2.60 (str1p): Nr. 60 Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet. Gelsenkirchen, 15. September 1923

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Nr. 60
Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet. Gelsenkirchen, 15. September 1923

R 43 I /215 , Bl. 84–88 Abschrift in Durchschrift1

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Der Bericht wurde dem StSRkei von der Reichszentrale für Heimatdienst am 17.9.23 übermittelt. Kempner verfügte ihn mit dem Bemerken „Nichts Neues!“ am 20. 9. zu den Akten (R 43 I /215 , Bl. 83).

Durch die Rede des Reichskanzlers am vergangenen Mittwoch2 hat sich die politische Lage hier im Gebiet einerseits geklärt, andererseits aber auch außerordentlich verschärft. Die parteipolitischen Gegensätze sind in einem Umfange erweitert worden, der geradezu erschreckend ist. In den Kreisen nicht nur der deutschvölkischen und der deutschnationalen sondern bis weit in die[285] Reihen der volksparteilichen Kreise hat die Reichskanzlerrede eine Wirkung ausgelöst, wie man sie nicht zu ahnen gewagt hätte. Es scheint, als ob der Artikel der „Rhein.-Westf. Zeitung“ der der Zentralleitung am Donnerstag durch Fernsprecher übermittelt wurde, den Auftakt gegeben habe, zu dem, was man nunmehr sieht und hört. Es herrscht hellste Empörung unter den genannten Schichten über den „Verrat“, den der Kanzler verübt habe. Man spricht ganz offen davon, daß Stresemann möglichst schnell Rathenau und Erzberger folgen müsse. Die nationalistischen Instinkte werden bis zur Leidenschaft aufgepeitscht. Es wird so dargestellt, als ob wir den Abwehrkampf noch lange durchzuführen in der Lage seien, und daß der Sieg unser wäre, wenn nicht jetzt genau wie im Jahre 1918 die Judenregierung uns verkauft und verriet. Hilferding, der österreichische Jude, und Stresemann, der Halbjude, hätten natürlich kein Verständnis für nationale Würde und für die Ehre des deutschen Namens. Solche und ähnliche Äußerungen konnte ich dieser Tage immer wieder hören3. Jede verstandesmäßige Betrachtungsweise ist für die genannten Kreise unmöglich. Alles ist auf Gefühl eingestellt und auf eine naive und gefährliche Überschätzung der deutschen Kräfte sowohl in materieller und in moralischer Beziehung.

2

Rede des RK vor der Presse am 12.9.23; s. Schultheß 1923, S. 168 ff.

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Dieser Antisemitismus griff auch über die Rechtsradikalen hinaus. Namens des Vorstandes der Koblenzer Zentrumspartei protestierte LandR Loenartz am 19.9.23 gegen eine Rede Hilferdings vor dem vorläufigen RWiR, die dahin interpretiert wurde, der RFM habe erklärt, da das Rheinland bisher auf Kosten des Reichs gesättigt worden sei, könne es jetzt Einsparungen vertragen. Loenartz ging davon aus, daß auf Grund der rigiden Widerstandspolitik Cunos Not herrsche (s. u. Anm. 13): „Wenn das Reichskabinett das heute einsieht, so sollte es das offen gestehen. Keinesfalls darf es den Anschein erwecken, als ob es duldet, daß man mit orientalischer Gewandtheit die Schuld auf das ohnehin genug leidende rheinische Volk abzuwälzen versucht“ (R 43 I /215 , Bl. 125–127).

Natürlich werden auch die tollsten und unsinnigsten Gerüchte mit dem ausgesprochenen Zweck verbreitet, Sturm zu laufen gegen die Regierung und die von ihr inaugurierten Verständigungsschritte. Um nur ein einziges herauszugreifen, darf darauf hingewiesen werden, daß man sich erzählt, am kommenden Montag, den 17. würde die Eisenbahn wieder von deutschem Personal bedient werden, alle ausgewiesenen Eisenbahner seien von der Eisenbahnverwaltung schon zurückbeordert worden, um in französischen Diensten zu arbeiten4. Auch auf den Zechen würde wieder voll gearbeitet und die geförderten Kohlen den Franzosen nach Maßgabe ihrer Anforderungen zur Verfügung gestellt. Usw.

