1.1.2 (lut1p): Außenpolitik 1925

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 1.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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Außenpolitik 1925

a) Die Lösung des Sicherheitsproblems

Die deutsche Außenpolitik des Jahres 1925 wurde wesentlich bestimmt durch die Sicherheitsfrage. Diese war monatelang Hauptgegenstand ausgedehnter diplomatischer Notenwechsel und langwieriger Beratungen des Reichskabinetts[XXV] und beherrschte von der Mitte des Jahres an, vor allem aber in den Wochen vor und nach der Konferenz von Locarno, weitgehend auch die Szene der deutschen Innenpolitik.

Erhöhte internationale Bedeutung hatte dieser Problemkreis schon im Herbst 1924 gewonnen, als nach der Regelung der Reparationsfrage Frankreich einen erneuten Versuch unternahm, seinen lange verfolgten Sicherheitsanspruch zu verwirklichen. Während der Herbsttagung des Völkerbundes konnte es den Entwurf eines kollektiven Sicherheitssystems, das „Genfer Protokoll für die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten“ zur Annahme bringen, in dem die Ergänzung der Völkerbundssatzung durch einen Friedens- und Garantiepakt sowie ferner die Möglichkeit vorgesehen war, daß vom Völkerbundsrat in bestehenden oder noch zu errichtenden entmilitarisierten Zonen ständige oder zeitweilige Kontrollen auf Verlangen der Nachbarstaaten eingerichtet werden konnten. Im deutschen Auswärtigen Amt wurden verschiedene Teile des Protokolls, vor allem aber seine letztgenannte Bestimmung mit großer Enttäuschung aufgenommen25, hatte doch die Reichsregierung, um die Beendigung der alliierten Militärkontrolle rasch herbeizuführen, gerade eben erst der sogenannten Generalinspektion durch die IMKK zugestimmt, deren Schlußbericht im Dezember 1924 vorliegen sollte. Das Genfer Protokoll trat jedoch bald an Bedeutung gegenüber anderen, für Deutschland nicht minder ernsten Gefahrenmomenten zurück, nachdem mit dem Amtsantritt der konservativen britischen Regierung Baldwin deutlich geworden war, daß seine Ratifizierung durch Großbritannien kaum erwartet werden durfte. Eines dieser neuen Gefahrenmomente lag in der großen Aufgeschlossenheit, die der als frankophil geltende britische Außenminister Chamberlain bei seinem Zusammentreffen mit dem französischen Ministerpräsidenten Herriot Anfang Dezember für den Plan eines separaten französisch-britischen Bündnisvertrages an den Tag legte. Ein anderes konkretisierte sich während der unmittelbar anschließenden Ratstagung in Rom, auf der über die Durchführung des sogenannten Investigationsprotokolls beraten wurde. Nach diesem Beschluß des Völkerbundsrats vom 27. September 1924 sollte der Rat bei Beendigung der Militärkontrolle (gemäß Art. 213 VV) das Recht erhalten, in der entmilitarisierten Zone ständige Überwachungsorgane einzurichten. Frankreich bekundete nun sein großes Interesse an der zügigen Ausgestaltung dieser Bestimmung und konnte durchsetzen, daß die Ständige Beratende Militärkommission des Völkerbundes angewiesen wurde, bis zur nächsten Ratstagung einen Plan für ihre Anwendung im Rheinland[XXVI] vorzulegen. Einen alarmierenden Höhepunkt erreichte diese Entwicklung schließlich mit der Weigerung der alliierten Besatzungsmächte, die am 10. Januar 1925 fällig werdende Räumung der nördlichen Rheinlandzone durchzuführen. Sie begründeten ihre Entscheidung in der Kollektivnote vom 5. Januar mit allgemein gehaltenen Hinweisen auf deutsche Verstöße gegen die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages und sicherten lediglich zu, daß Deutschland eingehende Mitteilungen über die von ihm noch erwarteten Entwaffnungsleistungen erhalten werde, sobald die Kontrollkommission ihren abschließenden Bericht erstattet habe26.

25

Nach dem Urteil von MinDir. Gaus war diese Bestimmung weitgehend genug, um den „Beitritt Deutschlands zum Protokoll unmöglich zu machen“ (Aufzeichnung Gaus vom 22.11.24 im Pol. Arch. des AA, Büro StS, S. Vögen, Bd. 3). Ihre Verwirklichung „würde allen den bekannten Projekten der Neutralisierung des Rheinlandes Tür und Tor“ öffnen (Anm. 9 zu Dok. Nr. 50). Näheres zum Genfer Protokoll und zur dt. Stellungnahme s. bei Spenz, Die diplomatische Vorgeschichte des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund 1924–1926, S. 30 f.; Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik – Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, S. 80.; Megerle, Deutsche Außenpolitik 1925, S. 55 f.

26

Dok. Nr. 50, Anm. 2 u. 3; Dok. Nr. 8, P. 5, dort bes. Anm. 15.

Unter solchen Umständen konnte die Leitung der deutschen auswärtigen Politik ihre abwartende Haltung nicht länger aufrechterhalten. Es war offensichtlich geworden, daß die dem Reich aus einer Wiederbelebung der anglo-französischen Entente, aus dem Investigationsprotokoll und aus der Nichträumung unmittelbar drohenden Belastungen nur abgewendet werden konnten, wenn Deutschland mit eigenen Vorschlägen zur Befriedigung des französischen Sicherheitsverlangens hervortreten würde. Die Reichsregierung schlug daher in einem geheimen Memorandum, das am 20. Januar der britischen und am 9. Februar der französischen Regierung übergeben wurde, den Abschluß eines Vertrages vor, durch den sich die „am Rhein interessierten Mächte“ verpflichten sollten, keinen Krieg gegeneinander zu führen. Sie erklärte sich in dem Memorandum außerdem bereit, einen Garantiepakt über den „gegenwärtigen Besitzstand am Rhein“ und darüber hinaus Schiedsverträge27 insbesondere mit Frankreich, aber auch mit allen anderen interessierten Staaten abzuschließen.

27

Es sollten dies Schiedsverträge nach dt. Muster sein, ähnlich denjenigen, welche Dtld. 1922 mit der Schweiz (RGBl. I, S. 217 ) und 1925 mit Schweden (RGBl. II, S. 863 ) abgeschlossen hatte. Danach hätte sich Dtld. in Rechtskonflikten einem Schiedsverfahren, in politischen Konflikten einem Vergleichsverfahren unterwerfen müssen. Vgl. Dok. Nr. 110, dort bes. Anm. 34.

Die deutschen Anregungen wurden ohne Vorwissen des Kabinetts herausgegeben und gelangten erst zwei Monate später zur vollen Kenntnis der Reichsminister28. Stresemann und Luther sahen sich zu diesem Vorgehen aus dem Bewußtsein veranlaßt, daß von deutschnationaler Seite starker Widerstand gegen die eingeleitete Aktion zu erwarten war; sie mußten überdies befürchten, daß eine allzufrüh einsetzende innerdeutsche Auseinandersetzung sowohl die diplomatische Absicherung ihrer Initiative als auch den Zusammenhalt der locker gefügten Koalition gefährden würde.

28

Dok. Nr. 54.

Dies um so mehr, als der beginnende deutsch-alliierte Gedankenaustausch einige höchst unangenehme Fragenkomplexe in den Vordergrund treten ließ, die weit über den Rahmen des Sicherheitsmemorandums hinausgingen. Besondere Bedeutung gewann hierbei vor allem die Forderung Chamberlains, daß Deutschland bedingungslos und in voller Gleichberechtigung in den Völkerbund eintreten müsse. Von den alliierten Regierungen werde dies als unentbehrliche[XXVII] Voraussetzung eines Sicherheitsvertrages angesehen. Demgegenüber beharrte die deutsche Seite, wenn sie sich auch sofort bereit erklärte, das Sicherheitsproblem in Verbindung mit der Völkerbundsfrage zu lösen, nachdrücklich auf ihren im Dezember 1924 dem Völkerbund notifizierten Vorbehalten gegen Artikel 16 der Bundessatzung. Deutschlands Gleichberechtigung im Völkerbund, betonte z. B. Luther in einer Unterredung mit Botschafter D’Abernon, dürfe keine „Gleichberechtigung der Paragraphen“ sein; man müsse bei der Bemessung seiner Bundespflichten unbedingt seinen begrenzten wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten Rechnung tragen29.

29

Dok. Nr. 43; 54.

