthalt Wirth in der gleichen Sitzung bekanntgegeben hatte130.

129

Wortlaut der Note siehe Dok. Nr. 170, Anm. 1.

130

Siehe Dok. Nr. 170.

Am zweiten Weihnachtstag berichtete Rathenau in einer Chefbesprechung und einer Kabinettssitzung Einzelheiten eines zwischen England und Frankreich paraphierten Vorabkommens über die Regelung des Reparationsproblems, über das in Cannes entschieden werden sollte und an das er enthusiastische Erwartungen knüpfte. Zur Frage der Beantwortung der Note der Reparationskommission vom 16.12.1921 schlug er auf Grund seiner Kenntnis der englischen Haltung vor, in einer mündlichen Besprechung mit der Reparationskommission auf die angeschnittenen Fragen einzugehen und im übrigen die Verhandlungen zwischen Lloyd George und Briand um die Jahreswende, an denen er inoffiziell teilnehmen sollte, abzuwarten131. Staatssekretär Fischer in Paris wurde daraufhin beauftragt, die Verhandlungen mit der Reparationskommission in diesem Sinne zu führen132. Aber trotz des englischen Einvernehmens mit diesem offiziellen Schritt der deutschen Regierung ließ sich eine Verstimmung der Reparationskommission nicht verhehlen, die allerdings ohne tiefergehende Folgen auf den weiteren Verlauf blieb: am 8.1.1922 wurde der deutschen Regierung die offizielle Einladung, ihre Vertreter nach Cannes zu entsenden, übermittelt. Zum Leiter der Delegation ernannte das Kabinett den Reichsminister a. D. Rathenau133.

131

Siehe Dok. Nr. 173.

132

Siehe Dok. Nr. 170, Anm. 8 u. Dok. Nr. 174.

133

Dok. Nr. 182; Zusammensetzung der Delegation im einzelnen siehe Dok. Nr. 183.

Die das deutsche Moratoriumsersuchen betreffende Resolution der Konferenz von Cannes (6. – 13.1.1922) erging am 13.1.1922 und lag der Chefbesprechung vom 14.1.1922 zugrunde: danach war dem Reich ein vorläufiges Moratorium gewährt, zugleich aber die Verpflichtung auferlegt worden, der Reparationskommission binnen vierzehn Tagen erstens einen Reform- und Garantieplan für den deutschen Haushalt und den Papiergeldumlauf und zweitens ein Programm für die Barzahlungen und Sachlieferungen des Jahres 1922 zu unterbreiten. Ergänzend dazu hatte Rathenau aus Cannes telegrafiert, die[IXL] Reparationskommission erwarte, daß sich die deutschen Vorschläge eng an den britischen Entwurf von Cannes orientierten134.

134

Die vollständigen Bedingungen für das vorläufige Moratorium siehe Dok. Nr. 190, Anm. 1; Wortlaut des Telegramms siehe Dok. Nr. 190, Anm. 4, zum brit. Entw. von Cannes siehe Anm. 3.

In der Kabinettssitzung vom 26.1.1922, in der der Entwurf der deutschen Note vom 28.1.1922 an die Reparationskommission beraten wurde, bezeichnete Staatssekretär Schroeder die Entscheidung, welche Summe man in das von der Reparationskommission geforderte deutsche Angebot setzen sollte, als den wesentlichsten Punkt. In der Abstimmung darüber, ob man die bei den ersten Verhandlungen Rathenaus in London vorgesehenen 500 Millionen Goldmark oder die im britischen Entwurf von Cannes vorgesehenen 720 Millionen anbieten sollte, fiel die Entscheidung zugunsten der höheren Summe135.

135

Dok. Nr. 194; zur endgültigen Formulierung der Note vom 28.1.1922 siehe Dok. Nr. 194, Anm. 5.

Fast zwei Monate später, am 21.3.1922, ging die Antwort der Reparationskommission ein, die keineswegs den von der Regierung und ihrem Unterhändler Rathenau – inzwischen zum Reichsaußenminister ernannt – gehegten Erwartungen entsprach: zwar gewährte die Note für das Jahr 1922 einen provisorsichen Zahlungsaufschub – das Reich sollte in diesem Zeitraum nur 720 Millionen Goldmark an Bar- und 1450 Millionen Goldmark in Sachleistungen entrichten –, knüpfte aber hieran unerwartete Bedingungen. Es waren vor allem die alliierten Forderungen nach einer Erhöhung des deutschen Steueraufkommens um weitere 60 Milliarden und nach einer Kontrolle des Reichshaushalts durch die Reparationskommission, die im Kabinett auf heftigen Widerstand stießen und zu dem Vorschlag Rathenaus führten, die Bedingungen der Note nicht zu akzeptieren136. Sowohl in der Kabinettssitzung als auch im Ministerrat versuchte Rathenau durch eine Interpretation der Erfüllungspolitik darzutun, daß eine Ablehnung dieser beiden Forderungen nicht gleichbedeutend sei mit einer Abkehr von der Erfüllungspolitik137.

136

Siehe Dok. Nr. 229, Anm. 2 u. Dok. Nr. 230.

137

Siehe Dok. Nr. 230 u. Dok. Nr. 231.

Eine Regierungserklärung Wirths im Reichstag138 legte die Regierung auf diese Linie fest, und schließlich war in der Chefbesprechung vom 1.4.1922 nur strittig, ob die Note vom 21.3.1922 vor oder nach der Konferenz von Genua wie vorgesehen beantwortet werden sollte139. Die beiden Exponenten dieser Kontroverse, Rathenau und Hermes, erarbeiteten schließlich mit ihren Ressorts in mühsamer Redaktionsarbeit140 die deutsche Antwort vom 7.4.1922, in der das Reich nicht nur die Erhebung von 60 Milliarden neuer Steuern im angegebenen Zeitraum als sachlich unmöglich und die Kontrolle des deutschen Haushalts als unvereinbar mit der Souveränität des Staates ablehnte, sondern zugleich unter Hinweis auf den rapiden Währungsverfall erklärte, die Barzahlungen für 1922 nur noch im Wege der Anleihe aufbringen zu können.[XL] Es müsse daher eine unabhängige Sachverständigenkommission einberufen werden und ihr Gutachten zur Grundlage einer Revision der Entscheidung vom 21.3.1922 gemacht werden141. Bereits wenige Tage später stellte die Reparationskommission mit ihrer Note vom 13.4.1922 fest, daß die deutsche Haltung einer Weigerung gleichkomme142. Laut Beschluß der Genua-Delegation vom 17.4.1922, an deren Spitze der Reichskanzler stand, sollte diese Note von deutscher Seite jedoch unbeantwortet bleiben143. Anfang Mai zeigte sich bei einer Besprechung in Genua aber, daß sich auf Grund dieses Beschlusses in Paris die Lage zwischen Reparationskommission und Kriegslastenkommission dramatisch zugespitzt hatte144: die Deutsche Regierung sah sich zur Beantwortung der Note vom 13.4.1922 nach einem von Bradbury bereits aufgestellten Entwurf gezwungen145.

