1.97 (str2p): Nr. 211 Bericht eines Augenzeugen über die Ausweisungsmaßnahmen gegen Juden in München, [31. Oktober 1923]

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Nr. 211
Bericht eines Augenzeugen über die Ausweisungsmaßnahmen gegen Juden in München, [31. Oktober 1923]

R 43 I /2193 , Bl. 77–84 Durchschrift1

1

Der Bericht „von einem diesseits bekannten zuverlässigen Herrn, der zur Erkundigung nach München gefahren war“, wurde der Rkei vom AA am 31.10.23 zur Kenntnisnahme zugesandt (R 43 I /2193 , Bl. 76). In der Originalüberschrift „Bericht eines Augenzeugen aus München“ sind das zweite und dritte Wort mit Rotstift unterstrichen und am Rand mit einem Fragezeichen versehen worden. – Bereits am 30.10.23 hatte sich MinDir. v. Schubert an StS v. Haniel gewandt und unter Verweis auf die schon bekannten Ausweisungsverfügungen (s. Anm. 12 zu Dok. Nr. 193) erklärt: „Ich bitte, mir mit tunlichster Beschleunigung authentische Mitteilungen über die Ausweisungspraxis zugehen zu lassen und stelle bereits jetzt ergebenst anheim, bei passender Gelegenheit das Bayerische Ministerium des Auswärtigen auf die ungünstigen Wirkungen, die diese Ausweisungen im Auslande, besonders in England und Amerika ausüben müssen, aufmerksam zu machen, dabei aber darauf hinzuweisen, daß die Deutsche Regierung nicht beabsichtigt, sich in das Verfahren der Bayerischen Polizei zu mischen“ (R 43 I /2193 , Bl. 69–70).

Am 17. Oktober 1923 erschienen frühmorgens bei einer großen Anzahl ostjüdischer Familien gleichzeitig 4 Kriminalbeamte zu Haussuchungen. Man[927] ließ sich Wäsche, Kleider, Schmuck, Lebensmittel usw. zeigen. Auf die Haussuchungen erfolgte bisher in ca. 70 Fällen (Familien) die Ausweisung. Die Ausweisungsbefehle trugen ursprünglich schon das Datum vom 13. Oktober, waren also vor der Haussuchung ausgestellt, so daß letztere nur eine Formalität war. Die Ausweisungsbefehle wurden vom 18. Oktober an zugestellt, die Ausweisungsfrist lautet überall auf 14 Tage.

Die Befehle sind alle nach demselben Schema ausgefertigt, und haben folgenden Wortlaut:

Beschluß:

X wird hiermit mit seiner Frau, geb. X. . und seinen Kindern …aus München und dem Freistaat Bayern ausgewiesen. Gebühren bleiben außer Ansatz, die Kosten des Verfahrens und der Ausweisung fallen dem Ausgewiesenen zur Last.

Gründe:

Es folgen dann irgendwelche Scheingründe, z. B. irgend eine Polizeistrafe vor 15 oder 20 Jahren (etwa die Ordnungsstrafe der Tochter, die schon lange nicht mehr im Hause der Eltern lebt, Polizeistrafe wegen zu schnellen Radelns vor dem Kriege, Bestrafung mit 5,– M, weil der Ausgewiesene vor dem Kriege einem Beleidiger eine Ohrfeige gegeben hat und dergl.). Ein besonders krasser Fall: Der Betroffene war auf Grund einer Denunziation unter Raubmordverdacht gekommen. Der wirkliche Mörder wurde aber inzwischen gefaßt und verurteilt. Heute wird der Mann wegen eines inzwischen widerlegten Verdachts ausgewiesen.