Ein weiterer schwieriger Verhandlungsgegenstand betraf das Problem der deutsch-polnischen Grenzen. Chamberlain war sehr daran gelegen, von den Deutschen eine vertragliche Verpflichtung zu erlangen, daß sie den Status quo im Osten unter keinen Umständen durch militärische Mittel ändern würden. Seine durch D’Abernon vorgetragene Anregung, Deutschland solle „die Ostgrenze in gleicher Weise anerkennen wie die Westgrenze“, stieß jedoch in Berlin auf entschiedene Ablehnung. Man war deutscherseits nicht bereit, über den im Sicherheitsmemorandum angebotenen deutsch-polnischen Schiedsvertrag hinauszugehen und hielt beharrlich an dem Standpunkt fest, den Stresemann schon am 7. März vor Pressevertretern dargelegt hatte, nämlich daß die Reichsregierung sich unter Berufung auf Artikel 19 der Völkerbundssatzung die Möglichkeit vorbehalten müsse, eine Änderung der Grenzen im Osten auf friedlichem Wege herbeizuführen30.

30

Dok. Nr. 43; 49.

Inzwischen waren in deutschnationalen Kreisen erste Anzeichen der Beunruhigung über die außenpolitischen Vorgänge sichtbar geworden. Am 17. März sprach Schiele gegenüber Luther und Stresemann von starken Befürchtungen seiner Partei, „daß wir in unserer Anregung reichlich weit gegangen seien“, und wenig später ging die deutschnationale Fraktion bereits zur offenen Attacke über. In einem Schreiben an den Außenminister äußerte sie schwere Bedenken gegen die Verhandlungsführung in der Sicherheitsfrage und erklärte rundheraus, sie würde etwa abzuschließenden Verträgen ihre Zustimmung versagen, falls die Verhandlungen „im gleichen Geiste“ fortgesetzt werden sollten. Luther, der diesen Angriff auch gegen die eigene Person gerichtet sah, berief daraufhin sofort eine Besprechung mit führenden deutschnationalen Abgeordneten ein und konnte dabei eine weitgehende Abschwächung der Vorwürfe erreichen. Denn auf seine Frage, ob sich ihre Kritik auf die sachliche Führung der Außenpolitik beziehe, für die er als Kanzler die volle Verantwortung übernommen habe, oder ob die DNVP die Regierungserklärung nicht länger einhalten wolle, konnten oder wollten die Abgeordneten im wesentlichen nur erwidern, daß bei einigen Mitgliedern ihrer Fraktion eine gewisse Besorgnis über die „geheimnisvolle Weise“, in der die Außenpolitik im Auswärtigen Amt behandelt werde, entstanden sei. Gleichwohl sah sich Luther nun zu einem Entgegenkommen veranlaßt. Er sicherte den Deutschnationalen in einer schriftlichen[XXVIII] Erklärung zu, wichtige außenpolitische Fragen künftig in enger Zusammenarbeit mit den Vertrauensmännern der Koalitionsfraktionen behandeln zu wollen. Und in einer wenig später stattfindenden erneuten Aussprache fügte er dem noch hinzu, er werde die DNVP sofort informieren, falls die alliierte Antwortnote zusätzliche Forderungen enthalten sollte. Bei gleicher Gelegenheit gab Stresemann einen Überblick über den Verlauf der diplomatischen Verhandlungen und erläuterte eingehend den Sinn seiner Verständigungspolitik. Gegenüber deutschnationalen Bedenken wegen des beabsichtigten Eintritts in den Völkerbund und gegen den Einwand, es würden zum ersten Male Bestimmungen des Versailler Vertrages freiwillig anerkannt, machte er insbesondere geltend, daß Deutschland durch den Abschluß eines Sicherheitsvertrages aller Voraussicht nach zunächst die Räumung der Kölner Zone und des Ruhrgebiets erreichen würde. Außerdem würde es eine Position erlangen, aus der es mit größerem Nachdruck auf die Beseitigung des Investigationsplanes und auf die vorzeitige Freigabe der übrigen besetzten Gebiete hinwirken könnte. Schließlich betonte er, daß die Reichsregierung ihre Einstellung zum deutsch-polnischen Grenzproblem unter keinen Umständen ändern werde. Sie sei jetzt „empfangsbereit“ und er glaube, daß die alliierte Antwort auf das Sicherheitsmemorandum in nächster Zeit erfolgen werde31.

31

Dok. Nr. 50; 55; 62.

Bevor es hierzu kommen konnte, gewannen die Probleme der Entwaffnung für einen kurzen Zeitraum vorrangige Bedeutung. In dieser Frage war seit dem im Januar 1925 geführten deutsch-alliierten Notenwechsel, in dem die Reichsregierung scharf gegen die Nichträumung der nördlichen Rheinlandzone protestiert und die Besatzungsmächte zu rascher und eingehender Begründung ihres Vorgehens aufgefordert hatte, ein völliger Stillstand eingetreten. Zwar war es dem Reichswehrministerium Anfang März gelungen, wesentliche Einzelheiten des Kontrollberichts der IMKK auf inoffiziellem Wege in Erfahrung zu bringen, aber es blieb weiterhin ungewiß, welche der zahlreichen Feststellungen dieses Berichts die Alliierten zur Begründung der Nichträumung heranziehen und in die angekündigte, jedoch immer wieder hinausgezögerte Entwaffnungsnote aufnehmen würden. Diese Ungewißheit stellte die Reichsregierung vor eine schwere Belastungsprobe, zumal in der Auslandspresse seit Mitte Februar Gerüchte über den Inhalt des Kontrollberichts verbreitet und Vermutungen geäußert wurden, daß Deutschland in erheblichem Maße gegen die Entwaffnungsbestimmungen des Friedensvertrages verstoßen, ja daß es geheime Kriegsvorbereitungen unternommen habe. Das Auswärtige Amt neigte gegenüber diesen Vorgängen anfänglich zu starker Zurückhaltung, weil es eine Störung der laufenden britisch-französischen Sicherheitsberatungen vermeiden wollte32. Nachdem aber Mitte Mai 1925 noch immer keine alliierte Stellungnahme in der Entwaffnungsfrage eingetroffen war, sprach sich Stresemann erstmals in scharfer Form gegen ihre weitere Verschleppung aus. Vor dem Reichstag betonte er das umfassende Ausmaß deutscher Abrüstungsleistungen[XXIX] und gab der Überzeugung Ausdruck, daß die verbleibenden offenen Fragen lediglich den Charakter von „Restpunkten“ haben könnten, deren Bereinigung keine größeren Schwierigkeiten mehr bereiten würde33.

32

Dok. Nr. 8, P. 5; 39; 75.

33

RT-Bd. 385, S. 1878 .

Die optimistischen Erwartungen des Außenministers fanden in der am 4. Juni endlich übergebenen Entwaffnungsnote freilich keine Bestätigung. Denn die Note enthielt nicht nur eine überraschend umfangreiche Liste deutscher Verfehlungen – großenteils „kleinlich und kläglich“ anmutende Beanstandungen, wie Stresemann im Kabinett feststellte –, sondern ließ auf den ersten Blick erkennen, daß eine Reihe ihrer schwerwiegendsten Forderungen (Rüstung, Heeresorganisation, Polizei, Truppenausbildung) aus den Bestimmungen des Friedensvertrages nicht überzeugend zu begründen war. Positiv erschien andererseits die alliierte Zusicherung, daß die Freigabe der nördlichen Rheinlandzone und die Zurückziehung der Kontrollkommission sofort nach Behebung sämtlicher Anstände erfolgen werde. Die Reichsregierung stand damit vor der schwierigen Frage, ob sie im Interesse des Rheinlandes auf der ganzen Linie nachgeben oder sich dahin entscheiden sollte, der Gegenseite nur die Bereinigung der friedensvertraglich eindeutig gerechtfertigten Beanstandungen in Aussicht zu stellen. Auf Vorschlag Stresemanns, der die Auffassung vertrat, daß die Note „zweifellos als Grundlage weiterer Verhandlungen“ und nicht als Ultimatum anzusehen sei, entschied sie sich ohne langes Zögern für die zweite Alternative und erteilte einer Anfang Juli gebildeten interministeriellen Expertenkommission den Auftrag, mit der IMKK in Verhandlungen zur Klärung der bestehenden Streitfälle einzutreten34.

34

Dok. Nr. 96; 99; 101; 110; 112, P. 4; 114; 134; 152; 166.

Während die Entwaffnungsberatungen der Reichsregierung noch im Gange waren, wurde am 16. Juni auch die langerwartete französische Stellungnahme zum deutschen Februarmemorandum in Berlin übergeben. Frankreich erklärte sich grundsätzlich zu Verhandlungen über ein Sicherheitsabkommen bereit, unter der Voraussetzung allerdings, daß Deutschland bedingungslos in den Völkerbund eintreten und dem Abschluß von restlosen Schiedsgerichtsobligatorien zustimmen würde. Garanten der Schiedsabkommen im Westen sollten die Rheinpaktstaaten sein, im Osten dagegen – und hierin kulminierte die französische Note – sollten alle diejenigen Mächte, welche Signatare des Versailler Vertrages sowie des Rheinpakts waren, die Garantie der Schiedsverträge übernehmen können.