138

Siehe Dok. Nr. 231, Anm. 2.

139

Siehe Dok. Nr. 237.

140

Siehe Dok. Nr. 240 u. Dok. Nr. 243, P. 9.

141

Zum Wortlaut der Note siehe Dok. Nr. 244, Anm. 1.

142

Siehe Dok. Nr. 246, Anm. 4.

143

Siehe Dok. Nr. 246, P. 2.

144

Siehe Dok. Nr. 262, Anm. 1.

145

Entw. siehe Dok. Nr. 263, Anm. 2; zur Redaktion der Note siehe Dok. Nr. 264 u. Dok. Nr. 266, P. 5.

Mit dieser von Bauer unterzeichneten Note vom 9.5.1922 hatte das Reich der Reparationskommission seine Verständigungsbereitschaft gezeigt: die deutsche Regierung billigte unter anderem den Grundsatz, daß die inneren Staatsausgaben (ohne Reparationsetat) ohne Vermehrung des Papiergeldumlaufs aus den Einnahmen gedeckt werden müßten, konnte aber daran festhalten, daß die Erhebung von 60 Milliarden neuer Steuern bis zum 31.5.1922 undurchführbar sei. Als ein Verhandlungsergebnis Bergmanns konnte dem Entwurf Bradburys in der von der deutschen Regierung unterzeichneten Fassung noch hinzugefügt werden, daß ein erheblicher Teil der deutschen Verpflichtungen im Ausland im Anleihewege gedeckt werden müßte.

Reichsfinanzminister Hermes, der ursprünglich zur Genua-Delegation gehört hatte, jedoch wegen seiner Teilnahme an der Konferenz der Finanzminister der Länder bereits abgereist war, hatte noch in Genua Kontakte zu dem Mitglied der Reparationskommission Delacroix geknüpft und war von diesem zu Verhandlungen in Paris aufgefordert worden146. Angesichts der verschärften Spannungen in der Reparationspolitik hatte der Reichskanzler von Genua aus der Reparationskommission den Besuch des Ministers Hermes zu weiteren Verhandlungen angekündigt147.

146

Siehe Dok. Nr. 259, Anm. 8.

147

Siehe Dok. Nr. 277, Anm. 13.

In einer seine Reise nach Paris vorbereitenden Kabinettssitzung vom 11.5.1922 unterbreitete Hermes in Berlin sein Verhandlungskonzept, das neben seinen Richtlinien in der Frage der Finanzkontrolle durch die Reparationskommission und der Neufeststellung des Reichshaushalts auch die von ihm zu vertretende Auffassung zu den Sachlieferungsabkommen und zur belgischen Markfrage umfaßte, sah man hierin doch ein Mittel, den belgischen Vertreter der Kommission durch ein gewisses Entgegenkommen dem deutschen Moratoriumsgesuch geneigter zu machen148.

148

Siehe Dok. Nr. 269.

[XLI] Über den Verlauf seiner intensiven Einzelgespräche in Paris liegen insgesamt fünf Berichte vor, den in den ersten vier Berichten geschilderten Verlauf der Verhandlungen faßte außerdem Ministerialdirektor von Brandt vor dem Kabinett noch einmal zusammen149.

149

Siehe Dok. Nr. 272; Dok. Nr. 273; Dok. Nr. 275; Dok. Nr. 276; Dok. Nr. 283; Zusammenfassung Dok. Nr. 277.

Wie schon in den Noten der Kommission vom 21.3.1922 und 13.4.1922 kristallisierte sich auch in diesen zum Teil in sehr gespannter Atmosphäre ausgetragenen Verhandlungen150 als das Hauptanliegen der Kommission die Balancierung des deutschen Haushaltes heraus. Der Berichterstattung Hermes’ zufolge war es Bradbury, der hierauf ganz entscheidendes Gewicht legte und ohne den innerhalb der Reparationskommission der Widerstand der Franzosen nicht zu brechen sei151. In mühsamer Verhandlungsarbeit stellten Bergmann und Bradbury Richtlinien auf, die ein Anwachsen der schwebenden Schuld und ein Fortschreiten der Inflation in Deutschland verhindern sollten und einigten sich über eine entsprechende Erklärung, die die deutsche Regierung schließlich in ihre Note vom 28.5.1922 aufnahm152. Hier bahnte sich eine Verständigung an, und Hermes berichtete nach Berlin, er halte die erarbeiteten Zusagen, die eine Erhebung weiterer Steuern nicht ausschlossen, für „erträglich und auch innenpolitisch vertretbar“153.

150

Siehe insbesondere den Bericht Dok. Nr. 275.

151

Siehe Dok. Nr. 276.

152

Siehe Dok. Nr. 278, Anm. 1; zu den Verhandlungen siehe Dok. Nr. 276.

153

Siehe Dok. Nr. 276.