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Zur Loslösung der Rhein-Ruhr-Bahnen aus dem Netz der Reichsbahn s. Dok. Nr. 30.

Allerdings muß festgestellt werden, daß die führenden Persönlichkeiten bei den Deutschnationalen sich zurückhaltender aussprechen5. Man hat den Eindruck, als ob sie in einem seelischen Zwiespalt sich befänden. Sie sehen natürlich, wie jeder, der mitten darin steht in den Ereignissen, daß ein völliger Zusammenbruch nicht zu vermeiden ist, wenn nicht bald der Ruhrkonflikt beendet wird. Sie können aber nicht den moralischen Mut aufbringen, zu dem Wege, den die Regierung in Erkenntnis der wirklichen Lage geht und gehen will, auch ihrerseits sich zu bekennen. Es spielen eben in ihre Betrachtungsweise viel zu starke nationalistische und machtpolitische Erwägungen hinein.

5

Vgl. hierzu auch Stresemanns Ausführungen über den Vorsitzenden der DNVP/DVP-Arbeitsgemeinschaft im Preußischen Staatsrat in Dok. Nr. 47.

[286] Äußerst gedrückt ist die Stimmung bei der Deutschen Volkspartei. Auch hier sehen die verantwortungsbewußten Führer die unabweisbare Notwendigkeit ein, schnellstens zu einem Abschluß des Ruhrkonfliktes zu kommen. Sie stellen sich auch bewußt und rückhaltlos hinter den Kanzler und seine Politik. Sie haben aber doch andererseits so stark mit Gegenströmungen aus dem eigenen Lager zu kämpfen, daß sie im Augenblick wenigstens völlig resigniert den Dingen gegenüberstehen. Die genannten Strömungen bestehen darin, daß die in der Partei organisierten schwerindustriellen Kreise und deren Anhang die Steuer- und Finanzpolitik innerhalb der Partei nicht billigen, weil sie ihnen Opfer auferlegt, die sie im mindesten ungern zu tragen bereit sind6. Darüberhinaus spielen auch gerade bei diesen Gruppen machtpolitische Erwägungen, Prestige-Fragen usw. eine nicht unbedeutende Rolle. Die Situation im volksparteilichen Lager wird dadurch noch weiter erschwert und komplizierter als die in Betracht kommende Schwerindustrie ihrer ganzen Struktur nach auf ein praktisches Zusammenarbeiten mit den analogen französischen Industriegruppen angewiesen ist7. Dieser Zusammenhang ist um deswillen besonders beachtenswert, und für die weitere Entwicklung entscheidend, als aus ihm die separatistischen Kräfte starke Wurzelkräfte ziehen.

6

Vgl. hierzu Dok. Nr. 39, P. 5. Bereits am 29.8.23 war aus dem Wahlkreisverband Düsseldorf-Ost der DVP dem StS von Rheinbaben berichtet worden: „Die Hetze der Rechtsstehenden gegen Herrn Reichskanzler Dr. Stresemann wird hier im Randgebiet und den angrenzenden besetzten Teilen wie Remscheid, Solingen u. a. sehr scharf betrieben. Die neuen Steuergesetze, die ja unter Herrn Dr. Cuno mit den Deutschnationalen und allen anderen Parteien zusammengemacht worden sind, werden ebenfalls der Regierung Stresemann zur Last gelegt. Selbst führende Wirtschaftler lassen sich einfangen. Diese Hetze wirkt stark auf unsere Parteiorganisation zurück. Aber viel stärker steckt das Gift bei den politisch indifferenten Kreisen an. So wird sträflicherweise eine böse Luft erzeugt“ (R 43 I /215 , Bl. 10).

