1.16 (vpa2p): Nr. 145 Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands an die Reichsregierung. 16. September 1932

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Nr. 145
Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands an die Reichsregierung. 16. September 1932

R 43 I /1144 , Bl. 40–421

1

Am Kopf des Schreibens Sichtvermerke des RK und des StSRkei.

[Notlage der Arbeislosen und der von Lohnkürzungen betroffenen Arbeitnehmer]

Die Notlage, von der infolge der Regierungsmaßnahmen der letzten Monate weiteste Kreise der Arbeiterschaft betroffen sind, muß, wenn ihr nicht bald Einhalt geboten wird, zu den schwerwiegendsten Folgen für das gesamte Volks- und Staatsleben führen. Insbesondere ist die Lage der Arbeitslosen und Kleinrentenempfänger durch die Notverordnung vom 14. Juni geradezu trostlos geworden2.

2

RGBl. 1932 I, S. 273 . – In einer diesem Schreiben beigefügten gedruckten „Denkschrift über die Notlage der Arbeiterschaft“ führt der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands folgende „Neubelastungen der Arbeiterschaft durch die Notverordnung [vom 14.6.32] und die sie ergänzenden Verordnungen“ auf: „1. Senkung der Unterstützungssätze der Arbeitslosen um durchschnittlich 23 Prozent; 2. Kürzung der versicherungsmäßigen Unterstützung von 20 (bezw. 16) Wochen auf 6 Wochen; 3. Verlassen des Versicherungsprinzips durch Einführung der Hilfsbedürftigkeitsprüfung; 4. Senkung der Wohlfahrtsunterstützung um 15 Prozent; 5. einseitige Sonderbelastung der Arbeitnehmer durch die „Abgabe zur Arbeitslosenhilfe“; 6. Rentenkürzungen in der Invalidenversicherung um 7–4 RM je Monat; 7. gleiche Kürzung in der Knappschaftlichen Versicherung; 8. Kürzung der Unfallrenten um 7 bezw. 15 Prozent; 9. Kürzung der Kriegsbeschädigtenbezüge; 10. Herabsetzung der pfändungsfreien Grenze für die Lohnempfänger.“ (R 43 I /1144 , Bl. 43–60).

[592] Die Bezüge, die den genannten Kreisen nach Abzug der Miete durchweg noch verbleiben, reichen vielfach nicht mehr, um auch nur den allerbescheidensten Nahrungsbedarf zu decken. An die Deckung von Kleidungsbedarf und einfachsten Kulturbedürfnissen ist überhaupt nicht mehr zu denken. Hinzukommt. daß die Anrechnung von kleinen Ersparnissen, von geringer Vieh-, Garten- oder Landnutzung sich als eine Strafe auf Fleiß und Sparsamkeit auswirken. Trotz zwangsweise abgehaltener Beiträge, die als vorenthaltener Lohnanteil bewertet werden müssen, sind den Arbeitslosen die Rechte der Versicherung fast ganz genommen.

Die außerordentlich große Notlage ist aus dem Material, das uns fast täglich zugeht und von dem wir nur einen kleinen Teil diesem Schreiben beifügen3, klar ersichtlich. Wir bitten die Reichsregierung dringend, sich mittels Einsichtnahme in diese Aufstellungen von der Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes und der Gefahr, den derselbe für die Volksgesundheit und das staatliche Gemeinschaftsleben in sich birgt, zu überzeugen. Gleichzeitig sprechen wir die ebenso dringende Bitte und Erwartung aus, diese Zustände zu ändern.

3

Die beigefügte Denkschrift (vgl. oben Anm 2) enthält eine Aufstellung über die infolge der NotVO vom 14.6.32 erheblich verschlechterte soziale Lage von 100 namentlich genannten Einzelpersonen. Daraus drei Beispiele: 1) „Anna Eßwein aus Karlsdorf (Baden) erhielt bisher wöchentlich 6,20 RM Unterstützung. Die Unterstützung wurde ihr auf Grund der Notverordnung vom 14. Juni 1932 entzogen, weil sie eine monatliche Rente von 17,70 RM bezieht.“ 2) „Karl Höhner, Bergeborbeck, Karolus-Magnus-Str. 15, hat den Unterhalt für sich und seine Ehefrau und vier Kinder unter 16 Jahren zu bestreiten. Seine Unfallrente beträgt ab 1. Juli d. J. nur 49,90 RM, Zusatzunterstützung des Wohlfahrtsamts monatlich 19,65 RM, kein weiteres Einkommen. Also je Person und je Tag 39 Pfennig.“ 3) „Wilhelm Möller, B.-Linden, Hattinger Str. 611, verheiratet, drei Kinder. Er bezog vor der Notverordnung an Krisenunterstützung 18,55 RM. Dieselbe ist ihm jetzt auf 9,95 RM wöchentlich gekürzt worden. Insbesondere hat man seiner Unterstützung, da er Eigenheimer ist, auch die Mietsbeihilfe voll abgezogen.“