Die häufigste Begründung war, daß die Betroffenen in ärmlichen Verhältnissen eingewandert, nun aber reich seien, daß sie es also verstanden hätten, sich während der tiefsten Not des deutschen Volkes zu bereichern. Nirgendwo fehlt der Schluß: X sei also ein gefährlicher Schädling am deutschen Volk, der die Wiedergutmachung behindere und demgemäß auszuweisen sei. Folgt Anführung der rechtlichen Bestimmungen: Die Verordnungen des Gesamt-Staatsministeriums über den bayerischen Ausnahmezustand, die Erlasse des General-Staats-Kommissars von Kahr. Gleichzeitig wird auf Grund des Erlasses vom 17. Oktober des General-Staats-Kommissars die Wohnungsbeschlagnahme bei den Ausgewiesenen ausgesprochen. Als Rechtsmittel gegen die Ausweisung wird eine bei der Polizei-Direktion innerhalb 3 Tagen einzureichende Beschwerde an den General-Staats-Kommissar angegeben. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, die Wohnungsbeschlagnahme tritt aber erst mit der Verwerfung der Beschwerde in Kraft. Zuständige bayerische Stellen geben zu, daß eine Behandlung der Beschwerden von Fall zu Fall nicht beabsichtigt, sondern eine generelle Erledigung (also Verwerfung) vorgesehen ist. Gezeichnet sind die Ausweisungen vom Polizei-Präsident Mantel und für die beglaubigte Unterschrift von Kriminal-Oberkommissar Prohaska.

Es ist Anweisung herausgegangen, die Ausweisungen in ganz Bayern durchzuführen. In Nürnberg finden die ersten Ausweisungen ab 1. November statt, nämlich nach Übertragung der Polizei-Gewalt von der Stadt auf den[928] Staatskommissar Gareis. Die Ausweisungen im übrigen Bayern erfolgen durch die Regierungs-Präsidenten.

In München wohnen etwa 400 ostjüdische Familien. Auf Protest gegen die Ausweisungen wurde an zuständiger bayerischer Stelle erklärt, man müsse dankbar dafür sein, daß die Sache auf diese Weise erfolge. Bei Ausschreitungen wäre die Polizei vielleicht nicht imstande, die Juden zu schützen. Intervention beim Minister für soziale Fürsorge und dem Handelsminister, die auf die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen der Ausweisungen hingewiesen wurden2, hatten den Erfolg, daß beide Herren3 die angeführten Gründe für vollkommen berechtigt erklärten und versprachen, sich vom Standpunkt ihrer Ressorts aus der Sache anzunehmen. Sie konnten aber keine Hoffnung machen, daß sie absolut machtlos und nicht einmal in Angelegeheiten ihrer Ressorts gehört würden.

2

S. dazu die Bemerkung der „Münchener Post“ in Anm. 12 zu Dok. Nr. 193.

3

Der Minister für Soziale Fürsorge H. Oswald gehörte der BVP an; W. v. Meinel, der Wirtschaftsminister, war parteilos.

Der bayerische Industriellen-Verband hat im Namen der Wirtschaft Protest beim General-Staats-Kommissar eingelegt, der wirkungslos blieb.

Es muß darauf hingewiesen werden, daß bisher gegen keinen der Betroffenen irgend etwas Ernsthaftes vorliegt. Die Polizei stellt z. B. den Ausgewiesenen Leumundszeugnisse aus, nach denen über sie nichts Nachteiliges bekannt ist. Es handelt sich um lauter Familien, die seit 20–30 Jahren in München ansässig sind und die sich in dieser Zeit emporgearbeitet haben, großenteils nicht durch Handel, sondern durch Gründung industrieller Unternehmungen. Daß sie wirklich ganz einwandfrei sind, zeigt schon, daß sie als Ostjude noch immer in München leben. Jeder Ostjude, der sich das geringste zu Schulden kommen ließ, wurde nach der bisherigen Praxis schon von 1920 an sofort ausgewiesen.