7

S. hierzu den Bericht Otto Wolffs über sein Gespräch mit General Denvignes, in: Vermächtnis I. S. 94 f. Auf eine Anfrage aus der dt. Botschaft in London, was an den sich hartnäckig haltenden Pressenachrichten über deutsch-französische Wirtschaftsverhandlungen sei, hatte MinDir. von Schubert am 8.9.23 erwidert, darüber sei in Berlin nichts bekannt (Pol. Arch.: Büro RM 5 m). In einer Aufzeichnung für den RK vom 20.9.23 teilte MinDir. v. Schubert mit, er sei vom italienischen Botschafter über Verhandlungen zwischen deutschen und französischen Industriellen, die wahrscheinlich in Paris stattfänden, befragt worden. Auf Schuberts Entgegnung, er wisse hierüber nichts und auf seine Frage, worauf sich die italienischen Informationen bezögen, habe Bosdari erwidert, „daß es sich angeblich um die Frage der Beteiligung französischer Industrieller am deutschen Aktienbesitz handele, vielleicht aber hätten diese Besprechungen auch etwas mit den politischen Verhandlungen zu tun, die wegen der Ruhrfrage gepflogen würden. – Ich sagte dem Botschafter, es sei natürlich möglich, daß in letzter Zeit zwischen französischen und deutschen Industriellen und Finanzleuten Besprechungen irgendwelcher Art stattgefunden hätten, über die wir nicht orientiert wären. Von irgendwelchen wichtigen Verhandlungen sei mir aber nichts bekannt“ (Pol. Arch.: Büro RM PA, Bd. 1).

Ich durfte schon Anfang dieser Woche darauf hinweisen, daß die separatistische Gefahr im Augenblick wieder sehr groß ist. Sie hat durch die politische Entwicklung der letzten Tage wieder neue Nahrung gefunden. Ich hoffe am morgigen Sonntag anläßlich eines Vertretertages der deutschen Demokratischen Partei für die beiden Wahlkreise Düsseldorf-Ost und Düsseldorf-West in Elberfeld näheres zu erfahren und der Zentralleitung darüber Bericht erstatten zu können8. Wie weit die separatistische Bewegung schon ihre Wellen geschlagen hat, mag daraus ersehen werden, daß nach einer heute früh hier[287] eingegangenen Meldung in Wanne ein hektographiertes Flugblatt angeschlagen ist, das zum Beitritt zu den Separatisten auffordert. Anmeldungen sind zu richten an den Vorsitzenden August Weyandt, Bahnhof Wanne. Es wird von hier aus festgestellt, ob es sich dabei um einen Decknamen handelt, oder ob der Betreffende in Wanne ortsansässig ist. Auch wird versucht werden, den genauen Wortlaut des Flugblattes zu bekommen.

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S. dazu Dok. Nr. 64, Anm. 18.

Die Auffassung der Demokraten ist durchaus einheitlich. Man ist erfreut über den Mut und die Entschlossenheit des Kabinetts und ist bereit, die Regierung bei der weiteren Verfolgung ihrer Verhandlungs- und Verständigungspolitik mit allen Mitteln und mit allen Kräften zu unterstützen. Allerdings hat man die Befürchtung, als ob für eine geordnete, reibungslose Regelung die Zeit schon zu spät sei. Man denkt dabei in erster Linie an die innerpolitischen Wirkungen. Man mag angesichts des völligen Verfalls des gesamten Wirtschaftslebens und der uferlosen Preisentwicklung nicht mehr an eine Wendung zum Besseren glauben9. Und in der Tat: Es gehört jener Glaube, der Berge versetzt dazu, wenn man die Fahne der Hoffnung noch weiter trägt. Es darf aber festgestellt werden, daß dieser Glaube doch auch als eine starke reale Macht besteht und daß er durch die Tatkraft und den moralischen Mut der Regierung neue Nahrung erhalten hat. Und dieser Glaube steht in engster Wechselwirkung zu einem starken Wollen im Sinne einer positiven Lösung der außen- und innerpolitischen Fragen.