Die deutsche Genua-Delegation war am 21.5.1922 nach Berlin zurückgekehrt, am 22. 5. wollte Wirth dem Kabinett über den Konferenzverlauf berichten. Tatsächlich eröffnete er jedoch die Sitzung mit der Bemerkung, daß die von Hermes geführten Paris-Verhandlungen von so außerordentlicher Bedeutung seien, daß man zunächst den Bericht des Ministerialdirektors von Brandt hierüber hören müsse. Dieser Bericht schloß mit der Aufforderung an das Kabinett, zu dem von Bradbury und Bergmann erarbeiteten Entwurf einer deutschen Erklärung Stellung zu nehmen154. In der anschließenden Diskussion im engeren Kreis spitzte sich die Situation – hauptsächlich wegen der in der Erklärung enthaltenen Zusage, Deutschland werde unter gewissen Voraussetzungen Vorschläge für den Ausbau des Steuersystems unterbreiten155 – krisenhaft zu: während Rathenau nach einer Analyse der außenpolitischen Situation zu dem Ergebnis kam, daß eine Ablehnung im derzeitigen Stadium der Verhandlungen ohne ernste Gefahr nicht möglich sei, beharrte Wirth ohne weitere Stellungnahme auf dem Standpunkt, Hermes habe seine Kompetenzen überschritten. In scharfen Gegensatz zu Vizekanzler Bauer geriet er mit der Bemerkung, es hätten in Genua und in Berlin zwei völlig getrennte Regierungen gearbeitet. Diese Behauptung leitete er aus dem Umstand ab, daß sein Außenminister und er selbst in Genua erfolgversprechend versucht hatten, über direkte Verhandlungen mit Lloyd George auf die Reparationskommission einzuwirken,[XLII] von der Forderung nach Erhebung neuer deutscher Steuern abzulassen156.

154

Siehe Dok. Nr. 276.

155

Wortlaut der dt. Zusage siehe Dok. Nr. 278, Anm. 1.

156

Siehe Dok. Nr. 277; gegen die Taktik der dt. Reg., die Repko beiseite zu schieben und direkt mit den Regg. zu verhandeln, hatte auch Dubois Bergmann gegenüber protestiert (Dok. Nr. 275).

In insgesamt vier Sitzungen rang sich der im Kabinett isolierte Wirth mit der Vermittlungshilfe Rathenaus auf die Linie eines einheitlichen Kabinettsbeschlusses durch157. Die vom Kabinett gewünschten weiteren Änderungen an dem in Paris erarbeiteten Entwurf einer deutschen Erklärung – entweder die Erhebung neuer Steuern nicht erst zu erwähnen oder aber den Vorbehalt einer force majeure einzufügen – konnten nicht durchgesetzt werden, so daß die Erklärung in der Note vom 28.5.1922 in der ursprünglichen Fassung übergeben wurde158.

157

Siehe Dok. Nr. 277 bis Dok. Nr. 280; Wortlaut der Direktive für Hermes siehe Dok. Nr. 280, Anm. 8.

158

Siehe Dok. Nr. 278, Anm. 1; Dok. Nr. 286, Anm. 1 u. 7.

Auch ein weiterer allergischer Punkt im Verhältnis zur Reparationskommission – nämlich die Frage der alliierten Kontrolle der deutschen Einnahme- und Ausgabewirtschaft – konnte durch Verhandlungen ausgeräumt werden159; der Weg für eine definitive Entscheidung der Reparationskommission über das deutsche Moratoriumsgesuch war frei: mit einer Note vom 31.5.1922 gestand sie der deutschen Regierung das bislang nur vorläufig gewährte Moratorium, das die deutschen Leistungen auf 720 Millionen Goldmark und 1450 Millionen Goldmark in Sachleistungen herabsetzte, für das Jahr 1922 endgültig zu160.

159

Siehe dazu den Bericht Hermes in Dok. Nr. 283.

160

Siehe Dok. Nr. 291, Anm. 3.

Diese Entscheidung der Reparationskommission war das Signal für die von ihr berufene Sachverständigenkommission, die Beratungen über die Möglichkeiten für eine deutsche Anleihe im Ausland aufzunehmen161. Der deutsche Delegierte Bergmann berichtete dem Kabinett am 13.6.1922 ausführlich über den Verlauf dieser Verhandlungen, die unter dem Protest des französischen Vertreters Sergent zu dem Ergebnis geführt hatten, daß es unmöglich sei, eine ausländische Anleihe unterzubringen, ehe nicht das Reparationsproblem grundsätzlich neu aufgerollt sei162.

161

Siehe Dok. Nr. 243, P. 9 u. Anm. 13 u. 15.

162

Wortlaut s. Dok. Nr. 291, insbesondere Anm. 11.

In der an den Bericht Bergmanns anschließenden Diskussion wurde dieses Ergebnis als Erfolg für Deutschland verbucht, auf einen Kurs für die weiteren Verhandlungen mit der Reparationskommission konnte man sich aber nicht festlegen: die für Juli fällige Rate stand der deutschen Regierung in Devisen zur Verfügung, und das war in der Reparationskommission bekannt; ob die folgenden Raten ebenfalls vorhanden sein würden, hing von der Entwicklung des Markwertes ab. Während Rathenau bereits der kommenden Entwicklung der Mark mit großem Pessimismus entgegensah, blieben Bergmann und Havenstein optimistisch163. Aber auf ein sofortiges Ausnutzen der Sachverständigengutachten bei der Reparationskommission mußte die Deutsche Regierung in[XLIII] dieser Situation, in der eine deutsche Zahlungsunfähigkeit nicht nachzuweisen war, verzichten, und so formulierte sie nur eine Presseerklärung, in der sie u. a. versicherte, sie werde das ihr Mögliche tun, um der Vermehrung der schwebenden Schuld entgegenzuwirken und um die Reichsfinanzen auf eine gesunde Grundlage zu stellen164.

163

Siehe Dok. Nr. 291 u. Dok. Nr. 292, P. 4

164

Wortlaut Dok. Nr. 292, Anm. 8.

Nach der Ermordung Rathenaus und dem Beginn eines rapiden deutschen Währungsverfalls im Sommer 1922 verhandelte Staatssekretär v. Simson in London mit Vertretern der britischen Regierung und der Bank von England und berichtete am 6.7.1922 dem Kabinett, die Engländer glaubten, Deutschland könne nun mit Aussicht auf Erfolg ein neues Ersuchen, die Goldzahlungen zu stunden, an die Reparationskommission stellen. Nach Kabinettsberatungen hierüber165 wurde in der Note vom 12. 7. auf Grund des Art. 234 des Versailler Vertrages der Antrag gestellt, der deutschen Regierung die für 1922 noch fälligen Zahlungen zu stunden, und ergänzend erklärt, daß sie im Hinblick auf den Marksturz es für unerläßlich halte, auch von Barzahlungen für 1923 und 1924 befreit zu werden166.

165

Siehe Dok. Nr. 313; Dok. Nr. 314, P. 6 u. Dok. Nr. 315, P. 4.

166

Wortlaut siehe Dok. Nr. 315, Anm. 6.