Den Ausgewiesenen ist zugesichert worden, daß sie ihr Vermögen und ihren Besitz mitnehmen dürften. Hierzu ist zu bemerken, daß dem Besitzer einer kleinen Zigaretten-Fabrik die zur Bahn transportierten Tabakbestände polizeilicherseits zurückgehalten wurden mit der Begründung, daß die Maschinen nicht stillgelegt werden dürften (Bestimmung des Demobilmachungsamtes), und daß die Rohware zum Betrieb notwendig wäre. Auf die Frage, wie er seinen Betrieb weiterleiten solle, wenn er nicht an Ort und Stelle wäre, wurde ihm erwidert, es bliebe ihm unbenommen, sich einen Vertreter zu nehmen. Der Betroffene erwiderte, daß sein Betrieb zu klein sei, um die hohen Kosten dafür zu tragen. Der Beamte antwortete mit Achselzucken. Ein Teil der Ausgewiesenen hat sich an seine Konsulate gewandt. Da ich als deutscher Staatsangehöriger nicht mit fremden Konsulen in Beziehung treten wollte, kann sich dieser Teil meines Berichtes nur auf Aussagen der Betreffenden und nicht auf eigene Wahrnehmung stützen. Doch glaube ich, daß die Aussagen richtig sind, da mehrere Personen unabhängig voneinander dasselbe erzählten. Der polnische Konsul habe sofort um Verhaltungsmaßregeln gebeten und scharfe Repressalien polnischerseits in Aussicht gestellt. Kurz vor meiner Abreise hörte ich, daß Antwort[929] auf die Anfrage da sei, auf daß für jeden ausgewiesenen Polen mehrere Deutsche aus Polen ausgewiesen werden sollten4. Die polnische Regierung behalte sich evtl. weitere Schritte vor5.

4

Vom poln. Generalkonsulat in München war an den GeneralStKom. am 26.10.23 ein Schreiben gegen die Ausweisungsbeschlüsse gegen poln. Staatsbürger gerichtet worden, da diese „den Stempel einer Massenausweisung“ tragen würden. Die polizeilichen Durchsuchungen seien ergebnislos verlaufen und die Ausweisung mit nichtigen Begründungen und gleichzeitiger Wohnungsbeschlagnahme verfügt worden. Dadurch und durch die Setzung einer Frist von 14 Tage für die Geschäftsabwicklung sei „die Absicht offenbar, durch die Ausweisung gleichzeitig eine völlige Existenzvernichtung der Betroffenen zu erzielen.“ Das Generalkonsulat hatte um eine Zurückziehung der Verfügungen und eine Antwort bis 29.10.23 gebeten. „Sollte das Generalkonsulat bis zu dem Zeitpunkt von der Rückgängigmachung der Ausweisungen nicht benachrichtigt sein, wird sich die Polnische Regierung zu ihrem Bedauern gezwungen sehen, Vergeltungsmaßnahmen in Anwendung zu bringen“ (R 43 I /2193 , Bl. 95). Darauf wurde am 30.10.23 im Auftrag des Generalstaatskommissars erwidert, für die Ausweisung seien die Polizeibehörden Bayerns zuständig. Die Maßnahmen seien zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung erforderlich und nicht gegen Angehörige bestimmter Staaten gerichtet. „Der den Ausländern zugesicherte Schutz kann seitens des Staats nur gewährleistet werden, wenn unnachsichtlich gegen diejenigen Ausländer eingeschritten wird, die das Gastrecht des bayerischen Staats mißbrauchen. Den Ausgewiesenen bleibt es unbenommen, gegen die Verfügung Beschwerde einzulegen. Bei Würdigung der Beschwerde muß jedoch den Gründen ebenfalls volle Rechnung getragen werden, die die Maßnahme erforderlich machten“ (R 43 I /2193 , Bl. 96). In einem Schreiben vom 15.11.23 an StS v. Haniel übte das Bayer. StMin. des Äußern Kritik am zuständigen Referenten des Generalkonsulats, der sich „in echt polnischen Formen und wenig diplomatisch betragen“ habe, „so daß ihm mit Entschiedenheit begegnet werden mußte. Er hat z. B. den Amtsraum des Oberregierungsrates Freiherrn von Aufseß mit brennender Zigarette betreten“ (R 43 I /2193 , Bl. 112). Am 9.1.24 berichtete schließlich v. Haniel, daß die Spannungen mit dem Generalkonsul wegen der Ausweisungen angehalten hätten, wie aus einem Schreiben des Bayerischen Ministerium des Äußeren hervorgehe. „Mit Rücksicht darauf, daß der polnische Generalkonsul trotz Weisung seiner Regierung und trotzdem ihm dies von den hiesigen Stellen nahegelegt worden ist, es unterlassen hat, mit den Polizeidirektionen wegen der Ausweisungen zu verhandeln und stattdessen versucht hat, sich unmittelbar an die Regierung zu wenden, wird in dem Schreiben des weiteren erklärt, daß der gegenwärtige Leiter des hiesigen polnischen Generalkonsulats nicht das Vertrauen der hiesigen Regierung besitze und die polnische Regierung daher gebeten werde, die Stelle mit einer anderen geeigneteren Persönlichkeit zu besetzen“ (R 43 I /2193 , Bl. 122).