Das Bekanntwerden der französischen Note, die zusammen mit dem Sicherheitsmemorandum am 19. Juni veröffentlicht wurde, führte in der Oppositionspresse zu heftigen Auseinandersetzungen um das Für und Wider der deutschen Initiative und war für einen Teil der deutschnationalen Parteiorgane das Signal zu überaus scharfen Angriffen gegen Stresemann und seine Verständigungspolitik35. Mit besonderer Härte prallten die Gegensätze aber vor allem im Kabinett zusammen, das am 24. Juni die Beratung der französischen Anregungen[XXX] aufnahm. Nachdem der Außenminister eingangs die Fortsetzung des deutsch-alliierten Gedankenaustauschs dringend empfohlen und die Absendung einer rückfragenden Zwischennote vorgeschlagen hatte, in der unter anderem starke Bedenken gegen das französische Garantiesystem zum Ausdruck gebracht werden sollten, sprachen sich Frenken, v. Seeckt, Neuhaus, v. Kanitz und mit gewissen Einschränkungen auch Schiele gegen die weitere Aufrechterhaltung der Grundgedanken des Sicherheitsmemorandums aus und erklärten, eine erneute freiwillige Bestätigung der in Versailles erzwungenen Westgrenzen nicht mitverantworten zu können. Stresemann weigerte sich jedoch entschieden, die internationalen Verhandlungen, wie dies von Frenken vorgeschlagen wurde, in der Weise fortzuführen, daß sie bald zum Scheitern kommen müßten. Für den Fall eines derartigen Kabinettsbeschlusses kündigte er seinen Rücktritt an. Zunächst gab ihm nur Verkehrsminister Krohne uneingeschränkte Rückendeckung. Erst als schließlich auch der Kanzler ihm energisch sekundierte und eine Politik des Zerschlagens der Sicherheitsinitiative und der mit ihr gewonnenen internationalen Bewegungsfreiheit mit gleicher Entschiedenheit ablehnte, lenkte die Mehrheit der Minister zögernd ein. Es konnte in einem Kommuniqué bekanntgegeben werden, daß die Reichsregierung ihre Bemühungen um das Zustandekommen des Sicherheitsvertrages unvermindert fortsetzen werde36.

35

Dok. Nr. 116, Anm. 15.

36

Dok. Nr. 110; 111, P. 2.

Auf die schweren koalitionspolitischen Spannungen, welche durch den Wortlaut des Kommuniqués in den unmittelbar folgenden Tagen ausgelöst wurden, kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Sie haben ebensowenig wie die nachfolgenden Auseinandersetzungen im Auswärtigen Ausschuß und die daraufhin einsetzende Vertrauenskrise zwischen Luther und Stresemann einen erwähnenswerten Niederschlag in den Akten der Reichskanzlei gefunden. Kernpunkt dieser Vertrauenskrise war die Frage der Mitverantwortung des Kanzlers für die deutsche Sicherheitsinitiative im Januar 1925 und der Grad seiner Informiertheit über die ersten Phasen der sie begleitenden diplomatischen Aktion. Im Gegensatz zu Stresemann, der im Auswärtigen Ausschuß auf die rechtzeitige und ausreichende Unterrichtung Luthers hingewiesen hatte, glaubte sich dieser nicht daran erinnern zu können, vor Mitte Februar Einblick in die Akten des Auswärtigen Amts genommen und bis zu diesem Zeitpunkt eine umfassende Kenntnis der neuen Außenpolitik erhalten zu haben. Die Auseinandersetzung wurde mühsam beigelegt, als beide Seiten übereinkamen, Aufzeichnungen über den Ablauf der umstrittenen Ereignisse auszutauschen – ein Vorgang, den Luther mit wenigen Worten und in betont beiläufiger Weise dem Kabinett zur Kenntnis gab37.

37

Dok. Nr. 116.

In den letzten Junitagen wurde im Kabinett zum ersten Male auch das Problem der deutsch-russischen Beziehungen eingehend beraten38. Wie Stresemann jetzt bekanntgab, hatte die sowjetische Regierung im Dezember 1924 den[XXXI] Abschluß eines geheimen Neutralitätsvertrages vorgeschlagen, der beide Seiten – Deutschland und Rußland – verpflichten sollte, an keiner gegen den anderen Teil gerichteten militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verbindung teilzunehmen. Sie hatte sich hierbei, so wurde im Auswärtigen Amt vermutet, in erster Linie von dem Bestreben leiten lassen, einer deutschen Westorientierung vorzubeugen und engere oder einseitige Bindungen des Reiches nach Osten herbeizuführen. Schwere Bedenken bestanden in Moskau vor allem gegen den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund, weil dieser nach sowjetischer Überzeugung Deutschland in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den antisowjetischen Großmächten Westeuropas führen werde. Das Auswärtige Amt hatte sich gegenüber der sowjetischen Anregung bisher dilatorisch verhalten und die geäußerten Besorgnisse unter anderem mit dem Hinweis auf den deutschen Rüstungsstand, der eine machtpolitische Unterstützung antisowjetischer Staaten völlig ausgeschlossen erscheinen lasse, zu beschwichtigen versucht. Es hatte ferner betont, daß Deutschland, wenn es erst dem Völkerbundsrat angehörte, rußlandfeindlichen Tendenzen mit größerer Wirkung entgegentreten und durch sein Veto gegen Rußland gerichtete Sanktionsbeschlüsse verhindern könne. Die sowjetische Regierung war von dieser Argumentation allerdings wenig beeindruckt und ließ durch Litwinow, der Mitte Juni mit Stresemann in Berlin zusammentraf, ihre Bedenken nochmals nachdrücklich zur Geltung bringen und außerdem andeuten, sie werde sich im Falle des deutschen Völkerbundseintritts außenpolitisch weitgehend umorientieren und gegebenenfalls die Bereinigung des sowjetisch-polnischen Verhältnisses in Erwägung ziehen. Es war damit eine Situation eingetreten, in der die Konkretisierung der Verhandlungen nicht länger hinausgeschoben werden durfte. Stresemann wies daher den Botschafter in Moskau an, der sowjetischen Regierung für den (im letzten Verhandlungsstadium befindlichen) deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrag eine Präambel vorzuschlagen, in der beide Seiten zum Ausdruck bringen sollten, daß sie entschlossen seien, die freundschaftlichen Beziehungen im Geiste des Rapallovertrages weiter zu pflegen und in gegenseitiger Verständigung für die Erhaltung des Friedens in Europa einzutreten. Eine solche Vereinbarung, betonte Stresemann im Kabinett, das mit seinem Vorgehen einverstanden war, werde im Augenblick des deutschen Eintritts in den Völkerbund wie eine amtliche Erklärung wirken, daß Deutschland als Mitglied des Bundes unter keinen Umständen „an den Rockschößen der Entente hängen“ wolle. Dagegen müsse er eine überwiegend östliche Orientierung des Reiches – etwa durch Annahme des sowjetischen Paktangebots – entschieden ablehnen, denn sie werde die Verwirklichung des vordringlichsten deutschen Ziels, die Befreiung der Kölner Zone, mit Sicherheit gefährden. Man müsse daher sowohl nach Westen wie nach Osten gute Beziehungen zu erreichen suchen39.

38

Vorangegangene kurze Erwähnungen dieses Problems s. in Dok. Nr. 54; 62.

39

Dok. Nr. 110; 111, P. 3.

Am 18. Juli wurde die deutsche Stellungnahme zur französischen Sicherheitsnote nach längeren, nun überwiegend sachlich geführten Kabinettsberatungen[XXXII] fertiggestellt und zwei Tage später in Paris übergeben40. Sie sprach die Erwartung aus, daß der Abschluß des Sicherheitsvertrages nicht ohne Rückwirkung auf die alliierte Besatzungspolitik im Rheinland bleiben werde, wandte sich in zurückhaltender, jedoch bestimmter Form gegen die französische Konstruktion der Schiedsverträge und bestand auf weitgehender Berücksichtigung der deutschen Vorbehalte gegen Artikel 16 der Satzung des Völkerbundes. Die Note fand in Paris ein überraschend günstiges Echo. Frankreich erklärte in seiner am 24. August übermittelten Antwortnote, in der es seinen Standpunkt zwar unverändert beibehielt, die deutschen Gegengesichtspunkte aber nicht mehr ausdrücklich ablehnte, daß es den Notenwechsel nunmehr beenden und in konkrete Vertragsverhandlungen eintreten wolle. Zur Vorbereitung dieser Verhandlungen wünschten Briand und Chamberlain eine Konferenz der juristischen Sachverständigen abzuhalten, und es waren in ihrem Auftrag schon zu Beginn des Monats hierzu entsprechende, zunächst allerdings erfolglose Sondierungen in Berlin unternommen worden. Als aber Ende August von alliierter Seite ausdrücklich versichert wurde, daß bei dieser Zusammenkunft nur ein unverbindlicher Meinungsaustausch über die textliche Gestaltung des Sicherheitsvertrages stattfinden werde, ließ das Kabinett seine Bedenken fallen und stimmte der Entsendung von Ministerialdirektor Gaus nach London zu41.

