2.206.1 (mu21p): Reparationsfragen.

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Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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Reparationsfragen.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er das Kabinett habe einladen müssen, damit im Zusammenhang mit den Pariser Verhandlungen zu zwei an sich getrennten Fragenkomplexen Stellung genommen werde, nämlich erstens zur Reparationsfrage im eigentlichen Sinne und zweitens zu den Verhandlungen von Dr. Schacht mit dem belgischen Delegierten Francqui über die sogenannte Markfrage1.

1

Vgl. zu den vorangegangenen Erörterungen die Dok. Nr. 203, 204 und 205.

I.

Der Reichskanzler bat den Reichsminister der Finanzen, zunächst über die Reparationsfrage zu berichten.

Reichsminister Dr. Hilferding führte aus, daß Dr. Vögler ihn am vergangenen Dienstag, dem 14. Mai, hier in Berlin um eine persönliche Aussprache gebeten habe. Bei dieser Gelegenheit habe Dr. Vögler erklärt, daß er schon seit Wochen einen schweren inneren Konflikt durchmache, der nunmehr dahin entschieden sei, daß er sich nicht zur Unterschriftsleistung unter den zur Zeit in Paris zur Beratung stehenden Bericht der Sachverständigenkommission entschließen könne. Die Gründe, die Dr. Vögler für seinen Entschluß angegeben[673] habe, seien rein wirtschaftlicher Natur. Er stehe auf dem Standpunkt, daß Deutschland die Reparationslasten nicht aus eigener Kraft bezahlen könne. Es sei ihm schon schwer gefallen, das Angebot einer Annuität von 1650 Millionen mitzumachen, noch schwerer sei es ihm geworden, sich gemeinsam mit Dr. Schacht auf den Boden der Zahlenreihe von Owen Young zu stellen. Jedenfalls sei mit diesem letzteren Schritte die äußerste Grenze dessen, was er mitmachen könne, erreicht gewesen2. Dieser Schritt sei außerdem an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, nämlich an die Einführung einer Revisionsklausel in den Zahlungsplan geknüpft gewesen. Diese Voraussetzung habe sich nicht erfüllt. Reichsminister Hilferding berichtete weiter, daß er sich vergeblich bemüht habe, die Bedenken Dr. Vöglers zu zerstreuen. Er habe ihm in sehr eingehender Aussprache die innen- und außenpolitischen Konsequenzen auseinanderzusetzen versucht, die bei einem Scheitern der Sachverständigenkonferenz eintreten würden. Schon die praktischen Erfahrungen, die man habe machen müssen, als nach dem Abbruch der Beratungen im Revelstoke-Ausschuß die ganze Konferenz zu scheitern drohte, hätten bewiesen, daß von einer Rückkehr zur Politik des Dawes-Plans für Deutschland wenig zu erwarten sei. Die Stellung der Reparationskommission sei eben derart stark, daß Deutschland bei einer Krisis des Dawes-Plans ungeheuere Opfer werde auf sich nehmen müssen. Die3 vorgetragenen Argumente hätten auf Dr. Vögler sichtlich Eindruck gemacht, so daß er erklärt habe, seinen Rücktrittsentschluß nochmals nachprüfen zu wollen. Dr. Vögler habe dann auch am gleichen Tage noch eine Aussprache mit dem Herrn Reichskanzler gehabt, die ähnlich verlaufen sei. Er sowohl wie der Herr Reichskanzler hätten aus der Unterredung mit Dr. Vögler den Eindruck gewonnen, daß er schließlich doch wohl noch zur Unterschrift in Paris bereit sein werde. Es habe dann aber nach diesen Unterredungen noch eine Aussprache im Reichsverband der Deutschen Industrie stattgefunden, die die Haltung von Dr. Vögler offenbar ausschlaggebend beeinflußt habe. In dieser Besprechung habe insbesondere der Industrielle Thyssen einen schroff ablehnenden Standpunkt gegenüber dem Sachverständigenbericht vertreten. Eine ausgesprochen befürwortende Haltung habe wohl nur Geheimrat Bücher vertreten. Dr. Vögler sei nach Paris zurückgefahren und habe von dort schriftlich seine Demission mitgeteilt. Dr. Vögler selbst habe nahegelegt, daß der Nachfolger für ihn aus der Reihe der bereits vorhandenen Sachverständigen entnommen werden möge. Dr. Schacht sei der gleichen Meinung. Beide wären ferner der Meinung, daß Dr. Kastl der geeignete Nachfolger sei, schon aus dem Grunde, damit auch ein Vertreter der Industrie mitunterzeichne.