Unter dem Aspekt dieses zweiten Moratoriumsgesuches erhielten die Berliner Verhandlungen des Garantiekomitees mit der Kriegslastenkommission über deutsche Maßnahmen gegen die Kapitalflucht und über die Durchführung einer Finanzkontrolle eine Bedeutung, die sie zum Gegenstand der Kabinettsentscheidung machte: in zahlreichen Sitzungen beriet man auf dieser Ebene, welche Verhandlungsziele anzustreben seien, ohne daß das für die Gewährung eines Moratoriums günstige Klima gefährdet werde167. Erst nach zäher Verhandlungsarbeit und nach Eingreifen des Reichskanzlers kam eine Einigung auf ein Kontrollsystem zustande168. Trotz der hier schließlich erzielten Übereinkunft, insbesondere in der für das Reich schwierigen Frage der Finanzkontrolle, mußte Bergmann in einem Schreiben vom 29.7.1922 dem Reichskanzler aus Paris melden, daß bei der Reparationskommission keinerlei Aussicht auf die Gewährung eines längeren Moratoriums bestünde. Man habe sich wieder einmal von England zu falschen Hoffnungen verleiten lassen. Poincaré bezeichne den Zusammenbruch der Mark als einen betrügerischen Bankrott des Reiches169.

167

Siehe Dok. Nr. 319; Dok. Nr. 321; Dok. Nr. 322; Dok. Nr. 324.

168

Siehe Dok. Nr. 321, Anm. 2 u. Dok. Nr. 322.

169

Siehe Dok. Nr. 329.

Eine unnachgiebige französische Haltung zeigte sich bereits offen in der Frage der Ausgleichszahlungen nach dem Clearing-Abkommen, für die Deutschland am 14.7.1922 wegen der Verschlechterung des Markkurses eine Stundung beantragt hatte170. Während die gleichfalls am Abkommen beteiligten Mächte Belgien und England geantwortet hatten, über dieses Gesuch zusammen mit[XLIV] dem um ein Moratorium entscheiden zu wollen171, entwickelte sich mit dem im Alleingang handelnden Frankreich ein außergewöhnlich scharfer Notenwechsel, der in der Zwangsausweisung von 500 deutschen Staatsangehörigen aus Elsaß-Lothringen gipfelte und mit der Kündigung des Abkommens endete172.

170

Siehe Dok. Nr. 330, Anm. 1.

171

Siehe Dok. Nr. 329, Anm. 9 u. Dok. Nr. 333, Anm. 3.

172

Siehe Dok. Nr. 333, Anm. 2 u. Dok. Nr. 334, Anm. 1.

Erst im Oktober kam eine neue Abmachung zwischen den beteiligten Mächten zustande, die dem Reich eine befristete Stundung gewährte173.

173

Siehe Dok. Nr. 392, P. 1.

Die Konferenz von London, auf der vom 7. – 14.8.1922 die Ministerpräsidenten der Entente über das deutsche Moratoriumsgesuch beraten hatten, hatte ebenfalls eine Verhärtung der Fronten zwischen den französischen und den englischen Delegierten in der Moratoriumsfrage gezeigt und war ergebnislos abgebrochen worden174. Die Reparationskommission, der damit die Entscheidung wieder zugefallen war, entsandte Bradbury und Mauclère zu Informationsgesprächen nach Berlin.

174

Siehe Dok. Nr. 349, Anm. 1.

In der nahezu ausweglosen Situation entstanden mehrere Pläne zur Bewältigung der deutschen Zahlungsschwierigkeiten – der Reichskanzler berichtete darüber am 28. 8. vor den Vertretern der Länder175. Der von Poincaré auf der Konferenz von London in die Debatte gebrachte Gedanke der produktiven Pfänder konnte für die Reichsregierung auch in einer von Bradbury vorgeschlagenen günstigeren Fassung nicht akzeptabel sein176. Auch bei den deutschen Kohlenlieferungen wurden zunehmend Lieferungsrückstände moniert, und so machte die deutsche Regierung zur Abwendung alliierter Pläne den Vorschlag, zunächst bis 1923 Lieferungsverträge abzuschließen, die die Sollerfüllung direkt in die Verantwortung der Zulieferer stellen sollten177. Die Industrie unter Führung von Stinnes erklärte sich grundsätzlich zur Übernahme dieser Verpflichtungen unter der Voraussetzung bereit, daß die Gewerkschaften einem Überschichtenabkommen zustimmen würden178.

175

Siehe Dok. Nr. 357.

176

Siehe u. a. Dok. Nr. 349.

177

Siehe Dok. Nr. 356 u. Dok. Nr. 357.

178

Siehe Dok. Nr. 360.

Die entscheidenden Gespräche der Reparationskommission, bei denen als deutsche Unterhändler Bergmann und Schroeder zugegen waren, konzentrierten sich jedoch von vornherein auf einen belgischen Vermittlungsvorschlag, um dessen endgültige Form im Verlauf der Verhandlung dann gerungen wurde179.

179

Siehe Dok. Nr. 359; Dok. Nr. 361, Anm. 2; Dok. Nr. 362, Anm. 1; Dok. Nr. 363, Anm. 1.

Belgien, dem die nächstfälligen Raten des Jahres 1922 zustanden, erklärte sich bereit, diese in von der Reichsbank garantierten Schatzwechseln mit sechsmonatiger Laufzeit anzunehmen. Die deutsche Regierung und die autonome Reichsbank lehnten die Girierung der Wechsel, die einen Zugriff auf das Reichsbankgold bedeuteten, jedoch ab. In drei Sitzungen faßte das Kabinett beharrlich den Beschluß, den aus Paris unter dem Druck des drohenden Ruhreinmarsches zur Verständigung ratenden Unterhändlern die Instruktion zu[XLV] erteilen, daß eine Garantie durch das Gold der Reichsbank nicht in Frage komme. Notfalls müsse der Ruhreinmarsch in Kauf genommen werden180.

180

Siehe Dok. Nr. 361; Dok. Nr. 362; Dok. Nr. 363.

Die Entscheidung der Reparationskommission vom 31.8.1922, die die Beschlußfassung über den Moratoriumsantrag bis zu dem Zeitpunkt verschob, zu dem sie ein Programm für die Reform der öffentlichen Finanzen Deutschlands fertiggestellt habe und es im übrigen Deutschland und Belgien überließ, sich über die Regelung der Ratenzahlungen zu einigen, verbuchte Wirth dann auch als einen Erfolg der festen Haltung seiner Regierung181.

