2.117.1 (wir1p): Frage des Kabinettsrücktritts.

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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Frage des Kabinettsrücktritts.

Abg. Marx: Kabinett sollte nach Eingang der oberschlesischen Entscheidung1 zurücktreten, da alles andere kein genügender Protest wäre. Doch muß Frage der auswärtigen Politik entscheiden2. Wie denkt darüber die Reichsregierung? Abg. Koch: Innerpolitisch liegt kein Grund vor, da das Kabinett keine Schuld an dem Ausgang hat. Trotzdem unseres Erachtens Rücktritt notwendig, da das Kabinett das Verbleiben Oberschlesiens ununterbrochen als Voraussetzung seiner Politik bezeichnet hat3. Abg. Wels: Gegen den Rücktritt. Wir waren uns ja bei Bestellung des Kabinetts im Außenpolitischen Ausschuß vollständig klar, daß wir einen Teil Oberschlesiens verlieren würden, auch der Reichskanzler. Dann ist es doch widersinnig, daß das Kabinett jetzt deshalb zurücktritt: Wir legen großen Wert auf das Verbleiben des Kanzlers, der uns eine Garantie für eine Politik bildet, die für unsere Mitwirkung Voraussetzung ist.[323] Also nur Bereitschaft zum Rücktritt vor dem Parlament. Koch: Marx und ich haben nicht auf Grund formeller Fraktionsbeschlüsse gesprochen.

1

Siehe Dok. Nr. 108, Anm. 1.

2

Die Protokolle der Fraktionssitzungen der Zentrumspartei aus dem Restnachlaß Werner Weismantels verzeichnen eine Sitzung zur Frage des Regierungsrücktritts erst am 19.10.21, ohne daß hier Einzelheiten über die Diskussion mitgeteilt werden. Davor hatte eine Sitzung am 29.9.21 stattgefunden, bei der jedoch nur im Zusammenhang mit der geplanten Verbreiterung der Koalition von Regierungsumbildung oder -neubildung die Rede gewesen war (Kl. Erw. 476/1).

3

Die DDP hatte die Frage des Rücktritts des Kabinetts in einer gemeinsamen Sitzung der Partei mit den Fraktionen des Reichstages und der Landesparlamente, sowie den Mitgliedern der Provinziallandtage, des Staatsrates, des Reichswirtschaftsrates und des Revisionsausschusses erörtert. Dabei hatte sich eine lebhafte Diskussion an dem Beitrag Rathenaus entzündet, der die Frage nach dem Rücktritt offengelassen hatte. Der Vorsitzende Petersen konnte abschließend feststellen, ohne daß es zu einer förmlichen Resolution kam: „die überwiegende Mehrheit dieses Kreises ist nach wie vor der Ansicht, wir dürfen nicht non volumus aussprechen, müssen aber das non possumus stärker unterstreichen unter Hinweis auf Oberschlesien. Die Herren, die non volumus sagen, haben nur eine ganz geringe Unterstützung gefunden. Wir sind ferner darüber einig, daß das Ministerium zurückzutreten hat. Meinungsverschiedenheiten bestehen nur darüber, ob völlige Neubildung der Regierung oder Umbildung der jetzigen erfolgen soll. Redner bittet, keine Resolutionen zu fassen (es liegt je eine Resolution von Dietrich und Oeser vor). Wir sind uns auch darüber einig, daß niemand Veranlassung hat, Wirth zu stürzen. Wirth muß sich vielmehr aus eigener Entscheidung erklären. Endlich haben wir das Vertrauen zu unseren Unterhändlern, daß sie die richtige Entscheidung treffen werden.“ (R 45 III /17 , Bl. 63-88, hier: Bl. 87f).

Exz. Spahn: Ist es mit Rücksicht auf das Ausland möglich und richtig, daß der Reichskanzler bleibt? Die Antwort hierauf muß entscheidend sein. Reichskanzler Dr. Wirth: Verneint ist im Kabinett die Demission, um auf Genf Druck auszuüben4. Entscheidung ruht bis Spruch der Entente vorliegt. Wichtig dafür ist Stellung der Parteien. Soll eine wesentlich andere Politik getrieben werden? Modalitäten natürlich, schon wegen Verschlechterung der Valuta - Dollar heute um 50 Punkte auf 200 gestiegen. Vorbesprechungen Kreditaufnahme im Auslande mit Ausländern haben stattgefunden (Besuch R.5).

4

Siehe Dok. Nr. 111.

5

Gemeint ist wohl Lord Rothschild, der sich auf Initiative des Reichsverbandes der Deutschen Industrie zur Klärung von Fragen der geplanten Kreditaktion in Deutschland aufhielt (siehe Dok. Nr. 115).