5

S. Dok. Nr. 221.

Es ist bisher ein einziger tschechischer Staatsangehöriger ausgewiesen worden namens Czihak. Cz. ist nicht Jude. Es sind ihm angeblich jahrelange schwere Steuerhinterziehungen nachgewiesen (die bayerische Regierung legt Wert darauf, zu erklären, daß nicht nur Juden ausgewiesen werden. Cz. ist aber der einzige nichtjüdische Fall und in diesem einzigen Fall liegen im Gegensatz zu den jüdischen Fällen Verfehlungen des Ausgewiesenen vor.) Der tschechische Konsul erklärte, Cz. solle nur dableiben und sich ruhig internieren lassen. Die Ausweisung gegen Cz. ist inzwischen, der bisher einzige Fall, zurückgenommen worden.

Ausgewiesen wurden 2 preußische Staatsangehörige, Brüder Nathan, die im Felde gewesen sind, und von denen einer Offizier geworden sein soll6. Bei meiner Abreise waren diese Ausweisungen nicht zurückgenommen worden. Es scheint die Absicht zu bestehen, weitere nichtbayerische Deutsche auszuweisen.[930] Auch wurde von zuständiger Stelle erklärt, daß man beabsichtige, eventuell durch Internierung, Schutzhaft oder Anweisung eines Zwangswohnsitzes gegen Bayern, die sich unverhältnismäßig bereichert hätten, vorzugehen. Es ist zweifellos, daß es sich nur um Juden handeln wird. Von unterrichteter Stelle wurde mehrfach erklärt, daß es sich um einen Teil des Friedensabkommens zwischen Herrn von Kahr und Hitler handelt, das auf diese Weise verwirklicht wurde7.

6

Nach einem anderen Bericht, der der Rkei am 29. 10. zugeleitet worden war, stammte Nathan aus Ostrowo, war im Krieg zum Unteroffizier befördert worden und besaß sowohl das Eiserne Kreuz wie die Bayerische Kriegsmedaille. Nach dem Krieg hatte er für Deutschland optiert (R 43 I /2193 , Bl. 75).

7

S. dazu Dok. Nr. 201.

 

Gegen die deutschen Juden hilft man sich bisher zumeist durch ein System des Terrors. In den letzten Tagen sind in Nürnberg in der Zeit von ½11 Uhr abends ab zahlreiche angesehene jüdische Bürger von uniformierten Banden überfallen und niedergeschlagen oder niedergestochen worden. In den Tagen meiner Anwesenheit in Nürnberg, z. B. der Rechtsanwalt Dr. Orthal und 2 16–17jährige junge Leute Veith und Emmerich, die durch Dolchstiche lebensgefährlich verletzt wurden.

Während meiner Anwesenheit in München sind solche Fälle nicht vorgekommen, dagegen seit dem Überfall auf Kommerzienrat Fraenkel eine große Anzahl bis in die Tage meiner Ankunft in München.

In den kleinen Orten ist die Unsicherheit teilweise noch größer, besonders augenblicklich in Bamberg, Kronach und Kitzingen. Die Polizei greift nirgends ein außer in Nürnberg, wo die Polizeigewalt bis zum 1. November in den Händen der Stadt liegt. Dort wurde das Café Zentral und das Café Habsburg, die von uniformierten Banden überfallen wurden, polizeilich geschützt.