9

In einem weiteren Bericht aus Gelsenkirchen vom 17.9.23 heißt es zu dieser Tagung, die Lage werde als hoffnungslos und der Erfolg der Franzosen als unbestreitbar angesehen. Eine weitere Möglichkeit, den passiven Widerstand fortzusetzen werde nicht gesehen (R 43 I /215 , Bl. 130).

Auch beim Zentrum paart sich Hoffnung mit Entschlossenheit10. Gerade beim Zentrum, das ebenso wie die Deutsche-Demokratische-Partei Angehörige aller Berufsschichten in sich vereinigt, richtet sich der Blick aufs Ganze und auf die Gesamterfordernisse. Aber auch bei dieser Partei sind starke Zweifel darüber festzustellen, ob sich die Verhältnisse, wie sie sich durch die Fehler und Versäumnisse des Kabinetts Cuno nun leider herausgebildet haben11, überhaupt noch meistern lassen.

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Die dem Zentrum nahestehenden Christl. Gewerkschaften erklärten anläßlich einer Besprechung in Mannheim, wie ein Bericht, der über die Reichszentrale für Heimatdienst in die Rkei gelangte, ergibt, der passive Widerstand solle trotz der erforderlichen Verhandlungen der RReg. mit Frankreich „nicht im Sande verlaufen“, sondern „durch eine wirkungsvolle große Geste abgebrochen werden“. Bis die Reichsregierung handele, müsse der Widerstand aufrechterhalten bleiben. An ein Entgegenkommen Poincarés wurde nicht geglaubt (R 43 I /215 , Bl. 121–122). Von einer Sitzung des DGB in Essen teilte der örtliche Vorsitzende Breddemann am 19.9.23 mit: „Es herrschte nur eine Meinung, die dahinging, daß zum Schutze unserer Lebensrechte der passive Widerstand unter keinen Umständen aufgegeben werden dürfe“ (R 43 I /215 , Bl. 133).

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Die Ansicht des Koblenzer Zentrums schlug sich in einem Schreiben an den RK vom 19.9.23 dahin nieder: „Der passive Widerstand droht zu scheitern, trotz der unsäglichen Opfer der rheinischen Bevölkerung, nicht zum mindesten deshalb, weil das frühere Reichskabinett allen Warnungen zum Trotz sich nicht auf einen vernünftigen elastischen Widerstand einstellen wollte, der anstatt unseren Gegnern dem deutschen Volk genutzt haben würde. Der von der Regierung befohlene starre Widerstand hat unser Verkehrs- und Wirtschaftsleben erschlagen“ (R 43 I /215 , Bl. 126). Die Essener DDP-Sitzung am 17.9.23 ergab: „Eine geradezu unbeschreibliche Entrüstung macht sich geltend gegen die Regierung Cuno, weil sie untätig nach außen und energielos im Innern die Dinge so weit hat treiben lassen“ (R 43 I /215 , Bl. 130).

[288] Die Sozialdemokraten verteidigten die Regierungspolitik mit guten Gründen und, soweit ihre Presse in Frage kommt, auch mit Energie und zweifellos mit Geschick. Sie sehen in der nunmehr eingeschlagenen Verständigung einen Erfolg ihrer eigenen Politik. Wenn es erlaubt ist, über die Haltung der Sozialdemokraten und ihrer Presse hier im Gebiet ein Werturteil abzugeben, so muß mit Befriedigung festgestellt werden, daß diese Haltung vom ersten Augenblick des Einmarsches an bis zu diesem Tage eine durchaus eindeutige, klare und vom nationalen Standpunkt aus auch kluge und weitsichtige gewesen ist. Bei allen anderen Parteien haben die Stimmungen manchmal gewechselt, sind sie beeinflußt worden von Außendingen, von Erwägungen sekundärer Natur. Die Sozialdemokraten sind von ihrer Linie (kleine Einzelentgleisungen wollen nichts besagen) niemals abgegangen12. Dies auszusprechen, ist für einen Nichtsozialdemokraten ein Gebot der Gerechtigkeit.