2

Das hatte auch v. Hoesch im Telegramm Nr. 381 vom 18. 5. berichtet (R 43 I /282 , gefunden in R 43 I /287 , Bl. 103-107).

3

Davor gestrichen: „Kurz und gut“.

Ministerialdirektor Dr. Ritter vom Auswärtigen Amt habe Dr. Vögler sodann in den letzten Tagen nochmals in Dortmund aufgesucht, um einen letzten Versuch zur Umstimmung zu unternehmen. Der Versuch sei indessen vergeblich verlaufen. Dr. Vögler habe aber erklärt, daß er es der Pariser Delegation und der Reichsregierung überlassen wolle, den Zeitpunkt und die Form der Bekanntgabe seines Rücktritts zu bestimmen. Er selbst werde in der Sache[674] nichts unternehmen. Er werde insbesondere auch dem von ihm selbst empfohlenen Nachfolger Kastl keinerlei Schwierigkeiten machen, denn er habe Verständnis4 dafür, daß Dr. Kastl, der sich mit den zu entscheidenden Problemen auf das genaueste vertraut gemacht habe, auf Grund seiner Prüfung zu einer anderen Überzeugung gekommen sei, wie er selbst.

4

Davor gestrichen: „volles“.

Der Reichsminister der Finanzen meinte weiter, daß es nunmehr nicht Sache des Kabinetts sein könne, über Form und Zeit der Bekanntgabe des Rücktritts von Dr. Vögler zu entscheiden, dies müsse vielmehr der Pariser Delegation überlassen bleiben, da nur diese die Gesichtspunkte, auf die es bei dieser Entscheidung ankomme, richtig beurteilen könne. Was die Person des Nachfolgers für Dr. Vögler anlange, so sei Dr. Kastl der geeignete Mann. Dr. Kastl sei auch am 19. und 20. in Berlin gewesen und habe sowohl mit ihm wie auch Staatssekretär Dr. von Schubert und Reichsminister Dr. Wirth eingehend gesprochen. Bei dieser Gelegenheit habe Dr. Kastl erklärt, daß nach seiner Meinung ein Scheitern der Pariser Verhandlungen wohl nicht mehr in Betracht kommen könne. Er sei überzeugt, daß ein Abbruch der Verhandlungen der deutschen Wirtschaft die größten Opfer auferlegen werde, die man dem deutschen Volke nicht mehr zumuten könne. Vom Reichsverband der Deutschen Industrie fühle Dr. Kastl sich sachlich frei, da er sein Mandat nicht vom Reichsverband, sondern von der Reichsregierung habe. Dr. Kastl würde daher den Sachverständigenbericht unterschreiben, sofern nicht in Paris unvorhergesehene neue Opfer von Deutschland verlangt würden. Das Kabinett müsse nunmehr darüber entscheiden, ob es mit der Ernennung von Dr. Kastl zum Nachfolger von Dr. Vögler einverstanden sei. Es sei möglich, daß man in Paris schnell zu Entschlüssen kommen müsse. Über die letzten Stadien der Pariser Verhandlungen lägen allerdings noch keine Berichte vor. Nach dem, was bis jetzt bekannt sei, seien noch folgende Hauptfragen offen:

1.

die Gestaltung der Revisionsklausel,

2.

die Frage, ob die Revisionsklausel sich nur auf ein Transfermoratorium oder auch auf ein Aufbringungsmoratorium erstrecken solle,

3.

die Regelung der letzten 21 Jahre des Zahlungsplans.