40

Dok. Nr. 123; 125; 127; 128; 129, P. 1.

41

Dok. Nr. 140; 149; 150, P. 2; 153.

Nachdem der deutsche Sachverständige Mitte September über das Ergebnis der Londoner Verhandlungen in Berlin berichtet hatte42 und fast gleichzeitig die alliierte Einladung zur Außenministerkonferenz eingetroffen war, konnte die Reichsregierung die abschließende Beratung des deutschen Konferenzprogramms aufnehmen. Sie sah sich dabei sogleich einem umfangreichen Katalog deutschnationaler Forderungen gegenüber, der, wie Luther ihn einmal erregt kommentierte, teils aus innenpolitisch-taktischen Erwägungen, teils aus einer scharfen, gerade jetzt wieder durchbrechenden Aversion gegen Stresemann erwachsen war. Einen Keil zwischen Stresemann und Luther zu treiben, bemühte sich offenbar Schiele, wenn er forderte, daß nur der Außenminister und nicht auch Reichskanzler Luther nach Locarno zu entsenden sei. Der deutschnationale Vertrauensmann begründete seine Forderung unter anderem mit dem Hinweis, daß die Beteiligung des Kanzlers zu unerwünscht weitgehenden Bindungen führen und, sollte es daraufhin zu innenpolitischen Schwierigkeiten kommen, eine Kanzlerkrise unvermeidlich machen könnte. Im anderen Falle aber, so meinte er, würde man nur das Scheitern des Außenministers riskieren und der Kanzler, dessen Person „zu wertvoll“ sei, „als daß sie für diese Zwecke verbraucht werden dürfe“, würde nicht unmittelbar betroffen sein. Stresemann und Luther lehnten diesen Gedankengang jedoch entschieden ab; letzterer, indem er die Verantwortung des Kanzlers besonders betonte und hinzufügte, daß die Reichsregierung sich unter keinen Umständen dem[XXXIII] Vorwurf aussetzen dürfe, durch eine unzureichende Besetzung der deutschen Delegation ungünstige Konferenzergebnisse verschuldet zu haben. Dem hatte der Innenminister schließlich nichts weiter entgegenzusetzen und gab daher in diesem Punkte nach43.

42

Dok. Nr. 157, Anm. 1.

43

Dok. Nr. 158; 160; zur Vorgeschichte vgl. auch Dok. Nr. 140; 161, Anm. 17.

Um so nachdrücklicher beharrte Schiele auf einer zweiten deutschnationalen Forderung, die dahin ging, daß die Reichsregierung bei Beantwortung der Einladungsnote in feierlicher und hochoffizieller Form gegen die alliierte These von der Alleinschuld Deutschlands am Kriege protestieren sollte. Im Kabinett wurden hiergegen sofort lebhafte Bedenken geäußert. Vor allem Stresemann und Schubert, die den deutschen Standpunkt in der Kriegsschuldfrage nur durch mündliche Vorstellungen bei den alliierten Botschaftern zur Geltung bringen wollten, warnten davor, die Gegenseite durch eine derart provozierende Note zu schroffen Reaktionen herauszufordern. Im Interesse des Koalitionsbündnisses sahen sie sich aber zum Einlenken veranlaßt, nachdem die Unnachgiebigkeit des Innenministers im Verlauf der schwierigen Beratungen hinreichend deutlich geworden war. So wurde vereinbart, der deutschen Antwortnote ein Memorandum beizugeben, in dem die Kriegsschuldthese unter ausführlicher Bezugnahme auf frühere diesbezügliche Erklärungen der Reichsregierung entschieden abgelehnt werden sollte. Dagegen konnte Schiele die am weitesten gehende deutschnationale Forderung, nämlich daß die vereinbarte Stellungnahme in der Kriegsschuldfrage unverzüglich auch den anderen Signatarstaaten des Versailler Vertrages notifizert werden müsse, schließlich nicht durchsetzen. Doch wurde ein solcher Schritt der Reichsregierung für den Zeitpunkt der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund in Aussicht genommen44.

44

Dok. Nr. 158; 159; 160; 162; 164; 168; 171.

Fast alle übrigen deutschnationalen Forderungen fanden, da sie den Absichten Stresemanns und Luthers entsprachen, ohne Schwierigkeiten Eingang in die Richtlinien für die Konferenzdelegation, die am 2. Oktober endgültig formuliert und gebilligt wurden. Die wichtgsten Punkte betrafen: Änderung der Präambel des auf der Londoner Juristenkonferenz erörterten britisch-französischen Sicherheitspaktentwurfs, und zwar dahingehend, daß die Garantie der Westgrenzen nur den Verzicht auf Angriffskrieg und nicht auf deutsches Land (d. h. Elsaß-Lothringen und Eupen-Malmedy) bedeuten würde; Ablehnung der französischen Garantie der östlichen Schiedsverträge; Interpretation des Artikels 16 der Völkerbundssatzung im Sinne der deutschen Vorbehalte; Bereinigung des Investigationsproblems; Revision des Militärregimes im besetzen Rheingebiet; Abkürzung der Besetzungsfristen für die zweite und dritte Rheinlandzone. Nicht voll berücksichtigt wurde bei den letzten Besprechungen lediglich der Vorschlag Schieles, daß die Räumungs- und Entwaffnungsfragen „gleich in der Annahme der Einladung abschließend“ behandelt werden sollten. Der Innenminister hatte hier dem Einwand Stresemanns, es würde doch völlig genügen, wenn die Reichsregierung vor Unterzeichnung des Sicherheitsvertrages die Räumung der Kölner Zone verbindlich[XXXIV] zugesichert erhielte, widerspruchslos nachgegeben, und so wurde die Delegation beauftragt, die Bereinigung dieses Fragenkomplexes bis zur Schlußkonferenz anzustreben45.

45

Dok. Nr. 158; 161; 166; 170.

Auf der Konferenz von Locarno konnten Stresemann und Luther das deutsche Verhandlungsziel in einigen wesentlichen Punkten, vor allem hinsichtlich der Gestaltung des Westpakts, der Schiedsverträge und der Auslegung des Artikels 16, zufriedenstellend verwirklichen46. Dagegen führten ihre Bemühungen in den sogenannten „Nebenfragen“ teils zu vorsichtig-unbestimmt formulierten Zusicherungen der Gegenseite, teils zum völligen Mißerfolg. So war in besonderem Maße die Behandlung der Besetzungsfristenfrage ohne positives Ergebnis. Es gelang trotz wiederholter Versuche nicht, eine konkrete Meinungsäußerung der Verhandlungspartner herbeizuführen47. Kaum weniger enttäuschend verliefen die Beratungen über das Investigationsprotokoll und seine Durchführungsbestimmungen, deren Außerkraftsetzung Luther eingangs als wichtige Vorbedingung des Eintritts in den Völkerbund bezeichnet hatte. Briand und Chamberlain lehnten die Erörterung dieser Frage zunächst entschieden ab und waren später nur bereit, das im Falle eines Untersuchungsbegehrens einzuleitende Verfahren näher darzulegen. Es werde sich hierbei, so erklärten sie, um gezielte Einzelaktionen handeln, wobei der Völkerbundsrat, ehe die Militärkommission des Völkerbundes angewiesen werden könne, die Kontrollen an den bezeichneten Orten vorzunehmen, jeweils sorgfältig prüfen werde, ob eine Untersuchung überhaupt gerechtfertigt sei. Der auf deutscher Seite am meisten gefürchtete Artikel 5 des Investigationsprotokolls – er enthielt Bestimmungen über die Einrichtung ständiger Kontrollorgane in der entmilitarisierten Zone – sei dagegen noch keineswegs endgültig beschlossen und werde wahrscheinlich niemals in Kraft gesetzt48.

46

Dok. Nr. 172; 173; 175; 179; 181; 182; 186; 188; 190; 193; 198; 199.

47

Dok. Nr. 178; 184, Anm. 1; Dok. Nr. 195 b; 196.

48

Dok. Nr. 184, Anm. 1; Dok. Nr. 195 a; 195 b.