181

Siehe Dok. Nr. 364.

Trotzdem verliefen auch die Verhandlungen mit den belgischen Vertretern nicht problemlos; sie drohten an der Frage der Prolongation der vorgesehenen sechsmonatigen Schatzwechsel zu scheitern: die belgische Regierung lehnte nämlich die von der deutschen Regierung wegen ihrer Zahlungsunfähigkeit gewünschte, aber von der Reparationskommission nicht vorgesehene Maßnahme ab182. Eine gemeinsame Pressenotiz, in einer Besprechung mit dem Reichskanzler aufgesetzt, sprach am 9.9.1922 von einer Unterbrechung der Verhandlungen183.

182

Siehe Dok. Nr. 370.

183

Siehe Dok. Nr. 371, Anm. 2.

Eine Lösung des Problems konnte erst gefunden werden, nachdem Havenstein am 18.9.1922 die Bereitschaft der Reichsbank erklärte, ihre Unterschrift unter die Wechsel zu setzen. Dazu konnte er sich auf Grund einer banktechnischen Transaktion mit der Bank von England verstehen, deren Einzelheiten Geschäftsgeheimnis bleiben müßten; die Reichsbank sei jedoch gegen eine Inanspruchnahme ihres Goldes gesichert184.

184

Siehe Dok. Nr. 375.

Ende Oktober traf die Reparationskommission mit ihrem neuen Vorsitzenden Barthou in Berlin ein, um in Verhandlungen mit der deutschen Regierung das von ihr in der Note vom 31.8.1922 angekündigte Reformprogramm der öffentlichen Finanzen Deutschlands vorzubereiten und somit die Grundlagen für eine Entscheidung über das zweite deutsche Moratoriumsgesuch zu schaffen. Anfang November beriet zudem ein offenbar auf Veranlassung der deutschen Regierung nach Berlin einberufenes internationales Sachverständigenkomitee über Währungsfragen185.

185

Siehe Dok. Nr. 393, Anm. 2.

Beide Ereignisse führten zu Kabinettsentscheidungen: am 4.11.1922 überreichte die deutsche Regierung der Reparationskommission eine Note, die den Vorschlag enthielt, die Kommission möge mit einem internationalen Finanzkomitee die Möglichkeiten und Bedingungen einer äußeren Anleihe von mindestens 500 Millionen Goldmark zur Stabilisierung der Mark prüfen186. Auf Anraten Delacroix’ unterließ es die Regierung, in dieser Note erneut um ein Moratorium zu ersuchen187. Die alliierte Antwort vom 6.11.1922 auf diesen aus taktischen Gründen übergebenen Vorschlag wies auf die deutsche Zusage[XLVI] hin, der Kommission ein konkretes Projekt zur Stabilisierung der Mark vorzulegen188. Inzwischen waren die Sachverständigengutachten zum Teil fertiggestellt, auf die die deutsche Regierung nun in ihrer Note vom 8.11.1922 Bezug nehmen konnte189. Jedoch erst am 13.11.1922 schlug Hermes auf Grund offenbar erfolgversprechender Berichte deutscher Auslandsmissionen über die Stimmung in der nach Paris zurückgekehrten Reparationskommission vor, eine grundsätzliche Note auszuarbeiten. Sie wurde bereits einen Tag später überreicht und enthielt ein umfassendes Sanierungsprogramm für die deutsche Währung unter der Voraussetzung, daß dem Reich ein Moratorium für drei bis vier Jahre und eine äußere Anleihe gewährt werden würde190.

186

Siehe Dok. Nr. 396, Anm. 2.

187

Siehe Dok. Nr. 397.

188

Siehe Dok. Nr. 398, Anm. 1; zur dt. Zusage siehe Dok. Nr. 399, Anm. 2.

189

Sachverständigengutachten siehe Dok. Nr. 399, zum Wortlaut der Note s. Dok. Nr. 401, Anm. 1.

190

Siehe Dok. Nr. 406; zum Wortlaut s. Dok. Nr. 407, Anm. 1.

Die Regierung Cuno setzte die hiermit eingeleiteten Reparationsverhandlungen fort191.

191

Siehe Kabinett Cuno, Dok. Nr. 3, Anm. 3.

Im Rahmen der Erfüllungspolitik erarbeitete das Wiederaufbauministerium – zunächst unter Führung von Rathenau – die Sachlieferungsabkommen mit denjenigen Staaten, denen nach dem Versailler Vertrag Leistungen zum Wiederaufbau ihrer zerstörten Gebiete zustanden. Schon Mitte Juni 1921 konnte Rathenau dem Kabinett über erste Gespräche mit dem französischen Minister und Großindustriellen Loucheur in Wiesbaden und die Grundzüge des angestrebten Abkommens berichten, bei denen sich Ansatzpunkte zu weiteren Verhandlungen ergeben hatten192. Anfang September gelangte dann der am 27. 8. 1921 paraphierte Entwurf des Abkommens in die Reichskanzlei, den Rathenau am 22.9.1921 dem Kabinett zur Beschlußfassung vorlegte. Das Abkommen sah die Einrichtung privatrechtlicher Organisationen auf beiden Seiten vor; sie sollten einmal die nach dem Versailler Vertrag fälligen Warenlieferungen zum Wiederaufbau Frankreichs und zum anderen darüber hinaus auf Kredit weitere von Frankreich bis zum Höchstwert von 7 Milliarden Goldmark innerhalb von 4½ Jahren angeforderte Lieferungen abwickeln. Der Gegenwert der Lieferungen sollte Deutschland auf das Reparationskonto gutgebracht werden, und zwar nach einem Schlüssel, der Deutschland in gewisser Weise zum Kreditgeber Frankreichs machte193. Kurz vor der Beschlußfassung über das Abkommen, das zunächst nicht für den Weg durch den Reichstag vorgesehen war, kam es im Kabinett zu einer heftigen Debatte, als Rosen mit der Annahme des Abkommens die Aufhebung der Sanktionen im Rheinland verbunden wissen wollte194.

192

Siehe Dok. Nr. 29, P. 1 u. Dok. Nr. 44, Anm. 5.

