1.43.1 (wir2p): Genua. [Tatsächlich: Verhandlungen des Ministers Hermes in Paris.]

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Genua. [Tatsächlich: Verhandlungen des Ministers Hermes in Paris.]

Staatssekretär Schroeder berichtet über die ziffernmäßige Bedeutung des von Minister Hermes übersandten Entwurfs einer Erklärung1.

1

Vgl. dazu auch Dok. Nr. 276. Nach dem Vorschlag von Hermes sollte die Erklärung der dt. Reg. lauten: „Die deutsche Regierung ist entschlossen, sich aufs eifrigste zu bemühen, jedes weitere Anwachsen der schwebenden Schuld zu verhindern. Sie ist jedoch davon überzeugt, daß unter den gegenwärtigen finanziellen Verhältnissen solche Anstrengungen nicht durchgeführt werden können, wenn Deutschland nicht eine ausreichende Unterstützung im Wege einer äußeren Anleihe erhält. Vorausgesetzt, daß diese Unterstützung binnen angemessener Frist verfügbar wird, unternimmt es die deutsche Regierung in der Angelegenheit auf folgender Grundlage vorzugehen: 1. Der Stand der schwebenden Schuld vom 31.3.1922 gilt von jetzt ab als der normale Höchstbetrag. 2. Wenn am 30. Juni 1922 oder am letzten Tage eines der folgenden Monate der Betrag der schwebenden Schuld den normalen Höchstbetrag überschreitet, so werden Schritte getan werden, um sicherzustellen, daß die Überschreitung innerhalb der folgenden drei Monate zurückgezahlt wird, und zwar entweder a) mit Hilfe von Eingängen, welche die Ausgänge in den drei Monaten übersteigen, soweit solche Eingänge verfügbar sein sollten, oder b) durch die Aufnahme von Krediten auf andere Weise als bei der Reichsbank und in einer Form, die nicht die Inflation erhöht. Wenn trotz dieser Schritte der Betrag der schwebenden Schuld am Ende der drei Monate noch den normalen Höchstbetrag überschreitet, wird die deutsche Regierung alsbald Vorschläge für den Ausbau des Steuersystems einbringen und alles tun, um ihre Annahme im Wege der deutschen Gesetzgebung zu erreichen mit dem Ziel, daß noch in dem laufenden Rechnungsjahr oder wenn davon mehr als die Hälfte abgelaufen ist, binnen 6 Monaten ein Betrag beschafft wird, welcher nicht geringer ist als die bereits vorhandene und jede bis zum Ende des Rechnungsjahres voraussichtlich noch weiter entstehende Überschreitung. Das vorstehende Verfahren unterliegt bis auf weiteres folgenden Maßgaben: a) Solange noch keine Eingänge aus auswärtigen Anleihen zur Verfügung stehen, um die von der deutschen Regierung in ausländischen Zahlungsmitteln in Erfüllung von Verpflichtungen auf Grund des Vertrages von Versailles seit dem 1.4.1922 geleisteten Zahlungen zu decken, wird für die Feststellung, ob und inwieweit eine Überschreitung des normalen Höchstbetrages vorliegt, ein Betrag in Höhe des Papiermarkgegenwertes der vorläufig auf diese Weise nicht gedeckten Gesamtheit der genannten Zahlungen dem Stande der schwebenden Schuld vom 31.3.1922 hinzugerechnet. b) Alle Eingänge aus auswärtigen Anleihen sollen zur völligen Rückzahlung dieses zum normalen Höchstbetrag hinzugerechneten Betrages verwandt werden, und zwar mit Vorrang vor allen anderen Verwendungszwecken vorbehaltlich der in ausländischen Zahlungsmitteln auf Grund des Vertrages von Versailles zu begleichenden Verbindlichkeiten und solchen anderen Lasten hinsichtlich derer die Reparationskommission auf Ersuchen der deutschen Regierung ihre Zustimmung im Einzelfalle erteilt.“ (R 43 I /28 , Bl. 338-342, hier: Bl. 339f).

Die schwebende Schuld habe am 31. März 272 Milliarden betragen, darunter Schatzwechsel von 3 Monaten Laufzeit und diskontierte Schatzwechsel im Betrage von etwa 14 Milliarden mit einer Laufzeit von 6–12 Monaten, am 19. Mai habe die schwebende Schuld 285,4 Milliarden betragen.

[813] Ziffer 1 a und b würden eine praktische Bedeutung kaum gewinnen.

Vizepräsident von Glasenapp macht darauf aufmerksam, daß es immer schwerer würde, die Schatzanweisungen zu rediskontieren, wodurch ihre inflationistische Wirkung ständig wachse.