Eine durchgreifende Änderung dieses Zustandes ist nicht allein aus menschlichen, sondern auch aus staatspolitischen Gründen notwendig. Selbst die sittlich stärksten Persönlichkeiten verlieren im ständigen Kampf mit dem Hunger und der Verschlechterung ihrer Lebensgrundlage die innere Verbindung mit der staatlichen Gemeinschaft, und die Gefahren, dir für den Staat und das Volksganze aus der unausbleiblichen Radikalisierung entstehen, sind offenkundig. Durch unsere Verbindung mit den Notleidenden und den arbeitenden Schichten haben wir genügend Einblick in die Verhältnisse, um beurteilen zu können, wie groß die Notlage und wie ernst die Gefahren sind.

Größte Sorge um das Schicksal von Millionen Volksgenossen und um die Entwicklung unserer Wirtschaft veranlassen uns, auch kurz auf die letzte Notverordnung4 zurückzukommen. Nachweisbar sind die heutigen Löhne in weiten[593] Bezirken und vielen Berufen bereits soweit gesenkt, daß kaum mehr die Lebensmöglichkeit gesichert ist. Ein Einblick in die Ausweise der Berufsgenossenschaften, der Invalidenversicherung, der Krankenkassen etc. bestätigt das. Wir müssen uns deswegen auf das nachdrücklichste dagegen wenden, daß durch die letzte Notverordnung die auch von uns dringend gewünschte „Ankurbelung der Wirtschaft“ nur auf Kosten der bereits gedrückten Löhne geschieht. Es ist u. E. unmöglich, zu einer wirklichen Gesundung zu kommen, wenn die Senkung der Gestehungskosten immer wieder zu Lasten des Lohnfaktors erfolgt. Die Lohnkürzungen, die auf Grund der neuen Notverordnung ermöglicht werden5, schaffen weithin ein Lohnniveau, bei dem weder Freude zur Arbeit aufkommen noch die notwendige Kaufkraft gesichert werden kann. Die verstärkte Zollpolitik, die uns zunehmend vom Weltmarkt abdrängt und infolge der Schwächung der Kaufkraft den inneren Markt verengt, erhöht die Notlage der arbeitenden Schichten und gefährdet einen dauernden und erfolgreichen Wiederaufstieg.

4

VO „zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit“ vom 5.9.32 (RGBl. I, S. 433 ).

5

Vgl. Anm 9 zu Dok. Nr. 112.

Wir bitten die Reichsregierung nochmals dringend, sich an Hand der beiliegenden Denkschrift von der furchtbaren Notlage zu überzeugen und durch zweckdienliche Maßnahmen dafür sorgen zu wollen, daß eine Beseitigung der unhaltbaren Zustände erfolgt6.

6

Auf Grund dieser Eingabe wurden die Vertreter des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Otte, Schmidt und Behrens am 1.10.32 vom RK zu einer Aussprache in der Rkei empfangen. Vogels hierüber in einem kurzen Vermerk vom 3. 10. u. a.: „Die Hauptbitte der Erschienenen ging dahin, daß die Unterstützungssätze für die Arbeitslosen baldigst erhöht werden möchten. Der Herr Reichskanzler sagte eine wohlwollende Prüfung dieser Forderung zu und verwies darauf, daß ja der Herr Reichsarbeitsminister entsprechende Maßnahmen bereits angekündigt habe.“ (R 43 I /1144 , Bl. 61). Zu dieser Ankündigung des RArbM s. Anm 26 zu Dok. Nr. 154. – Eine geringfügige Erhöhung der Arbeitslosenunterstützungssätze erfolgte durch VO des RK vom 19.10.32 (RGBl. I, S. 499 ). Vgl. dazu auch Dok. Nr. 168, P. 6.

Gesamtverband der

christlichen Gewerkschaften Deutschlands

Hauptgeschäftsstelle

Bernh. Otte

Vorsitzender

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