In München sind am letzten Sonntag zuerst wieder größere Teile der Hitler-Truppen feldmarschmäßig durch die Stadt marschiert, ein Beweis der Einigung zwischen Kahr und Hitler. Ich habe in München am letzten Sonntag zum ersten Mal Hitler-Mannschaften mit dem Seitengewehr am Koppel sowohl in geschlossenen Formationen wie einzeln auf der Straße gesehen.

Der größere Teil der bewaffneten Verbände scheint sich in Nord-Bayern zu befinden7a. Die Zahl der uniformierten National-Sozialisten in Nürnberg[931] z. B. ist anscheinend erheblich größer als in München. In der kleinen Stadt Neustadt a. d. Aisch wurden am letzten Sonntag 300 uniformierte Leute gezählt, die in Marschkolonne durch die Stadt marschierten. Die Mannschaften sind meistens sehr jung, durchschnittlich 17–18 Jahre. Die Truppe macht durchaus den Eindruck von Militär8.

7a

In einer Zusammenstellung auf Grund von „Grenzschutzbefehlen“ für den „Grenzschutz Nord“ im Jahr 1923 aus dem Akt „Kahr“ Ref.B. der Landespolizei Bayreuth wird festgestellt: „Dieser Grenzschutz wurde gestellt von Teilen der bayr. Landespolizei und vaterländischen Verbänden; die Verbände wurden hierzu als ‚Polizeiliche Nothilfe Bayerns‘ (P.N.B.) aufgerufen. Der Grenzschutz unter dem Befehl der L.Polizei sollte die Nordgrenze Bayerns gegen politische Agenten und rote Verbände sichern“ (BA-MA: NL von Rabenau  41). Ferner wird auf einen Bericht des Kommandos der Landespolizei Coburg vom 17.12.23 (Akt: Innerpolitisches und Arbeiterbewegung) verwiesen, in dem es heißt, „daß die Stimmung der nordbayerischen Bevölkerung sehr gegen die im Nov. 23 dort aufgebotenen Verbände gewesen sei (wegen Quartier-, Vorspann- und Arbeitsleistung) und daß die Verbände ausländische Zahlungsmittel verwendet hätten“ (ibid.; Regesten zusammengestellt wahrscheinlich v. Heeresarchiv München 1939). Der thüringische Staatsrat Brill hatte am 29.10.23 dem RIM Bericht erstattet und zusätzliche Mitteilungen übersandt, in denen auf das Auftreten Ehrhardts und Hitlers im Raum Coburg verwiesen wurde (R 43 I /2714 , Bl. 43–46). In einem Lagebericht des Leiters der thüringischen Landespolizei Müller-Brandenburg vom 26.10.23 war ausgeführt worden, daß „die unmittelbar an die Grenze Thüringens, insbesondere im Raume Nordalben – Kronach – Lichtenfels – Ebern – Marolsweisach – Koburger Kessel stehenden illegalen Kampfformationen sehr erhebliche Kräfte gesammelt haben“ (R 43 I /2314 , Bl. 150). Am 31.10.23 telegrafierte das Thür.StMin. an die RReg.: „Vorgänge an bayerischer Grenze bilden unmittelbare Gefahr für Reich und Thüringen. Lage verschärft sich stündlich. In Kronach, Coburg, Rodach illegale militärische Aushebungen im Gange. Auf thüringische Schutzpolizei von bayerischer Seite geschossen. Zahlreiche Flüchtlinge vor Terrorakten rechtsradikaler Organisationen in Bayern nach Thüringen übergetreten.“ In einem gleichzeitig angekündigten Bericht mit Meldungen des in Thüringen gebildeten „Grenzschutz Süd“ wurden ausführlich die Aktivitäten der in Bayern gegen Thüringen aufmarschierten Verbände dargelegt. „Diese Nachrichten sind von den absendenden Behörden überprüft und können darum nicht als Alarmmeldungen betrachtet werden. Sie zeigen daher die von den an der Grenze angesammelten illegalen bayerischen Kampfverbänden ausgehende ungeheure Gefahr für Thüringen und das Reich, deren Abwendung nur umgehende Reichsmaßnahmen herbeiführen kann“ (R 43 I /2314 , Bl. 158–163).