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Zur Haltung der SPD s. den Vorschlag Mehlichs vom 8.9.23 (Dok. Nr. 49) sowie die Äußerungen des pr. MinPräs. Braun am 15.9.23 (Dok. Nr. 59). Von den den Sozialdemokraten nahestehenden Freien Gewerkschaften wurde in Essen am 19.9.23 eine Erklärung angenommen, „daß man allseitig der Auffassung sei, daß im politischen und wirtschaftlichen Interesse Deutschlands der passive Widerstand recht schnell abgebaut werden muß, daß man sich aber den Abbau so denkt, daß der Wille der gesamten Bevölkerung des Ruhrgebiets für den Abbau in Frage kommt.“ Während der Vorverhandlungen der RReg. mit Frankreich dürfe der passive Widerstand nicht abgebrochen werden (R 43 I /215 , Bl. 119).

Über die Kommunisten ist nicht viel zu sagen. Sie als konstanten Faktor in eine politische Kalkulation einzusetzen, ist unmöglich. Die Partei bildet das Sammelbecken aller Unzufriedenen, die Kräfte aus der Tiefe, die sie je nach ihren agitatorischen Bedürfnissen leitet, bzw. mißleitet, soviel darf aber doch wohl gesagt werden, daß die kommunistische Gefahr für das Reich, besonders aber für das bedrohte Einbruchsgebiet, in dem Maße abnimmt, als es zu einer Beendigung des Ruhrkonfliktes kommt und daß sie im entgegengesetzten Falle in entsprechender Weise wächst. Es spielt hier das Arbeitslosenproblem hinein sowie die Frage der Rhein-Ruhr-Hilfe mit all ihren demoralisierenden Neben- und Folgeerscheinungen13. Es ist darüber mehrfach in anderem Zusammenhange[289] berichtet worden. An dieser Stelle soll nur auf die Bedeutung dieser Dinge in Bezug auf die kommunistische Gefahr hingewiesen werden14.

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Der StKom. für öffentliche Ordnung berichtet am 18.9.23 auf dem Ruhrgebiet: „Die politische und wirtschaftliche Lage in den Bezirken Duisburg, Mülheim, Oberhausen und Hamborn ist äußerst gespannt. In den Betrieben wird fast nicht mehr gearbeitet. Die Kommunisten versuchen, politische Arbeiterräte zu bilden, welche bei den angeblich bevorstehenden Sturz der Regierung die Macht übernahmen sollen. Die Bergarbeiter erklären, daß sie, solange ihre Löhne nicht der Teuerung entsprechend geregelt würden und sie in der Entlohnung hinter den Notstandsarbeitern ständen, jede Arbeit verweigern. Die Hafenarbeiter im Duisburger Hafen stehen wegen Lohndifferenzen im Streik. Ein Versuch, den Streik beizulegen, mißlang“ (R 43 I /215 , Bl. 106). Im Schreiben des Koblenzer Zentrums an den RK vom 19. 9. (s. o. Anm. 3 u. 11) wird ausgeführt: „Diejenigen Kreise, die auf Kosten des Reiches ernährt werden, dürften dem Herrn Reichsminister Dr. Hilferding nicht unbekannt sein; sie stehen zum großen Teil ihm politisch nahe. Die rheinische Bevölkerung ist mit dieser von der Berliner Regierung veranlaßten Ernährung durchaus nicht einverstanden, sondern hat sie von Anfang an auf das entschiedenste verurteilt. Denn gerade die zur Stützung des passiven Widerstandes von der Reichsregierung an die sogenannten Erwerbslosen in einem unverantwortlichen Übermaß gezahlten Unterstützungen haben, wie seitens der Vertreter der rheinischen Bevölkerung oft genug warnend betont worden ist, den wirtschaftlichen Ruin der Rheinlande mitverschuldet, da die Wirtschaftspolitik mit dieser Entlohnungspolitik nicht mehr Schritt zu halten vermochte“ (R 43 I /215 , Bl. 125–126).