Reichsminister Dr. Rathenau: Zustimme, daß Bleiben oder Demission des Kabinetts Frage ausländischer Politik: „Erfüllung soweit als möglich“ war die Formel und muß es bleiben. Dieses Kabinett als ehrlich im Ausland bekannt, Einschränkungen von ihm werden als ehrlich, von seinem Nachfolger dagegen als Politikunterschied aufgefaßt werden. Jeder Schritt in der Politik ist heute immer zugleich Schritt auswärtiger Politik. Dieser Satz müßte über jedem Beratungszimmer stehen. Außenfrage also entscheidend. Wir haben keine Machtmittel ausländischer Politik, sondern nur Protest – stets erfolglos geblieben – oder Rücktrittsandrohung. Sie ist ausgesprochen und muß ausgeführt werden. Auch aus innerpol[itischen] Gründen Parteien nicht homogen, in jeder mehr nationalistische und mehr linke Elemente. Daher schwer, die Parteien in dieser Frage hinter dem Kabinett innerlich geschlossen zusammen gehalten. Aber unsere Politik war richtig, hat uns auch in Oberschlesien genützt. Rücktritt weder „gekränkte Leberwurst“ noch (nach innen) „pater peccavi“, sondern weil ein Versprechen nicht gehalten ist (?). Demission präjudiziert Wiederkehr Wirths nicht. Darüber äußere ich mich nicht. Aber jetzt Demission. – Im Frühjahr nächsten Jahres werden grundsätzliche Beratungen mit der Entente über die Grundlagen des Ultimatums stattfinden.

Abg. Müller: In keiner Frage größere Übereinstimmung in meiner Partei, als in nationalen und internationalen Fragen. „Kabinett der versuchten Vertragserfüllung“ war und bleibt die Parole. Erwarte, daß Demission nicht erfolgt vor Rücksprache mit Parteien. Abg. Marx: Bevor Kabinett niederlegt, muß man wissen, wie das neue Kabinett aussehen soll. – Im Mai–Juli machten wir uns auf Verlust Pless-Rybnik gefaßt, jetzt handelt es sich aber um viel mehr, und das haben wir immer als „unerträglich“ bezeichnet. Rücktritt wird in England sehr ernst genommen. Gerade deshalb ihn vollziehen. Abg. Wels: An Rücktritt bei ungünstiger Entscheidung hat aber damals niemand gedacht.

Diese Besprechungen wurden abgebrochen und nach Hinzukommen der Abgeordneten Dr. Stresemann, Dr. Hugo, Kempkes die Verhandlungen über die Verbreiterung der Koalition fortgesetzt.

Reichskanzler Dr. Wirth teilt mit, daß Industrie in kurzem zum Abschluß[324] der Beratungen über die Kreditaktion6 zu kommen hofft. Vorher auch Notopfergesetz schwer weiter zu fördern. Abg. Becker: Sozialdemokratie hat noch nicht zugestimmt, daß von Sachwerterfassung abgesehen werde. Abg. Müller: Unmöglich, bevor konkrete Mitteilungen gegeben werden, zu sagen, wie weit sie Ersatz bieten. Was geschieht bei niederer Summe? Exz. Spahn: Vorzuziehen m. E. Koalition gleich zum Abschluß zu bringen, weil von Einfluß auf Kreditaktion. Abg. Müller: Sehr hemmend Artikel Mittelmanns in der D.A.Z. mit starken Angriffen, sowie Berliner Flugblatt7. Abg. Stresemann: Beides wird von mir nicht gebilligt, ich habe mich dagegen gewandt, den Artikel in der D.A.Z. aufzunehmen und habe auch die Nat[ional]l[iberale] Cor[respondenz] veranlaßt, mir alle solche Artikel vorher vorzulegen. Aber nicht „suchen“ nach Schärfen. – Erfüllungsfrage sehr vorsichtig zu formulieren. Januarrate muß unbedingt gezahlt werden, da Frankreich noch nichts erhalten hat. Aber schon jetzt aufmerksam machen, daß bei Valutasturz unsere Finanzen überhaupt nicht mehr stabilisiert werden können und wir den Glauben an vollständige Erfüllbarkeit nicht nähren können. Auch Garantiekommission will im Frühling verhandeln, aber jetzt noch keine zu starken Äußerungen bei uns, damit sie die Öffentlichkeit vorbereiten können.

6

Siehe u. a. Dok. Nr. 82 (insbesondere Anm. 6 letzter Teil).

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Nicht ermittelt.

Abg. Koch, Exz. Spahn äußern sich ohne neue Gesichtspunkte.

Reichsminister Schiffer: Wollen die Sozialdemokraten warten, bis die Kreditaktion voll durchgeführt werden kann?

Abg. Müller: Nein, aber für diesen Fall Eventualvereinbarung.

Reichskanzler Dr. Wirth: Von gestern auf heute ist unser Reparationsetat um ca. 12 Milliarden in die Höhe gegangen, weil der Dollar um 50 = ¼ in die Höhe ging. Einen solchen Etat aufzustellen unmöglich. Industrieaktion daher noch wichtiger als zuvor, Erfassung der Sachwerte gibt immer nur Papierwerte. Schreiben der Industrie wird den Herren zugehen.

Abg. Müller: Nach Görlitzer Beschluß8 müssen wir prüfen, ob „besondere Leistungen des Besitzes“ vorliegen.

8

Siehe Dok. Nr. 82, Anm. 9.

Abg. Stresemann: Wir haben Sonnabend Parteitag. Soll ich ihn absagen? Muß ich heute entscheiden.

Reichskanzler Dr. Wirth: Parteitag in dieser Krise gefährlich9.

9

Der Parteitag der DVP findet vom 30. 11. bis 2.12.1921 in Stuttgart statt.

Nächste Sitzung morgen ½ 1 Uhr.

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