8

Vom Leiter der thür. Landespolizei Müller-Brandenburg war dem RKom. für öffentl. Ordnung am 26. 10. bereits gemeldet worden, daß sich an der bayerisch-thüringischen Landesgrenze starke illegale Kampfverbände gesammelt hätten, während die bayerische Schutzpolizei und Einheiten der 7. Division sich in rein defensivem Grenzschutz verhalten würden. Es erscheine zweifelhaft, ob die bayer. Regierung in der Lage sei, die illegalen Verbände vom Einbruch nach Thüringen zurückzuhalten (R 43 I /2314 , Bl. 150). Am folgenden Tag wurde in einem weiteren Bericht ausgeführt, daß Einheiten der Brigade Ehrhardt bei Coburg konzentriert seien, wo auch Übungen in Anwesenheit Münchener Reichswehroffiziere stattgefunden hätten. „Die Ausrüstung der vaterländischen Verbände wird südlich Coburg mit großem Eifer betrieben, Waffenverteilung geschieht durch bayer. Landespolizei und Brigade Ehrhardt. An der ganzen thüringischen Grenze bemerkt man überall starke illegale Formationen. In Gegend Neustadt sind Schützengräben bereits aufgeworfen. Überall hört man die Ansicht, daß der Vormarsch bald beginnen könne. Man hofft, schnell einen Grund zu haben, durch Unruhen oder Bewaffnung von proletarischen Hundertschaften in Thüringen; auch beim Stab Ehrhardt hört man viel reden vom Marsch nach Berlin.“ Bei Bamberg wimmele es von Einheiten aller Art: Ehrhardt, Nationalsozialisten, Oberland, Reichswehr, österreichischen Stoßtrupps. „Bewaffnung ist überall gut; sehr viel Maschinengewehr-Fahrzeuge sind zu sehen. Löhnung der Truppe außer Reichswehr erfolgt in Devisen, und zwar in österr. Kronen und franz. Franken“ (R 43 I /2314 , Bl. 151). Am 26.10.23 hatten die Nationalsozialisten in Neustadt das Amtsgericht besetzt, und von dort aus seien sie mit dem Ruf „Straße frei!“ gegen die Bevölkerung auf der Straße mit Schlägen und Schüssen vorgegangen. Sie hätten sich als Notpolizei ausgegeben und in brutaler Weise Verhaftungen vorgenommen (R 43 I /2134 , Bl. 167–173). S. a. Anhang Nr. 1; vgl. ferner J. Erdmann, Coburg, Bayern u. d. Reich, S. 139 ff.

Die politischen Parteien in Bayern sind anscheinend völlig machtlos. Das scheint, wie eine Unterredung mit Geheimrat Held ergab, auch für die bayerische Volkspartei zuzutreffen. Der „Völkische Beobachter“ terrorisiert sämtliche Parteien, so brachte er z. B. steckbriefartig das Bild des bekannten bayerischen Bauernführers Dr. Georg Heim mit der Unterschrift: „Dr. Heim, der 1919 das Rheinland an Frankreich verkaufen wollte.“ Auf ähnliche Weise werden geächtete Juden und Nichtjuden im „Beobachter“ fast täglich mit Bild oder unter Adressenangabe bekanntgemacht.

Viele unterrichtete Leute in Bayern glauben übrigens, daß in kurzem Kahr durch Hitler abgelöst werden würde. Daß jedenfalls die Macht des General-Staats-Kommissars der der Nationalsozialisten gegenüber im Abnehmen begriffen ist. Man sagt für diesen Fall wirklich Progrome voraus. Jedenfalls verlassen zahlreiche, alteingesessene jüdische Familien unter diesen Umständen München.

[932] Die Namen meiner beamteten Gewährsmänner will ich aus begreiflichen Gründen nicht angeben.