Ein weiterer Gegenstand schwieriger und im Ergebnis wenig befriedigender Verhandlungen war das Problem der Rückwirkung des Sicherheitsvertrages auf die Verhältnisse im besetzten Rheingebiet. Die westlichen Außenminister zeigten sich bei diesen Beratungen zwar überraschend aufgeschlossen und Briand versicherte mit großem Nachdruck, er werde nach Beendigung der Konferenz für eine „wesentliche Änderung im Besatzungsregime“ eintreten, doch waren sie unter keinen Umständen bereit, schon in Locarno hierzu verbindliche Erklärungen abzugeben. Dem beharrlichen Drängen der Deutschen, die unter Hinweis auf die innere Lage ihres Landes fest umrissene Konzessionen verlangten, gaben sie später nur insoweit nach, als sie der Aufnahme einer entgegenkommenden, aber höchst allgemein gehaltenen Formulierung in das Schlußprotokoll zustimmten und ferner anregten, zur Erledigung dieser Fragen alsbald diplomatische Verhandlungen aufzunehmen49.

49

Dok. Nr. 174; 184, Anm. 1; Dok. Nr. 190; 194; 195 a; 195 b; 199.

[XXXV] So war es von den „Nebenfragen“ nur das Räumungs- und Entwaffnungsproblem, bei dessen Behandlung die deutsche Delegation ein annehmbares, wenngleich den Richtlinien nicht völlig entsprechendes Ergebnis erreichen konnte. Freilich mußte auch hier erheblicher Widerstand überwunden werden, ehe Briand und Chamberlain, die es rundweg ablehnten, sich auf einen genauen Termin der Räumung festlegen zu lassen, schließlich mit folgendem weiteren Vorgehen einverstanden waren: Deutschland wird die alliierte Botschafterkonferenz eingehend über den Stand seiner Entwaffnungsarbeiten in Kenntnis setzen, woraufhin die Botschafterkonferenz ein bestimmtes Datum für die Räumung der Kölner Zone bekanntgeben und die feste Erwartung aussprechen wird, daß Deutschland alle bis dahin nicht bereinigten Forderungen der alliierten Entwaffnungsnote in kürzester Frist erfüllen werde50.

50

Dok. Nr. 184; 191; 195 a; 195 b.

Über den Konferenzverlauf wurden Reichsregierung und Reichspräsident durch zahlreiche Telegramme der Delegation sowie durch Staatssekretär Kempner, der am 13. Oktober von Locarno zur Berichterstattung nach Berlin gekommen war, ausführlich unterrichtet51. Als das Gesamtergebnis der Verhandlungen am letzten Konferenztage voll zu übersehen war, setzte sich im Restkabinett – insbesondere wegen der fortbestehenden Ungewißheit in den Rheinlandfragen – die Überzeugung durch, daß von einer Paraphierung des Vertragswerks dringend abzuraten und nur die weniger bindende Protokollierung zu empfehlen sei. Stresemann und Luther trugen gleichwohl keine Bedenken, die ausgehandelten Texte in der Schlußsitzung am 16. Oktober „ne varietur“ zu paraphieren. Nach Auffassung des Kanzlers lag hierin, wie er noch am gleichen Tage an den Reichspräsidenten schrieb, die allein gegebene Möglichkeit, die in Locarno „erreichten erheblichen Vorteile für Deutschland zu sichern“52.

51

Dok. Nr. 180; 183, dort bes. Anm. 1; 184; 187; 188; 190; 192.

52

Dok. Nr. 197; 199; 200.

Von Locarno nach Berlin zurückgekehrt, war es daher die vordringlichste Aufgabe der beiden Delegierten, das Kabinett von der Unumgänglichkeit ihres Vorgehens zu überzeugen. Die Aussichten hierfür erschienen in den unmittelbar anschließenden Beratungen, die unter Vorsitz des Reichspräsidenten abgehalten wurden, zunächst nicht ungünstig. Denn nach ausführlicher Berichterstattung des Außenministers, der im Hinblick auf die kommenden Entwicklungen im besetzten Rheinland großen Optimismus äußerte und besonders hervorhob, daß ein Rechtsverzicht auf ehemals deutsche Gebiete im Sicherheitsabkommen nicht enthalten sei, war nur ein Teil der Minister und offenbar auch der Reichspräsident geneigt, der Paraphierung grundsätzlich zuzustimmen. Innenminister Schiele jedoch, der nur die „allgemeine Billigung der Arbeit der Delegation im Sinne der Richtlinen“ aussprechen wollte, warnte davor, eine solche Erklärung herauszugeben, ehe nicht deutlich erkennbar geworden sei, daß der „Geist von Locarno“ in den besetzten Gebieten zur vollen Wirkung gelangen werde. So wurde nach weiteren schwierigen Verhandlungen am 22. Oktober einstimmig beschlossen, das Vertragswerk „zu[XXXVI] einem Abschluß zu bringen, der den Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes gerecht wird“53.

53

Dok. Nr. 201; 203.

Der Zusammenhalt des Regierungsbündnisses, der damit weiterhin gesichert schien, wurde indessen wenige Stunden später schon aufs äußerste in Frage gestellt, als die deutschnationale Fraktionsführung im Auswärtigen Ausschuß das Ergebnis von Locarno scharf kritisierte und mit großem Nachdruck erklärte, daß sie keinem Vertrage zustimmen werde, der als „Verzicht auf deutsches Land und Volk“ gedeutet werden könnte. Angesichts dieser kritischen Lage, die sich am folgenden Tage wegen der ablehnenden Haltung der in Berlin versammelten deutschnationalen Landesdelegierten zusehends verschärfte, unternahmen Luther und Schiele sofort einen gemeinsamen Versuch, auf die Deutschnationalen mäßigend einzuwirken. Der Kanzler übergab dem Innenminister eine eilends formulierte Stellungnahme der Reichsregierung, in der versichert wurde, daß durch Artikel 1 des Locarnovertrages nur auf Krieg und ähnliche Handlungen zur Änderung der westlichen Grenzen verzichtet, in keiner Weise aber das freie Selbstbestimmungsrecht noch irgend eine andere Möglichkeit der friedlichen Verständigung über Grenzveränderungen ausgeschlossen worden sei. Da diese Erklärung jedoch weitgehend vertraulich behandelt und nicht den Vertragsmächten notifiziert werden sollte, wie dies von deutschnationaler Seite gewünscht worden war, blieben die Bemühungen Schieles ohne Erfolg. Noch am gleichen Tage lehnte die Landesdelegiertenkonferenz den Vertrag von Locarno entschieden ab und am 25. Oktober beschloß die deutschnationale Reichstagsfraktion den sofortigen Austritt aus der Regierungskoalition54.

54

Dok. Nr. 203, Anm. 1; 204; 205; 207.

Nach dem Ausscheiden der Minister Schiele, v. Schlieben und Neuhaus sprach sich das Rumpfkabinett, einer dringenden Empfehlung Luthers folgend, einhellig gegen den Gedanken der Reichstagsauflösung und für die Fortführung der Regierungsgeschäfte auf der verbleibenden parlamentarischen Basis aus. Die Minister waren der festen Überzeugung, daß es nur auf diesem Wege gelingen werde, den Vertrag von Locarno, dessen förmliche Unterzeichnung am 1. Dezember in London erfolgen sollte, rechtzeitig dem Reichstag zur Beschlußfassung vorzulegen. Der Reichspräsident stimmte diesem Vorgehen und außerdem der Anregung des Kanzlers, die freigewordenen Ministerämter durch Mitglieder des Rumpfkabinetts kommissarisch verwalten zu lassen, ohne Zögern zu. Bereitwilliges Entgegenkommen konnte Luther sodann auch bei den großen Parteien des Reichstages feststellen – selbst die deutschnationalen Führer erklärten nun, sie würden, „wenn das Kabinett die Dinge bis zur Entwicklungsreife zu bringen gedächte“, vorerst Zurückhaltung üben und hätten nicht die Absicht, im Falle der vorzeitigen Einberufung des Reichstages ein Mißtrauensvotum einzubringen. Bei gleicher Gelegenheit versicherte Luther ein weiteres Mal, daß er zurücktreten würde, falls die alliierten Maßnahmen in der „Rückwirkungsfrage“ sich als ungenügend erweisen sollten55.

55

Dok. Nr. 208; 209, P. 1.

[XXXVII] In der Zwischenzeit hatte in Paris eine Reihe diplomatischer Erörterungen über die Bereinigung der Rheinlandfragen stattgefunden, wobei die französische Bereitschaft zu rascher und tiefgreifender Umgestaltung des alliierten Okkupationsregimes deutlich zum Ausdruck gekommen war. Der deutsche Botschafter konnte in Verhandlungen mit Briand und Tirard die bestimmte Zusage erreichen, daß Frankreich die Besatzungstruppen reduzieren, das Delegiertensystem aufheben, die Militärgerichtsbarkeit einschränken, umfassende Gnadenmaßnahmen einleiten und das Ordonnanzenwesen weitgehend abbauen werde.