193

Siehe Dok. Nr. 78, P. 1 u. Dok. Nr. 97, P. 6 u. 7; zum Wortlaut des Abkommens s. Dok. Nr. 97, Anm. 8.

194

Siehe Dok. Nr. 107 u. Dok. Nr. 165, Anm. 2.

Im zweiten Kabinett Wirth wurde diese Politik mit dem Cuntze-Bemelmans-Abkommen, das am 27.2.1922 paraphiert wurde, auf Belgien ausgedehnt. Gegenüber dem Wiesbadener Abkommen sah es als Neuerung den freien[XLVII] Lieferungsverkehr vor: ohne die Errichtung der dort vorgesehenen privatrechtlichen Organisationen sollte der Geschädigte bei den deutschen Lieferfirmen direkt bestellen können. Das Reich würde den Lieferanten entschädigen und das Empfängerland den Gegenwert auf Reparationskonto gutschreiben lassen195. Dieses Prinzip sollte nun auch im Sachlieferungsverkehr mit Frankreich angewendet werden: das Wiesbadener Abkommen wurde durch das Gillet-Ruppel-Abkommen, das trotz einiger Schwierigkeiten am 15.3.1922, allerdings mit dem Ratifikationsvorbehalt, unterzeichnet wurde, modifiziert196. Vor der Verabschiedung durch den Reichstag versuchte der Finanzminister Hermes politisch Kapital aus der Erledigung der Abkommen zu schlagen, indem er ihre weitere Behandlung ausdrücklich in die Instruktionen für seine Pariser Verhandlungen aufnehmen ließ197.

195

Berichterstattung dazu s. Dok. Nr. 216, P. 11; zum Wortlaut des Abkommens Dok. Nr. 216, Anm. 6.

196

Siehe Dok. Nr. 223.

197

Siehe Dok. Nr. 269.

2. Innenpolitische Aspekte

Als Teil der Erfüllungspolitik sind die Bemühungen der Regierung anzusehen, ein Programm zur Aufbringung der für die Reparationszwecke erforderlichen Summen zu entwickeln. Die Regierung Wirth begann in ihren ersten Tagen mit intensiver Planungsarbeit. Bereits am 17.5.1921, bei der ersten Diskussion möglicher Maßnahmen, stellte der Wirtschaftsminister Schmidt dar, daß die Reparationsleistungen die dauernde Aufbringung von 45–50 Milliarden Papiermark jährlich erforderlich machten; allein durch eine Novellierung des Steuerprogramms seien solche Summen nicht aufzubringen, und tatsächlich schätzte das Reichsfinanzministerium den durch Steuererhöhung aufzubringenden Betrag auf 10 Milliarden Papiermark, in der Kabinettssitzung vom 31.5.1921 auf 20 Milliarden Papiermark. Schmidt zeigte jedoch mit seiner ersten Übersicht nicht nur die ungeheure Schwierigkeit der mit der Annahme des Zahlungsplanes übernommenen Verpflichtungen auf, sondern skizzierte zugleich einen Plan zur Erfassung bestimmter Sachwerte, den er zwei Tage später in einer Denkschrift niederlegte198.

198

Siehe Dok. Nr. 3 u. Dok. Nr. 6.

Da die Volkswirtschaft aus laufenden Erträgen die Reparationssummen nicht aufbringen könne – so setzte die Denkschrift vom 15.5.1921 an –, sei ein Eingriff in die Substanz des Volksvermögens vorzunehmen: Schmidt dachte an eine 20%ige Enteignung zugunsten des Reparationsaufgebots a) beim ländlichen Grundbesitz, b) beim Hausbesitz und c) bei industriellen und kaufmännischen Unternehmungen, einschließlich der Banken. Er begründete sein Vorhaben mit der Tatsache, daß diese Sachwerte von der Inflation nicht oder nicht im vollen Umfang betroffen seien.

Bei der Erörterung des finanzpolitischen Teils der Regierungserklärung Wirths stand Schmidt mit seinen Plänen bereits in einem gewissen Gegensatz zu denen des Finanzministeriums, die auf eine Erhöhung einer Anzahl von[XLVIII] Steuern hinausliefen. In seiner Regierungserklärung vom 1.6.1921 deutete Wirth jedoch auch die Möglichkeit eines Eingriffs in die Substanz an199.

199

Siehe Dok. Nr. 19, P. 3d u. RT Bd. 349, S. 3711  f.

Als der Plan des Reichswirtschaftsministeriums im Kabinett zur Entscheidung anstand, stellte sich heraus, daß der Reichskanzler, der zwar grundsätzlich der Meinung war, das Problem der Erfassung des Besitzes lösen zu müssen, den Vorschlag nicht akzeptierte, da sich keine Mehrheit im Reichstag dafür würde finden lassen. Er schlug daher in seiner Eigenschaft als Reichsfinanzminister einen Ausbau des Reichsnotopfers vor. Einen detaillierten Plan dazu legte er in der Denkschrift vom 27.6.1921 vor, die in Beachtung des Grundsatzes, daß eine dauernde Vermögenssteuer aus dem Einkommen des Pflichtigen müsse entnommen werden können, eine Komprimierung des bereits bestehenden Notopfers auf zehn Jahre (statt vorher 28 bzw. 45 Jahre) und einen Zuschlag für Goldwerte vorsah200. Die zusätzlichen Einnahmen hieraus schätzte Wirth auf 6 – 8,5 Milliarden Mark.

200

Siehe Dok. Nr. 36b u. Dok. Nr. 38.

Ebenfalls am 27.6.1921 legte das Reichswirtschaftsministerium eine Neufassung seines früheren Planes vor201. In der Kabinettssitzung vom 29. 6. 1921 standen beide Projekte zur Debatte, jedoch war eine Entscheidung, wie Vizekanzler Bauer schon eingangs erklärte, nicht möglich, weil sonst eine Gefährdung der Koalition eintreten könne. So endete die Debatte mit der Einsetzung einer Unterkommission in der Reichskanzlei zur Untersuchung der Pläne des Reichswirtschaftsministeriums, insbesondere der Frage einer Sachwertbeteiligung lediglich an den gewerblichen Unternehmungen202.

201

Siehe Dok. Nr. 6, Anm. 1.

202

Siehe Dok. Nr. 40.