Bei dieser dritten Frage seien wiederum drei Unterfragen zu unterscheiden, nämlich

a)

die Frage der Heranziehung des Reingewinns der Reparationsbank,

b)

die Heranziehung der Forderungen der Reparationskommission an die sogenannten Nachfolgestaaten5,

c)

die Frage der Ausfallbürgschaft des Reichs.

5

Gegenüber Owen Young hatte Schacht schon am 4. 4. die Sprache auf die „Verbindlichkeiten“ der mittel- und osteuropäischen Staaten, die mit den Reparationen im Zusammenhang standen, gebracht (Bericht Ruppels Nr. K. 421 vom 5. 4.; R 43 I /291 , Bl. 16 f.). Zur Abdeckung der Annuitäten sollten auch die Forderungen der Repko an die nicht auf der Konferenz vertretenen Staaten (Nachfolgestaaten, Polen) herangezogen werden, war im deutschen Memorandum vom 5. 5. gefordert worden (R 43 I /277 , Bl. 241-244).

Bezüglich aller dieser Punkte schienen Vorbehalte der Gegenseite gemacht worden zu sein, so daß die deutsche Delegation möglicherweise sehr bald vor[675] neuen materiellen Entscheidungen stehe. Das Kabinett müsse stündlich damit rechnen, daß die deutsche Delegation den Zeitpunkt für die Bekanntgabe des Rücktritts von Dr. Vögler für gekommen erachte und für die Mitwirkung bei den noch zu treffenden materiellen Entscheidungen einen Nachfolger anfordern werde. Er beantragte daher, den Reichskanzler zu ermächtigen, an Stelle von Herrn Dr. Vögler Herrn Dr. Kastl zum Sachverständigen zu bestellen, sobald die deutsche Delegation den Zeitpunkt für die Inkraftsetzung des Rücktritts von Dr. Vögler für geboten erachte.

Der Reichskanzler unterstützte die Kandidatur von Dr. Kastl aus den vom Reichsminister der Finanzen bereits vorgetragenen Gründen.

Staatssekretär Dr. von Schubert und Staatssekretär Trendelenburg erklärten, daß sie Gelegenheit gehabt hätten, mit ihren Ministern, d. h. also mit Reichsminister Dr. Stresemann und Reichsminister Dr. Curtius fernmündlich über die Bestellung von Dr. Kastl zum Nachfolger von Dr. Vögler zu sprechen. Beide Minister hatten ihr Einverständnis erklärt.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte noch, daß er das mündliche Einverständnis von Reichsminister Stegerwald eingeholt habe.

Der Reichskanzler stellte abschließend fest, daß das Kabinett mit der Bestellung von Dr. Kastl zum Nachfolger von Dr. Vögler einverstanden sei6.

6

Kastls Ernennung erfolgt am 23.5.29 (R 2 /2925 , Bl. 39 f.).

II.

Der Reichskanzler bat sodann den Staatssekretär von Schubert, über die wegen der sogenannten Markfrage erforderlich gewordenen Entscheidung der Reichsregierung zu berichten. Erläuternd bemerkte der Reichskanzler selbst, dem Kabinett werde ja wohl noch erinnerlich sein, daß der belgische Delegierte Francqui in Paris Dr. Schacht gegenüber die Markfrage angeschnitten und den Wunsch geäußert habe, mit Dr. Schacht in Verhandlungen hierüber einzutreten. Dr. Schacht sei daraufhin ermächtigt worden, die von Belgien gewünschten Verhandlungen auf der Basis der Besprechungen über die gleiche Frage vom Jahre 1926 zu führen, d. h. daß sie wieder in Zusammenhang mit der Frage Eupen-Malmedy gebracht werde. Es könne sein, daß Belgien in der Reparationsfrage im letzten Augenblick Schwierigkeiten machen werde, wenn die Markfrage nicht gelöst sei, und daß Frankreich sich veranlaßt sehen werde, sich in dieser Frage nicht von Belgien zu trennen. Unter diesen Umständen müsse man an eine Erleichterung der Vollmacht von Dr. Schacht denken.