Im Kabinett fanden die französischen Ankündigungen, von der Botschafterkonferenz amtlich notifiziert erst Mitte November 1925, eine überwiegend günstige Aufnahme. Zwar wurde zunächst allgemein bedauert, daß es wiederum nicht gelunden war, eine entgegenkommende französische Äußerung in der Besetzungsfristenfrage herbeizuführen. Zwar wurde als unbefriedigend empfunden, daß die Note bezüglich der Truppenreduzierung in der 2. und 3. Rheinlandzone ausweichend von „annähernd normalen Ziffern“ sprach und nicht erkennen ließ, ob man dem deutschen Verlangen, die Besatzungstruppen (90 000 Mann) auf den Umfang der deutschen Vorkriegsgarnisonen (45 000 Mann) abzubauen, entsprechen wollte oder nicht. Der Gedanke aber, das Vertragswerk hieran scheitern zu lassen, wurde in keiner Verhandlungsphase ernsthaft erwogen, zumal von vornherein jeder Zweifel ausgeschlossen schien, daß die mitgeteilten Rückwirkungen zu großen Erleichterungen im besetzten Rheinland führen würden. Übereinstimmung bestand freilich auch darin, daß dies alles nur als Beginn einer langen Entwicklung anzusehen sei, in der die Reichsregierung bemüht bleiben müsse, den in Locarno begonnenen Prozeß der „Unterhöhlung des Versailler Vertrages“ mit allen Kräften fortzusetzen56.

56

Dok. Nr. 210; 223; 224. Zur Stellungnahme des RMbesGeb. s. Dok. Nr. 211; 212; 237.

Als unentbehrliche Voraussetzung einer endgültig-positiven Stellungnahme zum Vertragswerk galt aber zweitens, daß es gelingen werde, die Entwaffnungs- und Räumungsfrage in zufriedenstellender Weise zu regeln. Wie in Locarno vereinbart, hatte die Reichsregierung die alliierten Mächte kurz nach Beendigung der Konferenz umfassend über den Stand der deutschen Entwaffnungsarbeiten unterrichtet. In ihrer Note waren neben zahlreichen bereits erfüllten oder in kürzester Frist erfüllbaren Forderungen der Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925 verschiedene Punkte aufgeführt (u. a. Kasernierung der Polizei, Stellung des Chefs der Heeresleitung, Verbot halbmilitärischer Verbände), die, wie es hieß, wegen technischer und sachlicher Schwierigkeiten und infolge der Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen deutschen Ländern noch keine entscheidende Förderung erfahren hätten. Sie bildeten in den unmittelbar folgenden Wochen, nachdem die Botschafterkonferenz präzisere deutsche Vorschläge gefordert hatte, den Hauptgegenstand eines spannungsreichen und mit äußerster Intensität geführten deutsch-alliierten Gedankenaustauschs, der Mitte November zu beiderseits annähernd befriedigenden Vereinbarungen führte.[XXXVIII] Die Stärke der kasernierten Polizeikräfte wurde hiernach auf 32 000 Mann begrenzt. Hinsichtlich der Befehlsverhältnisse im Reichsheere stimmte die deutsche Seite dem Erlaß einer Verordnung zu, welche die Gruppenbefehlshaber und Divisionskommandeure dem Wehrminister direkt unterstellte und dem Chef der Heeresleitung lediglich eine Funktion als Berater und Vertreter des Ministers „in allen militärischen Angelegenheiten des Heeres“ zuwies. In der Verbändefrage schließlich erklärte sich Deutschland bereit, im Verordnungswege anzuordnen, daß Vereinigungen, die ihre Mitglieder im Waffenhandwerk ausbilden oder Verbindungen mit militärischen Stellen unterhalten, als im Widerspruch zum Versailler Vertrage stehend anzusehen und daher unverzüglich aufzulösen seien.

Mit diesem Übereinkommen, in dem darüber hinaus Programme für die Erledigung verschiedener bisher nicht völlig bereinigter Streitpunkte enthalten waren (Reduzierung der Polizei auf 150 000 Mann, industrielle Abrüstung), konnte die Entwaffnungsfrage als weitgehend gelöst betrachtet werden. Die Botschafterkonferenz bestätigte dies in einer offiziellen Note am 16. November und kündigte an, daß die Räumung der 1. Rheinlandzone im Dezember und Januar 1925/26 vorgenommen und gleichzeitig eine starke personelle Verringerung der Interalliierten Kontrollkommission eintreten werde. Die Kommission solle nur noch die Abwicklung der vereinbarten Restprogramme überwachen und dann abgezogen werden57.

57

Dok. Nr. 201, Anm. 10; 210; 220; 223; 226.

In Berlin wurden die alliierten Mitteilungen mit großer Erleichterung aufgenommen und schon am folgenden Tage entschied sich die Reichsregierung endgültig dahin, dem Reichstag einen Gesetzentwurf über den Vertrag von Locarno und die Ermächtigung zum Eintritt in den Völkerbund vorzulegen. Sie konnte der parlamentarischen Auseinandersetzung mit Zuversicht entgegensehen, da die innerdeutsche Diskussion inzwischen einen günstigen Verlauf genommen hatte. Entscheidenden Anteil hieran gebührte der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die, nachdem sie sich noch zu Beginn des Monats nachdrücklich geweigert hatte, das Vertragswerk im bestehenden Reichstag „gegen die Stimmen der Deutschnationalen zu ratifizieren“, von ihrer Forderung nach Auflösung des Reichstages Abstand nahm und – ebenso wie auch die Fraktionen des Zentrums, der DVP, DDP und BVP – deutlich zu erkennen gab, daß sie geschlossen für Locarno stimmen werde. Bei den Deutschnationalen dagegen war eine beinahe umgekehrte Entwicklung eingetreten. Nach ihrem Austritt aus der Regierungskoalition vorübergehend vorsichtiger Zurückhaltung zugeneigt, waren sie wenig später unter dem Einfluß ihres rechten Flügels auf einen scharfen Oppositionskurs eingeschwenkt und führten den Kampf gegen Locarno mit größter Härte. Zwar vermochten sie dadurch ernsten innerparteilichen Konflikten vorzubeugen, am Zustandekommen des Vertragsgesetzes aber konnten sie nichts mehr ändern. Dieses wurde am 27. November[XXXIX] mit großer Mehrheit angenommen und vom Reichspräsidenten, der eine Reihe schwerer Bedenken58 zurückstellen mußte, einen Tag später vollzogen59.

58

Dok. Nr. 214; 215; 223. Vgl. auch Haungs, Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung, S. 195 ff.; Dörr, Die Deutschnationale Volkspartei 1925 bis 1928, S. 193 ff.

59

Dok. Nr. 226; 228; 234.

Am 1. Dezember unterzeichneten die Locarnomächte das Vertragswerk im Londoner Foreign Office in einem feierlichen Staatsakt. Die Regierung Luther hatte damit jenes Ziel erreicht, dessen Verwirklichung sie nach dem Ausscheiden der Deutschnationalen wiederholt als vordringlichste und letzte Aufgabe ihrer Amtstätigkeit bezeichnet hatte; nach Vollendung der Verträge wollte sie unverzüglich demissionieren, um den Weg zur Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheitsregierung freizumachen. Sie zeigte dem Reichspräsidenten am 5. Dezember ihren Rücktritt an und wurde beauftragt, die Geschäfte bis zur Berufung einer neuen Reichsregierung fortzuführen60.

60

Dok. Nr. 209; 226; 230; 239; 243.

b) Handels- und Zollpolitik

Eine zweite wesentliche Aufgabe deutscher Außenpolitik im Jahre 1925 lag in der Neuordnung und Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen des Reiches zu fast allen wichtigen Handelsnationen Europas. Sie besaß beim Amtsantritt der Regierung Luther besondere Aktualität und Dringlichkeit, weil einerseits wenige Tage zuvor – am 10. Januar 1925 – die Bestimmung des Versailler Vertrages über die einseitige Meistbegünstigung der alliierten und assoziierten Mächte im Handelsverkehr mit Deutschland außer Kraft getreten war, und andererseits, weil sich seit der Währungsstabilisierung im Spätherbst 1923 eine zunehmedne Passivität der deutschen Handelsbilanz ergeben hatte.