Staatssekretär Schroeder gibt nunmehr folgende Basis für den neu aufzustellenden Etat:

Die Einnahmen würden sich erhöhen um etwa

30 Milliarden

die Zwangsanleihe würde 1922 erbringen

40 Milliarden

dann erhöhe sich die Gesamteinnahme des

ordentlichen Etats auf

186 Milliarden

Die Ausgaben würden dann betragen

99 Milliarden

dazu kämen Gehälter und dergleichen ab 1. Mai mit

24,6 Milliarden

so daß die Gesamtausgaben

123,6 Milliarden

ergeben.

Hiernach blieben 62,5 Milliarden für den Friedensvertragsetat übrig.

Dieser stelle sich folgendermaßen: Setze man die Sachleistungen für 1922 nur mit dem halben Betrage des Moratoriums ein, also mit 725 Millionen Goldmark, so ergäben sich 75 Milliarden.

Auf diese Weise sei ein Gesamtdefizit von nur 13 Milliarden vorhanden, was ein erheblich besseres Bild biete, als der bisher aufgestellte Etat. Trete eine erhebliche Besserung der Mark ein, dann würde das Budget unklar. Zu berücksichtigen sei, daß die Herabsetzung der Besoldungen nicht mit der gleichen Schnelligkeit vorgenommen werden könne, wie die Einnahmen zurückgehen würden.

Man müsse seines Erachtens jetzt den Mut zu einem Programm haben, wie es in der vorgelegten Erklärung enthalten sei. Diese sei nicht mehr als ein Programm.

Reichsarbeitsminister Dr. Brauns weist darauf hin, daß das im Entwurf enthaltene Prinzip „keine Ausgaben ohne Deckung“ nicht immer anwendbar sei.

Wünschenswert sei, daß die Bedingungen einer Anleihe schärfer präzisiert würden. Er könne den Entwurf nicht absolut verwerfen, wenn er sich auch klar sei, daß die Durchführung sozialer Aufgaben von dem, was wir unterschrieben, stärker abhängig sei.

Staatssekretär Dr. Hirsch: Herr Trendelenburg habe berichtet, daß ein Teil der Anleihe vielleicht auch für den inneren Reparationsetat verwendet werden könne. Dann würden sich zunächst weitere Steuern erübrigen. Weiter sei zu berücksichtigen, daß die Anleihe die Mark voraussichtlich stabilisieren würde. Dann würden gewisse Steuerquellen schwächer fließen, wie Ausfuhrabgabe, Kohlensteuer und Einkommensteuer. Endlich würden Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Trotzdem empfehle Trendelenburg wie auch Minister Schmidt und er selber die Annahme der Vorschläge.

ReichsschatzministerBauer: Er halte eine Gesamtlösung des Reparationsproblems noch nicht für möglich. In einer Unterhaltung zwischen Bergmann und Delacroix sei von einer Herabsetzung der Reparationsschuld auf 20 Milliarden gesprochen worden. Das sei aber wegen Frankreichs Haltung zur Zeit noch nicht[814] erreichbar, darum müsse man sich mit einer vorübergehenden Erleichterung begnügen und auf 4 Jahre Ruhe schaffen.

Die Voraussetzungen der internationalen Anleihe könnten wohl eingehender präzisiert werden. Man müsse versuchen zu sagen, daß man eine Verbesserung des Etats nur dann versprechen könne, wenn die äußere Anleihe eine Stabilisierung der Valuta bringen würde, daß ferner eine sprunghafte Besserung der Valuta für einige Zeit möglicherweise zu einer Vermehrung der Inflation führen würde, und daß endlich schwere Unruhen, wie etwa ein Krieg im Osten, eine Besserung des Haushalts unmöglich machen könnten.

Reichsminister der Finanzen Dr. Hermes müsse die Frage beantworten, ob Ergänzungen und Abschwächungen möglich seien.

Im ganzen könne man den Entwurf jedenfalls nicht ablehnen.

Ministerialdirektor Dr. von Brandt: Eine schärfere Fixierung der Bedingungen halte er für kaum möglich, denn der Entwurf sei das Ergebnis schwieriger Verhandlungen, in denen schon alles versucht worden sei. Aber vielleicht könne man solchen Versuch in der Anlage zur Note der Reichsregierung machen, die zur Erledigung aller weiteren Punkte der Ententenote vom 21. März erforderlich werden würde.

Staatssekretär Dr. von Simson: Das Mehr der Inflation nach dem 31. März sei bisher ausgeglichen, da es nur durch Zahlungen in ausländischen Währungen hervorgerufen sei.

Zum Grundsatz „keine Ausgaben ohne Deckung“ bemerkte er, hierin liege nicht die Forderung „ohne vorherige Deckung“. Eine vorübergehende Deckung durch Schatzwechsel sei also möglich.