Auf Grund dieses Kabinettsbeschlusses legte das Reichswirtschaftsministerium etwa einen Monat später den Entwurf zu einer Neufassung des Körperschaftssteuergesetzes vor, nach dem der Ertrag für das in den nächsten vierzig Jahren zu erwartende Steueraufkommen vorweggenommen werden sollte203. Nach intensiver Diskussion dieses Projektes mußte jedoch der Reichskanzler feststellen, daß es nicht abstimmungsreif sei204.

203

Siehe Dok. Nr. 60, P. 2, insbesondere Anm. 3.

204

Siehe Dok. Nr. 61, P. 1 u. Dok. Nr. 63, P. 3.

An die Öffentlichkeit gelangte eine im Kabinett angeregte amtliche Pressemitteilung, die die Steuerentwürfe der Reichsregierung aufzählte und anfügte, daß das Kabinett noch prüfe, ob und inwieweit darüber hinaus der Besitz heranzuziehen sei205. Bis zur Sommerpause hatte die Regierung immerhin insgesamt fünfzehn Steuervorlagen einzeln an den Reichstag gebracht, die dem Reich größere Geldquellen erschließen sollten206.

205

Siehe Dok. Nr. 63, Anm. 4.

206

Aufzählung der Vorlagen s. Dok. Nr. 82, Anm. 1.

Nach etwa zweimonatiger Sommerpause ergriff Wirth bei einem Sondierungsgespräch am 7.9.1921 mit dem Reichsverband der deutschen Industrie eine neue Initiative zur – wie er ausdrücklich betonte – unumgänglichen Heranziehung des Besitzes: da die MSPD nur unter der Voraussetzung bereit sei,[XLIX] den bisher eingebrachten Steuervorlagen zuzustimmen, daß Ergänzungen durch eine Belastung des Besitzes hinzuträten, solle die Industrie erklären, welche Beiträge sie zur Aufbringung der Reparationszahlung leisten könne. Noch vor dem Görlitzer Parteitag der MSPD müsse man hier zu Ergebnissen kommen. In intensiver Verhandlung mit Industrie, Banken und Landwirtschaft zeigte sich eine grundsätzliche Bereitschaft der Industrie, mit ihrem Kredit für eine äußere Anleihe von etwa 1,5 Milliarden Mark zu haften, die für Reparationszwecke des Reiches verwendet werden sollten207. Sowohl die Vertreter der Industrie, als auch die der Banken und der Landwirtschaft, die – selbst etwas zögernd – der Industrie die Initiative überließen, legten zudem eine Verbreiterung der Regierungskoalition nach rechts nahe, was den Reichskanzler veranlaßte, vor dem Interfraktionellen Ausschuß am 18.10.1921 zu betonen, daß dies als Anregung gegeben, nicht aber als Bedingung gestellt sei208.

207

Siehe Dok. Nr. 82; 91; 93 u. Dok. Nr. 100.

208

Siehe Dok. Nr. 115.

Die skeptische Haltung der MSPD gegenüber dem trotz der Bemühungen Rathenaus209 bislang nicht näher präzisierten Angebot der Industrie führte zur Weiterentwicklung des im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat entworfenen Planes Hachenburg, der die industrielle Kreditaktion auf eine gesetzliche Grundlage stellen wollte210. Nach dem der Reichsverband der deutschen Industrie in einer Resolution seine Haltung präzisiert und seine Bedingungen, mit denen u. a. eine Privatisierung der Reichsbahn gefordert wurde, genannt hatte, mußte auch der Reichskanzler feststellen, daß sich die Sachlage völlig verschoben habe und die ursprünglich geplante Kreditaktion nun zu einer Reform der Reichsbetriebe nach den Vorstellungen von Stinnes gerate211.

209

Siehe Dok. Nr. 91.

210

Siehe Dok. Nr. 115, Anm. 3.

211

Siehe Dok. Nr. 133, Anm. 1 u. Dok. Nr. 135, Anm. 2.

Eine ablehnende Haltung zu den Bedingungen der Industrie nahmen sowohl die Gewerkschaften als auch die MSPD ein, die diese Forderungen in einer Besprechung mit Vertretern der Regierungsparteien für unannehmbar erklärte212. Der Reichskanzler setzte zwar zur Fortführung der Kreditaktion eine Kommission ein, und der Reichsverband der deutschen Industrie legte noch im März 1922 ein Gutachten zum Eisenbahnwesen vor213, doch galt der gesamte Plan als gescheitert, insbesondere, nachdem auch das Ersuchen des Reichskanzlers um eine kurzfristige Anleihe nicht den gewünschten Erfolg gehabt hatte214.

212

Siehe Dok. Nr. 133, Anm. 5; Dok. Nr. 137; 138.

213

Siehe Dok. Nr. 161 u. Dok. Nr. 163, Anm. 5.

214

Siehe dazu Dok. Nr. 142, Anm. 3; Dok. Nr. 147, Anm. 1 u. oben S. XXXVII.

Als Konsequenz hieraus nahm das Kabinett den Antrag des Reichswirtschaftsministeriums vom 12.12.1921 an, das Reichsfinanzministerium möge prüfen, auf welche Weise eine Erhöhung der Reichseinnahmen durch Belastung des Besitzes – im Wege neuer Steuern oder freiwilliger oder zwangsmäßiger Anleihen – zu erreichen sei215.

215

Siehe Dok. Nr. 165, P. 1.

[L] Am 26.1.1922 konnte Wirth in einer Regierungserklärung vor dem Reichstag den schließlich zwischen den Parteien von der MSPD bis zur für die Mehrheit notwendigen DVP ausgehandelten Steuerkompromiß skizzieren, dessen Zugeständnis an die MSPD in der Ankündigung einer Zwangsanleihe in Höhe von 1 Milliarde Goldmark bestand216. Bis zur Verabschiedung des daraus resultierenden Gesetzes über Änderungen im Finanzwesen vom 8. 4. 1922, das die ursprünglich gesondert eingebrachten Entwürfe unter einem Mantelgesetz vereinigte217, wurde das Zustandekommen des Kompromisses immer wieder Gegenstand der Tagesordnung: nach der Ernennung Rathenaus zum Außenminister drohte die DVP mit einer Kündigung218, die schleppende Behandlung des Gesetzespakets veranlaßte Wirth immer wieder dazu, die Parteien über die Mitglieder der Regierung zur Eile zu gemahnen, da eine weitere Verzögerung die Regierung außenpolitisch in Mißkredit bringe219, und schließlich mußte der Reichsfinanzminister seine bereits öffentlich angegriffene Haltung zur Zwangsanleihe im Kabinett verteidigen220.