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Allerdings teilte der Düsseldorfer RegPräs. am 20.9.23 dem PrIM mit, die Kommunisten stünden derzeit in entschiedener und rühriger Gegnerschaft zu den Separatisten, während die Syndikalisten ins separatistische Fahrwasser geraten seien (PrIM an AA, RMbesGeb., 20.9.23; Pol. Arch.: Pol. Abt. II: Besetzte Gebiete: Besetztes Rheinland Loslösungsbestrebungen, Bd. 2).

In den politischen Parteien wird in diesen Tagen auch schon lebhaft die Frage besprochen, was für den Fall geschehen solle, daß die eingeleiteten Verhandlungen dennoch scheitern15. Man ist sich, soweit im Augenblick ein Überblick bzw. die Abgabe eines Gesamturteiles überhaupt schon möglich ist, bei den Regierungsparteien darüber einig, daß die Formen und Methoden des passiven Widerstandes dann doch abgeändert werden müssen. Vor allem müßte in der Frage des Kohlenbezuges und in der Benutzung der Regiebahnen zur Beförderung von Lebensmitteln gewisse Konzessionen gemacht werden16. Über die Schwiergkeiten, die dann zu lösen sind, ist man sich vollständig klar. Man hat die große Befürchtung, daß, wenn die Franzosen jetzt die Verhandlungen scheitern lassen, sie damit auch nach außen hin zu erkennengeben, daß sie überhaupt keine Verständigung sondern lediglich die Kapitulation als Folge unseres Zusammenbruches wollen. Wenn dies aber als endgültig erwiesen feststeht, dann werden die Methoden des weiteren Abwehrkampfes schließlich nicht von uns, sondern von den Franzosen bestimmt.

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Anläßlich der Essener DDP-Konferenz vom 17.9.23 wurde die Möglichkeit der bedingungslosen Kapitulation eingehend besprochen. Die Bevölkerung sei infolge Schönfärberei und Versprechungen sich des Ernsts der Lage nicht bewußt und auf die Kapitulation unvorbereitet. Zwar herrsche das Gefühl, daß es nicht mehr lange weitergehen werde, doch werde mit einigermaßen erträglichen Bedingungen gerechnet. Einige Redner hätten für die Folgen der bedingungslosen Kapitulation nicht allzu schwarz gesehen. „Sie wiesen darauf hin, daß man jetzt endlich den Mut zur Wahrhaftigkeit haben müsse und daß es Aufgabe der Regierung [sei], über die Notwendigkeit der Opferleistung aufzuklären. Aber auch die optimistischer Sehenden verhehlten sich die großen Schwierigkeiten nicht“ (R 43 I /215 , Bl. 130–131).

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Aus Essen berichtete der DGB-Vorsitzende Breddemann (s. o. Anm. 10): „Schon jetzt möchte ich bemerken, daß die Ernährungslage sich durch die furchtbare Geldentwertung wieder zu verschärfen droht. Um zu retten, was eben möglich ist, eilen heute die Preise im Kleinhandel im allgemeinen der Teuerung weit voraus, während sie früher teilweise in beträchtlichem Abstand hinter den Preisen im Großhandel herhinkten. Es ist ein ‚Von der Hand in den Mund leben‘. Die Kleinpreise passen sich heute sofort den steigenden Devisen und dem Großhandel an. Die Umsätze gehen mengenmäßig stark zurück, während die Unkosten eine gewaltige Steigerung erfahren. In den Kreisen der Versorger wird die Ansicht vertreten, daß für eine ordnungsmäßige Herbstversorgung versucht werden muß, unbedingt noch einige Bahnhöfe wieder frei zu bekommen und in Betrieb zu nehmen“ (R 43 I /215 , Bl. 133).

gez. Dinger

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