Vorbereitende Schritte waren in dieser Richtung schon von der vorangegangenen Reichsregierung eingeleitet worden, die im Sommer und Herbst 1924 Handelsverträge mit Großbritannien, Spanien und Griechenland abgeschlossen und Wirtschaftsverhandlungen unter anderem mit der Sowjetunion, mit Frankreich und Italien aufgenommen hatte. Weitere Verhandlungspartner traten in den ersten Monaten des Jahres 1925 hinzu, doch zeigte sich nun mit zunehmender Deutlichkeit, daß die zahlreichen, zum Teil im Ausland eingesetzten deutschen Verhandlungsdelegationen dringend einer straffen zentralen Lenkung bedurften. Auf Drängen der Wirtschaftsressorts, die im Einvernehmen mit Luther scharf kritisierten, „daß bei der gegenwärtigen Verlegung des Kernpunktes in das Auswärtige Amt die wirtschaftliche Seite nicht genügend berücksichtigt werde“, wurde daher im Kabinett beschlossen, aus den Staatssekretären der zuständigen Reichsministerien einen „Handelspolitischen Ausschuß beim Auswärtigen Amt“ zu bilden, der die Einheitlichkeit der Verhandlungsführung bei den gleichzeitig verhandelnden Delegationen sicherstellen und wirtschaftliche Meinungsverschiedenheiten[XL] ohne Befragung des Reichskabinetts ausgleichen sollte. Der Ausschuß begann seine Arbeiten im März 1925 und blieb bis zum Ende der Weimarer Republik ein wichtiges wirtschaftspolitisches Beratergremium der Reichsregierung61.

61

Dok. Nr. 17, P. 2; 26, P. II; 42, P. 4.

Weit komplizierter und für den Erfolg der handelspolitischen Bemühungen von schlechthin entscheidender Bedeutung war demgegenüber die Frage des deutschen Zolltarifs. Sie hatte 1924 wiederholt im Mittelpunkt langwieriger Auseinandersetzungen im Reichskabinett und in der Öffentlichkeit gestanden, doch war es wegen des Widerstands der Linksparteien und infolge der Auflösung des Reichstages nicht möglich gewesen, die angestrebte gesetzliche Neuregelung der industriellen und agrarischen Zölle herbeizuführen. So waren die deutschen Unterhändler ohne verbindliches Zollinstrumentarium in die Verhandlungen eingetreten, ein Umstand, der sich insbesondere bei den Besprechungen in Paris und Rom verhandlungstaktisch ungünstig auswirkte und bereits zur Jahreswende ihren Fortgang ernstlich in Frage zu stellen begann.

Die Reichsregierung stand damit unter starkem Zeitdruck, als sie Mitte Februar 1925 die Beratung über den Zollgesetzentwurf des Reichsfinanzministers aufnahm. Dabei konnte Ernährungsminister Graf v. Kanitz, von den deutschnationalen Kabinettsmitgliedern nachdrücklich unterstützt, seinen 1924 beharrlich vertretenen Grundsatz, daß die Landwirtschaft durch angemessene Zollmaßnahmen geschützt werden müsse, sogleich zur Geltung bringen. In der Kabinettsvorlage v. Schliebens war dem allerdings schon weitgehend Rechnung getragen: es sollte eine Reihe von Industriezöllen erhöht, die seit August 1914 bestehende Zollfreiheit für Agrarprodukte aufgehoben und die Reichsregierung ermächtigt werden, im Falle eines dringenden wirtschaftlichen Bedürfnisses die Erhebung der vor dem Kriege in Geltung gewesenen landwirtschaftlichen Vertragszölle anzuordnen. Erhebliche Meinungsverschiedenheiten traten dagegen bei der anschließenden Behandlung zahlreicher Einzelpositionen zutage, vor allem hinsichtlich der im Gesetzentwurf vorgesehenen Zollsätze für Kartoffeln und Wein, deren Erhöhung v. Kanitz auf Drängen des Deutschen Landwirtschaftsrats nachträglich gefordert hatte. Da diese Erörterungen sich wochenlang ohne Ergebnis hinzogen und eine rasche Erledigung der Zollfragen wegen des zunehmenden Parteienengagements in der Reichspräsidentenwahl inzwischen ohnehin zweifelhaft geworden war, veranlaßte Luther das Kabinett zur einstweiligen Vertagung der Vorlage, begann aber wenig später schon, alarmiert offenbar durch die dringende Vorstellung des Auswärtigen Amts, daß im Falle weiterer Verzögerung „alle schwebenden Handelsvertragsverhandlungen unterbrochen werden müßten“, Besprechungen mit den Regierungsparteien über die Ausarbeitung eines „Spezialermächtigungsgesetzes“ zur kurzfristigen Regelung der Zolltarife. Obwohl er hierbei zunächst Aufgeschlossenheit und bereitwilliges Entgegenkommen feststellen konnte, waren seine[XLI] Bemühungen dennoch völlig ergebnislos, weil einerseits keine Übereinstimmung in der Frage möglich schien, ob das Ermächtigungsgesetz einer verfassungsändernden Mehrheit bedurfte, und andererseits die landwirtschaftliche Forderung, daß die agrarischen gegenüber den industriellen Zöllen eine annähernd gleichwertige Steigerung erfahren müßten, in den Fraktionen weiterhin stark umstritten war. So sah die Reichsregierung in den letzten Apriltagen keinen anderen Weg als den der beschleunigten Wiederaufnahme ihrer Beratungen über den Schliebenschen Gesetzentwurf. Dieser war in einer Reihe von Chef- und Ressortbesprechungen inzwischen wesentlich abgeändert worden, bei den wichtigen Getreidezöllen dahin, daß die autonomen Sätze der Vorkriegszeit (Roggen 7 M dz) zwar grundsätzlich wiederhergestellt, zunächst aber bis Juli 1926 ermäßigte „Zwischenzölle“ (Roggen 3 RM) erhoben und außerdem für handelsvertragliche Vereinbarungen Mindestsätze (Roggen im ersten Jahr 3, dann 5 RM) vorgeschrieben werden sollten. Seine Verabschiedung, nur wenig später vorgenommen, und die Zuleitung an den Reichsrat gaben in der zweiten Maihälfte den Auftakt zu erneuten heftigen Auseinandersetzungen über den gesamten Fragenkomplex des landwirtschaftlichen Zollschutzes.

Scharfen Widerspruch gegen die Vorschläge der Reichsregierung erhoben vor allem die Gewerkschaften und die landwirtschaftlichen Interessenverbände: die einen lehnten die Einführung von Getreidezöllen mit der Begründung ab, daß diese zu starker Anhebung des inländischen Preisniveaus und damit zu unerträglichen Belastungen für weite Bevölkerungsteile führen werde, die anderen richteten ihre Kritik in erster Linie gegen die vorgesehenen Mindestsätze, die, weil viel zu gering bemessen, keineswegs geeignet seien, die allgemeine Disparität zwischen Industrie- und Landwirtschaftszöllen auch nur annähernd wieder auszugleichen. Weit weniger dezidiert war andererseits die Stellungnahme des Deutschen Industrie- und Handelstags, der, nachdem er noch zu Beginn des Jahres die Wiederinkraftsetzung von Getreidezöllen nachdrücklich abgelehnt hatte, nun lediglich vor zu weit gehender Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Forderungen warnte und sich – wie ebenso auch der Zolltarifausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats – gegen die Einführung von Mindestsätzen aussprach.

Für die Reichsregierung bedeutete dies alles eine schwere Belastung, zumal auch in den Koalitionsparteien das Fortbestehen ganz ähnlich begründeter Gegensätze zwischen Agrar- und Verbraucherinteressen festzustellen war. Gleichwohl blieb Luther noch längere Zeit bestrebt, an der Vorlage in vollem Umfang festzuhalten, weil er allein hierdurch gewährleistet glaubte, daß vorteilhafte Handelsverträge abgeschlossen und der Landwirtschaft durch Stärkung des inneren Marktes bessere Möglichkeiten zur dringend notwendigen Intensivierung gegeben werden konnten. Als aber bei Beginn der Reichstagsberatungen deutlich wurde, daß nur ein völlig geschlossenes Auftreten der Regierungsparteien die Vorlage in ihren substantiellen Teilen erhalten und die parlamentarische Erledigung noch vor der Sommerpause sicherstellen würde, erklärte er sich schließlich zu einem Entgegenkommen[XLII] bereit. In besonderen Kompromißverhandlungen zwischen Regierung und Koalitionsparteien wurde Ende Juli unter anderem vereinbart, die Mindestsätze fallenzulassen, zollfreie Einfuhren von Gefrierfleisch im Interesse der „minderbemittelten Schichten“ zuzulassen und die Umsatzsteuer auf 1% herabzusetzen. Ohne weitere Schwierigkeiten konnte die Zollnovelle daraufhin am 12. August im Reichstag verabschiedet werden62.

62

Dok. Nr. 26; 37, P. 1; 42, P. 2; 59, P. 1; 60; 63; 79, P. 2; 99; 102; 106; 109, P. 2; 130; 135; 137, P. b; 139, P. 1; 142; 144, P. a u. e.