Der Zweck des Vorgehens sei doch, die Drohung des 31. Mai zu beseitigen2. Wenn man die Bilanz des Entwurfs ziehe, so sehe man, daß die Gegner darin sehr viel stärker von ihren Forderungen zurückwichen als wir von den unsrigen.

2

In der Note der Repko vom 21.3.1922 hatte es geheißen: „Am 31. Mai wird die Kommission prüfen, was von der deutschen Regierung geschehen ist, um den von der Reparationskommission in ihrem heutigen Schreiben erwähnten Bedingungen Genüge zu leisten; nach dieser Prüfung wird die Kommission den provisorischen Aufschub entweder bestätigen oder für unwirksam erklären. Wird er für unwirksam erklärt, so werden die auf Grund der Entscheidung vorläufig gestundeten Summen eingefordert werden können und müssen in den auf die Ungültigkeitserklärung folgenden 14 Tagen bei Vermeidung der Inkraftsetzung des in § 17 der Anlage II des Teiles VIII des Vertrages vorgesehenen Verfahrens gezahlt werden.“ (RT-Drucks. Nr. 4140 , S. 162, Bd. 372).

Vizepräsident von Glasenapp: Wenn die Mittel der Anleihe aufgebraucht seien, könnten von diesem Zeitpunkt an die Bedingungen des Entwurfs ferner nicht eingehalten werden. Havenstein und er seien der Ansicht, daß die Atempause von großem Nutzen sein werde. Später könne man auf eine bessere Atmosphäre hoffen.

Reichsminister Dr. Rathenau: Er wolle bei seiner Erörterung der Lage die innerpolitische Seite sowie die Frage ausschalten, ob in Paris besseres hätte erreicht werden können. Da der deutsche Finanzminister erklärt habe, die Annahme des Abkommens empfehlen zu wollen und es daraufhin Lloyd George[815] vorgelegt worden sei, bestehe es mit Autorität. Wir ständen hier also vor einer vollendeten Tatsache.

Wenn wir nun dieses Abkommen zurückwiesen, dann würde am 31. Mai eine Katastrophe eintreten, denn bei Feststellung eines „manquement volontaire“ würden die Franzosen marschieren, ohne daß die Engländer sie davon zurückhalten könnten. Auf der anderen Seite biete die Abmachung im ganzen entschieden Erleichterungen: Frankreich würde nicht marschieren, und wir bekämen auswärtige Gläubiger, die uns dann am Leben erhalten müßten. Diese neuen Gläubiger seien nicht identisch mit den heutigen, es würden künftig Privatleute sein, größtenteils amerikanische.

Aus diesem Grunde müsse man danach streben, die Abmachung mit der Reparationskommission zu treffen. Wir könnten jetzt keinen innerpolitischen Kampf brauchen, vor allem keine 2 Fronten innerhalb der Regierung. Wünschenswert sei, noch die Force-majeure-Klausel in das Abkommen zu bringen.

Reichsminister Giesberts: Das Abkommen biete eine Rettung auf kurze Sicht, und ein solches Vorgehen habe sich bisher immer als richtig erwiesen.

Reichsminister Bauer: Man müsse feststellen, ob Reichsminister Hermes nicht sofort herkommen könne. Die Parteiführer müßten vor der endgültigen Entscheidung gehört werden. Wenn das Gespräch mit ihnen beginne, müsse allerdings schon eine einheitliche Haltung des Kabinetts gegeben sein, sonst würde die Verwirrung noch größer. Ein leitender Wille müsse vorhanden sein, wenn die Unterhaltung mit den Parteien begänne.

Wenn die Delegation von Genua so ungeheure Erfolge in der Tasche habe, dann könnten wir es ja vielleicht auf eine Ablehnung des Abkommens ankommen lassen.

Reichsminister Dr. Rathenau: Derartige Zusicherungen, wie Minister Bauer sie annehme, hätte die Delegation nicht. Wir müßten das Abkommen deshalb annehmen, weil es erträglicher sei als eine akute Krisis. Durch Fernschreiber müßte sofort festgestellt werden, ob die Reparationskommission besonders stark auf Abschluß dränge. Dann müsse man s. E. mit den Parteiführern sprechen, wie der Reichskanzler dies vorgeschlagen habe, aber vorher müßte, wie Minister Bauer ausgeführt habe, die Ansicht des Kabinetts feststehen.

Es wurde beschlossen, daß Ministerialdirektor von Brandt heute abend mit Minister Hermes durch Fernschreiber sprechen soll3.

3

Siehe dazu Dok. Nr. 279 Anm. 1.

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