216

Siehe Dok. Nr. 205, Anm. 1.

217

Siehe RGBl. 1922 I, S. 335 .

218

Siehe Dok. Nr. 205.

219

Siehe Dok. Nr. 209, P. 6 u. Dok. Nr. 212.

220

Siehe Dok. Nr. 216, insbesondere Anm. 3.

Der unter so schwierigen Mehrheitsverhältnissen zustande gekommene Steuerkompromiß, der seinen Abschluß erst mit der Verkündung des Ausführungsgesetzes zur Zwangsanleihe fand221, brachte dem Reich Mehreinnahmen in Höhe von 60 Milliarden zur Abdeckung seiner Verpflichtungen. Die Reparationskommission hatte jedoch bereits vor Inkrafttreten der Steuergesetze neue Steuererhöhungen gefordert, in ihrer Note an die Reichsregierung vom 21.3.1922 und später bei den Verhandlungen des Reichsfinanzministers in Paris222.

221

Siehe Dok. Nr. 261, P. 1 u. Dok. Nr. 285, Anm. 11.

222

Siehe oben S. IXL.

In Ausführung des Londoner Ultimatums hatte sich die deutsche Regierung bereit erklärt, „ohne Vorbehalt und Verzug die Maßnahmen zur Abrüstung zu Land und zu Wasser und in der Luft auszuführen, die ihr in der Note der alliierten Mächte vom 29.1.1921 modifiziert worden sind“223.

223

Siehe oben S. XXII; zur Note vom 29.1.21 s. RT-Drucks. Nr. 1640 , S. 6 ff., Bd 366.

Die Verhandlungen der Regierung Wirth mit der durch den Versailler Vertrag eingesetzten Interalliierten Militärkontrollkommission führte zentral die Friedensabteilung des Auswärtigen Amtes224. Mit einigen entscheidenden Problemen hatte sich auch das Kabinett auseinanderzusetzen: etwa mit der Frage der Auflösung der bayerischen Einwohnerwehren, mit der sich schon das Kabinett Fehrenbach befaßt hatte, und mit der Frage der geforderten Neuorganisation der Polizei.

224

Siehe dazu im einzelnen M. Salewski, Entwaffnung, S. 40–76.

Bereits in seiner Regierungserklärung vom 1.6.1921 konnte Wirth darauf hinweisen, daß alle Landesregierungen, auch die bayerische, die Entwaffnung und die Auflösung der Einwohnerwehren durchgeführt hatten225. Die Akten[LI] der Reichskanzlei weisen aus, daß Wirth seine Regierungszeit mit persönlichen Initiativen zu diesem Ziel begonnen hatte: Am 11.5.1921 richtete er in einem Privatschreiben an den BVP-Abgeordneten Georg Heim die Bitte um Unterstützung bei der bayerischen Landesregierung226. Heim hatte am Vortag während der Abstimmung über die Annahme des Ultimatums den Standpunkt der bayerischen Regierung vertreten, daß die Einwohnerwehr Bayerns eine rein zivile Organisation des Selbstschutzes sei, die nicht unter die Bestimmungen des Versailler Vertrages falle227. Dennoch führten die von Wirth eingeleiteten Verhandlungen schließlich zum gewünschten Zweck, was der Interalliierten Militärkontrollkommission fristgerecht mitgeteilt werden konnte. Der sich aus dieser Mitteilung ergebende weitere Notenwechsel schloß das Kapitel auf Kabinettsebene ab228.

225

Siehe RT Bd. 349, S. 3710 .

226

Siehe Dok. Nr. 16, Anm. 7.

227

Siehe RT Bd. 349, S. 3650 .

228

Siehe Dok. Nr. 17; Dok. Nr. 18 u. Dok. Nr. 22, Anm. 1 u. 2.

Die persönliche Verwahrung Nollets beim Reichskanzler gegen die bestehende Organisation der Ordnungspolizei hatte dieses Problem auf die höchste Regierungsebene gebracht. Die Ausführung des Kabinettsbeschlusses, die Angelegenheit in mündlichen Verhandlungen weiterzuverfolgen229, wurde durch die ultimative Note Nollets vom 27.2.1922 an den Leiter der Friedensabteilung unterbrochen230. Die vom Kabinett sanktionierte umfangreiche Antwort der deutschen Regierung vom 15.3.1922 stellte, wie Rathenau darlegte, einen Kompromiß dar: die von Nollet monierten Maßnahmen – fortschreitende Verstaatlichung der Polizei, die Zusammenfassung in größere Verbände und eine Kasernierung – wurden zur Verhinderung von Unruhen für notwendig erklärt231.

229

Siehe Dok. Nr. 99, P. 2 u. Anm. 4.

230

Wortlaut s. Dok. Nr. 221, Anm. 1.

231

Siehe Dok. Nr. 222, P. 1.

Nollet stieß mit einer Note vom 23.3.1922 an den Außenminister nach, in der er bis zum 5.4.1922 die Zusicherung der Länder forderte, zum Prinzip der Organisation der Polizei von 1913 zurückzukehren. Die Länder sollten die hierfür notwendigen Ausführungsbestimmungen bis zum 25.5.1922 erlassen. In einer Zwischennote interpretierte das Auswärtige Amt den neu aufgetauchten Begriff „Rückkehr zur Organisation von 1913“ als Erfüllung der im Versailler Vertrag, der Note von Boulogne und den Pariser Beschlüssen festgelegten Verpflichtungen232. Zur endgültigen Antwort, die am 24.5.1922 die von den Ländern getroffenen Maßnahmen mitteilte, mußte Rathenau feststellen, daß den Forderungen der Alliierten nicht entsprochen sei, die Verantwortung hierfür müsse das Kabinett gemeinsam tragen233. Die Antwort Nollets ließ eine dilatorische Weiterverfolgung geraten sein, und damit sind weitere Aufschlüsse aus den Akten der Reichskanzlei zunächst nicht zu erhalten234.

232

Siehe Dok. Nr. 239, Anm. 1 u. 9.

233

Siehe Dok. Nr. 282, insbesondere Anm. 3.

234

Siehe Dok. Nr. 333, P. 1.

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