In der Zwischenzeit hatten die handelspolitischen Verhandlungen einen wenig günstigen Verlauf genommen. Zwar war es im April 1925 gelungen, ein vorläufiges Abkommen mit der Belgisch-luxemburgischen Wirtschaftsunion abzuschließen63. Zwar hatten in den ersten Augusttagen mehrere schon 1923/24 unterzeichnete Handels- und Schiffahrtsverträge die parlamentarische Hürde nehmen können, so unter anderem die Abkommen mit den Vereinigten Staaten64, mit Großbritannien65 und Griechenland. Dagegen waren die Verhandlungen mit Frankreich66, Italien, Polen und der Sowjetunion, welchen neben mehr oder weniger großer wirtschaftlicher auch allgemeinpolitische Bedeutung beizumessen war, noch nicht zu greifbaren Ergebnissen gelangt. Und in den deutsch-spanischen Wirtschaftsbeziehungen drohte um die Mitte des Jahres eine krisenhafte Entwicklung einzutreten, die rasch zu beiderseitigen Kampfmaßnahmen, zu einem Zollkrieg führen konnte.

63

Dok. Nr. 23, P. 2; 25; 59, P. 2; 68, P. 1.

64

Dok. Nr. 108, P. 1.

65

Dok. Nr. 94, P. 2.

66

Die deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen waren 1925 durch die gleiche Problematik (u. a. Weigerung Frankreichs, Deutschland Meistbegünstigung einzuräumen; elsaß-lothringische Kontingente) belastet wie schon in den letzten Monaten der vorangegangenen Reichsregierung (vgl. diese Edition: Die Kabinette Marx I/II, S. XLIII f.). Sie führten in der Zeit der Kabinette Luther I/II nicht zum Abschluß eines allgemeinen Handelsvertrages. S. Dok. Nr. 9, P. 1; 13; 44; 97, P. 2; 235; 257, P. 10.

Der im August 1924 als Modus vivendi in Kraft getretene deutsch-spanische Handelsvertrag, der für spanische Einfuhren nach Deutschland Meistbegünstigung, für deutsche industrielle Ausfuhren in einigen Positionen Zollvergünstigungen vorsah, hatte schon zu Beginn seiner Anwendung, vor allem aber in den Monaten der parlamentarischen Behandlung seit Januar 1925 den heftigen Widerspruch der deutschen Winzerverbände hervorgerufen. In zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen und in Eingaben an die Reichsregierung hatten diese gegen die vereinbarten niedrigen Weinzölle protestiert und sich in ihrer auf Kündigung des Handelsvertrages zielenden Kampagne die Rückendeckung eines größeren Teils der Reichstagsabgeordneten von Zentrum, DNVP und BVP zu sichern vermocht. Angesichts dieser kritischen, durch die oppositionelle Haltung der Sozialdemokraten gefährlich verschärften Lage neigte die Reichsregierung zunächst dazu, die parlamentarische Entscheidung bis zur Erledigung der Zollnovelle hinauszuschieben. Da aber die exportinteressierten Industrien in den folgenden[XLIII] Wochen immer nachdrücklicher die baldige Ratifizierung des Abkommens forderten und Stresemann die Befürchtung äußerte, daß der „Kredit der Deutschen Reichsregierung für den Abschluß von Handelsverträgen“ im Falle weiterer Verzögerung schwinden werde, sah sie sich schließlich auch in dieser Angelegenheit zu Kompromißverhandlungen mit den Parteien genötigt. Um die parlamentarische Verabschiedung des spanischen Vertrages in den letzten Maitagen völlig sicherstellen zu können, mußte sie dabei nicht nur umfangreiche steuerliche und finanzielle Hilfen zugunsten der Winzer in Aussicht stellen, sondern sich auch verpflichten, mit der spanischen Regierung umgehend Verhandlungen über ein neues, insbesondere für den Weinbau günstigeres Handelsabkommen aufzunehmen.

Wie deutscherseits nicht anders erwartet, zeigte die spanische Regierung bei den alsbald eingeleiteten Unterhandlungen wenig Neigung zu einem Entgegenkommen. Die Reichsregierung sah sich daher mit Rücksicht auf die neue deutsche Weinernte zur Kündigung des soeben erst ratifizierten Handelsabkommens veranlaßt. Nach Ablauf der dreimonatigen Kündigungsfrist trat im Oktober eine vertragslose Phase ein, in der Spanien durch drastische Zollerhöhungen und Einfuhrverbote einen Zollkrieg gegen Deutschland eröffnete. Dieser dauerte allerdings nur wenige Wochen, denn schon Mitte November stimmte Spanien – nun ernstlich um den Absatz seiner Obst- und Weinernte besorgt – dem Abschluß eines sechsmonatigen Provisoriums zu, das ihm Vergünstigungen bei Obst und Gemüse, bei den wichtigen Weinsorten dagegen nur den autonomen deutschen Zolltarif einräumte. Bald darauf wurden auch Verhandlungen über die Grundlagen eines definitiven Handelsabkommens aufgenommen; sie gestalteten sich äußerst schwierig und waren auf deutscher Seite begleitet von neuen heftigen Auseinandersetzungen zwischen Industrie und Landwirtschaft. In den Mittelpunkt rückte nun die Forderung der Winzerverbände, des Zentrums und der DNVP, daß bei diesen Verhandlungen unter keinen Umständen die Weinzölle des deutsch-italienischen Handelsvertrages67 unterschritten werden dürften – eine Bedingung, die von den Exportinteressenten entschieden zurückgewiesen wurde, weil sie nur durch industrielle Konzessionen durchzusetzen sei. Im Kabinett bestand jedoch angesichts der akuten Notlage des Weinbaus, für den die Reichsregierung neue umfangreiche Hilfsmaßnahmen in Angriff nahm68, volle Übereinstimmung dahin, „daß im Interesse besserer Weinsätze ein Handelsvertrag mit Spanien von der deutschen Industrie ertragen werden“ müsse. So wurde im Mai 1926 ein endgültiges Abkommen geschlossen, in dem Spanien die italienischen Weinzölle akzeptieren und Deutschland die Benachteiligung nicht unwesentlicher Teile seiner industriellen Ausfuhr hinnehmen mußte69.

67

Dok. Nr. 55, P. 1.

68

Dok. Nr. 304; 321, P. 2 (der Ministerbesprechung).

69

Dok. Nr. 4, P. 5; 23, P. 1; 77; 90; 93; 103, P. 3; 225, P. 1; 236, P. 5; 330, P. 3; 333, P. 6. Vgl. auch Panzer, Das Ringen um die deutsche Agrarpolitik, S. 52 ff.

[XLIV] Weit im Vordergrund des politischen Interesses standen im Sommer 1925 die Wirtschaftsverhandlungen mit Polen und der Sowjetunion. Während die deutsch-polnischen Verhandlungen – in erster Linie wohl, weil Deutschland dem polnischen Verlangen nach größeren Anteilen an der deutschen Vieh- und Kohleeinfuhr nicht entgegenkam – bald an einem toten Punkt gelangten und wenig später beiderseits zollpolitische Kampfmaßnahmen eingeleitet wurden70, führten die Besprechungen mit der sowjetischen Delegation schon im Oktober zum Abschluß eines Wirtschaftsvertrages. Im Verlauf der schwierigen Verhandlungen hatte die deutsche Seite freilich ihre zunächst sehr weitgesteckten Absichten und Wünsche, die auf freie Betätigungsmöglichkeit deutscher Firmen in der UdSSR und Bindung des sowjetischen Marktes an Deutschland hinausgelaufen waren, ganz erheblich herunterschrauben müssen. So war es unter anderem nicht möglich gewesen, das unbeschränkte Akquisitionsrecht deutscher Unternehmen sicherzustellen und fest umrissene Beteiligungsquoten Deutschlands an der sowjetischen Einfuhr durchzusetzen. Als positiv zu wertende Verhandlungsergebnisse standen dem aber – abgesehen von der erneuten Bestätigung der im Rapallovertrag verankerten allgemeinen gegenseitigen Meistbegünstigung – zahlreiche rechtliche Vereinbarungen gegenüber, die in verschiedenen Nebenabkommen (u. a. über Niederlassung, Handelsgerichte, gewerblichen Rechtsschutz) enthalten waren. In ihrer Gesamtheit bildeten sie zum ersten Male seit Bestehen der Sowjetunion eine ausreichende Rechtsgrundlage für die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Nicht ohne Bedeutung war schließlich auch der außenpolitische Aspekt des Vertragswerks, das in einem Augenblick seiner Vollendung entgegenging, in dem, wie Stresemann kurz vor der abschließenden Kabinettsberatung betonte, „die Westverhandlungen schweben und ein tiefes Mißtrauen Sowjetrußlands besteht, daß Deutschland sich von Rußland abzuwenden beginne“71.

70

Dok. Nr. 56, P. 1; 115, P. 2.

71

So Stresemann in einer Aufzeichnung für das Kabinett vom 29.9.25 (Dok. Nr. 165). Vgl. auch Dok. Nr. 17, P. 2; 85, P. 3; 121, P. 2; 133, P. 1; 167.

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