Einzelne Ausweisungen:

Ich führe wahllos einige Fälle an, die ein Bild von der Ausweisungspraxis ergeben.

1.

Bernhard Ass, verheiratet, lebt in München seit 30 Jahren, seine Kinder (Sohn Josef 13 Jahre alt, Tochter Paula 21 Jahre alt) sind in München geboren. Als Begründung wird angegeben, daß Ass vor mehreren Jahren als einfacher Arbeiter ohne Vermögen zugezogen sei. Der Mann hat in 3 Jahrzehnten es verstanden, eine bedeutende Fabrik aufzubauen, die 200 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Es ist einer der wenigen Betriebe in München, die bis zuletzt voll gearbeitet haben. – Nächst der Bereicherung wird ihm Besitz von Goldgeld (im ganzen Nennwert von 100 Goldmark) sowie der von goldenen Uhren und Schmucksachen vorgeworfen. Die Behauptung, Ass habe zu polizeilichen Beanstandungen Anlaß gegeben, wird nicht belegt. Polizeistrafen oder andere Strafen sind in keinem Falle erfolgt.

2.

Selig Orljansky, verheiratet, 5 Kinder, die zum Teil in München geboren sind, lebt seit 17 Jahren in München. Es wird ihm vorgeworfen, daß er es schnell zu Vermögen gebracht hat. Or. ist nicht Händler, sondern Kürschner, der lange Jahre bei ersten Münchner Firmen gearbeitet hat, sich 1910 eine kleine selbständige Existenz errichtet hat und es seitdem in angestrengter Selbstarbeit zu etwas gebracht hat. Der Vorwurf, Or. sei politisch nicht zuverlässig, scheint auf Denunziation zu beruhen. O. ist politisch ganz uninteressiert, es wird ihm aber vorgeworfen, daß er während des Krieges als Kassierer des österreichisch-ungarischen Hilfs-Vereins in München Personen unterstützt habe, die während der Rätezeit später hervorgetreten seien.

3.

Isidor Fett, verheiratet, lebt seit 20 Jahren in München, Generaldirektor der Firma Münchener Lichtspiel-Kunst, Mitbegründer der Münchener Film-Industrie, von rechtsstehenden Münchener Blättern vielfach als „einer der Kapitäne des Münchener Wirtschaftslebens“ genannt. Die Naturalisation war bereits genehmigt; an dem Tage, wo er sich seinen Paß als bayerischer Staatsangehöriger abholen wollte, trat die Ausweisung ein. Begründung: Schnelle Bereicherung, also Wirtschaftsschädigung.

4.

Schein, verheiratet, 3 Kinder, sämtlich in München geboren, lebt seit 12 Jahren in München. Vorwurf: Strafe wegen Beihilfe zu verbotener Ausfuhr. Diese bestand darin, daß ein unbekannter Kunde einen einzelnen Gegenstand im Werte von 9 Goldmark kaufte und diesen unbefugt über die Grenze bringen wollte. Schein hatte keine Kenntnis davon und natürlich keinen Einfluß auf das Verhalten des Mannes.

5.

Chaim Hojda, verheiratet, 3 Kinder, die in München geboren sind, lebt seit 20 Jahren in München. Begründung: Seine Tochter, die seit langem verheiratet ist und nicht bei ihm wohnt, sei vor längerer Zeit wegen Preistreiberei bestraft worden. Es handelt sich um eine kleine Geldstrafe. [933] Der Mann hat natürlich nicht den geringsten Einfluß auf das Verhalten seiner Tochter gehabt und ist niemals irgendwie bestraft worden9.

9

In einem Schreiben des Bayer.StMin. des Äußeren an den Vertreter der RReg. München, in dem die Begründung zu 42 Ausweisungsfällen angeführt wurde, heißt es bei Chaim Hojda: „Verfahren wegen Betrugs anhängig gewesen. Tochter ist wegen Preistreiberei bestraft“ (R 43 I /2193 , Bl. 102–106).

Den angeführten Fällen entsprechen alle anderen.

Extras (Fußzeile):