Staatssekretär von Schubert berichtete sodann, daß die von Dr. Schacht mit Francqui geführten Verhandlungen ergebnislos verlaufen seien. Aus den Berichten von Dr. Schacht sowie aus den verschiedensten anderen Informationsquellen gehe hervor, daß Belgien offenbar nicht gewillt sei, an einer Verknüpfung der Rückgabe Eupen-Malmedy mit der Regelung der Markfrage festzuhalten. Die ganze Situation zeige deutlich, daß eine Wiedergewinnung von Eupen-Malmedy unter den gegenwärtigen Umständen nicht durchzusetzen sei. Deutschland würde wegen der Haltung Belgiens möglicherweise vor die Frage[676] gestellt werden, ob wir gewillt sind, die ganze Reparationskonferenz daran scheitern zu lassen, daß wir schon jetzt auf die Erfüllung der Forderung Eupen-Malmedy bestehen. Diese Frage müsse verneint werden. Wenn Dr. Schacht daher in Paris mit Francqui in der Markfrage weiter verhandeln solle, so müsse seine jetzige Instruktion geändert werden. Es sei deshalb am 18. Mai ein im Auswärtigen Amt entworfenes, vom Reichskanzler unterzeichnetes Schreiben an Dr. Schacht gerichtet worden, in dem ihm für die Behandlung der Markfrage freiere Hand gewährt worden sei7. Es sei Dr. Schacht selbst anheimgestellt worden, inwieweit er von den erweiterten Vollmachten Gebrauch machen wolle. Das Schreiben sei übrigens auch mit Reichsminister Dr. Wirth vor Abgang eingehend durchgesprochen worden.

7

Siehe Dok. Nr. 204.

Reichsminister Dr. Wirth erklärte, daß er sich in der Tat über den Stand der Angelegenheit sehr eingehend informiert habe. Nach seiner Meinung komme der Angelegenheit starke innerpolitische Bedeutung bei. Mit dem Brief an Dr. Schacht vom 18. Mai sei ein erster Schritt auf dem Wege der Bereinigung der Markfrage getan. Er halte es aber für erforderlich, daß die Angelegenheit mit sämtlichen Ministerkollegen eingehend besprochen würde, damit die Reichsminister in ihren Fraktionen die Fühlung darüber aufnehmen könnten, wieweit die Fraktionen in der Sache mitzugehen bereit seien. So wie er die Stimmung in seiner eigenen Fraktion, d. h. also der Zentrumsfraktion beurteile, würden von dieser Seite kaum besondere Schwierigkeiten erwachsen. Sein Wunsch ginge dahin, daß die Angelegenheit im Kreise der Minister nochmals erörtert werden möge, sobald die Stellungnahme Dr. Schachts auf den Brief des Reichskanzlers vom 18. Mai vorliege.

Der Reichskanzler bemerkte, bei dem Brief vom 18. Mai habe es sich nur darum gehandelt, zu verhüten, daß die ganze Reparationskonferenz an der Markfrage scheitere, wenn im übrigen die Voraussetzungen für eine Einigung in der Reparationsfrage gegeben seien.

Der Reichskanzler stellte fest, daß gegen die bisherige Behandlung der Angelegenheit von keiner Seite Widerspruch erhoben werde.

Der Reichskanzler schloß darauf die Sitzung mit dem Bemerken, daß beabsichtigt sei, die nächste Kabinettssitzung am Freitag, dem 24. Mai, stattfinden zu lassen.

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