1.6 (wir1p): VI Verhältnis zwischen Reich und Ländern

Zur ersten Fundstelle. Zum Text. Zur Fußnote (erste von 38). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

Extras:

 

Text

VI Verhältnis zwischen Reich und Ländern

Die Länder haben offenbar stärkere Beteiligung an der Politik des Reiches angestrebt345. Eine von Wirth einberufene Sitzung der Ländervertreter zur allgemein-politischen Information und Diskussion fand dann auch in diesem Kreise Anerkennung und Beifall346. Die Regel wurden solche Sitzungen indes nicht. Vielmehr blieben die politischen Kontakte auf solche Fälle beschränkt, in denen Reich und Länder konkurrierende Eigeninteressen verfolgten, in denen man also gezwungen war, sich auseinanderzusetzen. Solche Gelegenheiten boten sich etwa bei der Neuordnung der Polizei347, der Republikschutzgesetzgebung,[LXVII] bei den Bemühungen um ein Reichskonkordat und in der Bildungspolitik.

345

Siehe etwa die Haltung Preußens in Dok. Nr. 15.

346

Siehe Dok. Nr. 192.

347

Siehe dazu oben S. LI.

1. Maßnahmen zum Schutz der Republik

Auf die Ermordung des Zentrumsabgeordneten Erzberger, die nach Auffassung des Kabinettsrats u. a. eine Folge der Verhetzung der Rechtspresse war und eine Gefährdung der Republik darstellte, hatte die Reichsregierung mit einer Verordnung zum Schutze der Republik und einem Aufruf an die Bevölkerung reagiert.

Die am 29.8.1921 aufgrund des Artikels 48 der Reichsverfassung zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erlassene Verordnung räumte dem Reichsminister des Innern weitgehende Vollmachten im Presse- und Versammlungsrecht ein348. Einen Tag nach ihrem Erlaß protestierte die Bayerische Staatsregierung durch den Gesandten von Preger bereits im Reichsrat gegen die Verordnung, die ohne Fühlungnahme mit den Ländern erlassen worden sei349.

348

Siehe Dok. Nr. 76.

349

Siehe Dok. Nr. 80, Anm. 1.

Die Unvereinbarkeit der gegenseitigen Standpunkte – von Kahr hatte sich vor dem Bayerischen Staatsministerium am 5.9.1921 darauf festgelegt, es gehe letzten Endes um den Fortbestand des Landes Bayern350 – machte intensive Verhandlungen der Reichsregierung mit den Vertretern der bayerischen Regierung erforderlich.

350

Siehe Dok. Nr. 80, Anm. 2.

Schon vor der Aufnahme der Gespräche mit der unter der Führung des bayerischen Staatssekretärs Schweyer stehenden Sonderkommission scheint neben der Republikschutzverordnung auch die Frage diskutiert worden zu sein, ob der durch die bayerische Verordnung aus dem Jahre 1919 in Bayern bestehende Ausnahmezustand aufzuheben sei351. In den nachfolgenden Verhandlungen kam zwar ein Kompromiß zustande – das Reich wollte einer Abänderung der Republikschutzverordnung in gewissen Grenzen zustimmen, wenn Bayern den alten Ausnahmezustand beseitige –, doch verhinderte die Demission von Kahrs aus diesem Anlaß zunächst die Durchführung352.

351

Siehe Dok. Nr. 80.

352

Siehe Dok. Nr. 81 u. 83; zum Rücktritt der bayer. Reg. s. Dok. Nr. 89.

So war die Gefahr des offenen Konflikts nicht gebannt, als der Reichskanzler am 13.9.1921 den Interfraktionellen Ausschuß über die Lage informierte353.

353

Siehe Dok. Nr. 87, P. 1.

Mit einiger Verzögerung durch die Regierungsbildung in Bayern konnte der Streitfall schließlich durch ein zwischen dem neuen Ministerpräsidenten Graf Lerchenfeld und dem Reichskanzler ausgehandeltes Protokoll auf der Basis des vorher angestrebten Kompromisses bereinigt werden: die Bayerische Regierung sagte die Beendigung des Ausnahmezustandes mit Wirkung vom 15.10.1921 zu; dafür sollte das Reich die bisherige Verordnung aufheben und[LXVIII] durch eine im Sinne der voraufgegangenen Besprechungen abgeänderte ersetzen. Die neue Verordnung des Reiches wurde im Dezember 1921 wieder aufgehoben354.

354

Siehe Dok. Nr. 99, Anm. 1; Dok. Nr. 104 u. Dok. Nr. 129, Anm. 4.

Zu einem zweiten, in seinen Konsequenzen schwerwiegenderen Konflikt zwischen Bayern und dem Reich kam es, als die Reichsregierung nach der Ermordung Rathenaus gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz der Republik vorbereitete und bis zum Zustandekommen des Gesetzes eine weitere Verordnung zum Schutz der Republik erließ355.

355

Siehe Dok. Nr. 299; Dok. Nr. 300; Dok. Nr. 301; Dok. Nr. 302 u. Dok. Nr. 303.

Schon innerhalb des Kabinetts hatte es eine heftige Auseinandersetzung über das Anwendungsgebiet des Gesetzes gegeben: sollte der Reichsjustizminister Radbruch zu der Erklärung im Reichstag ermächtigt werden, daß, „wer auf republikanischem Boden“ stehe, nicht unter die Bestimmungen der Verordnung fallen werde? Mit einer solchen, öffentlich bekundeten Versicherung, die Verordnung richte sich nicht gegen links, wollte Radbruch und in späteren Äußerungen auch der Reichskanzler die Stimmen der USPD für das Gesetzgebungswerk gewinnen, während Minister Hermes mit aller Schärfe auf die Bedenklichkeit einer nur gegen rechts gerichteten Ausnahmeverordnung hinwies356. Der Reichskanzler war zwar grundsätzlich bereit, gewisse Rücksichten auf Bayern zu nehmen, doch machte er gleichzeitig noch einmal sehr deutlich, daß für ein Gesetz mit Anwendbarkeit gegen rechts und links keine parlamentarischen Chancen bestünden, weil die USPD dann ihre notwendige Mitarbeit versagen würde357.

356

Siehe Dok. Nr. 300.

357

Siehe Dok. Nr. 303.

Auf die diesbezüglichen Mitteilungen Wirths vor den Ministerpräsidenten der Länder am 29.6.1922 forderte Lerchenfeld zur Rücksichtnahme auf die bayerischen Verhältnisse auf; er wollte das Gesetz zum Schutz der Verfassung betitelt wissen, damit es notfalls auch gegen links angewendet werden könne. Im übrigen plädierte er – nur vom württembergischen Staatspräsidenten unterstützt – für eine Regelung der Probleme auf dem Verordnungswege und durch Erlaß von Ausführungsbestimmungen. Nach einer wesentlich schärferen Stellungnahme des bayerischen Innenministers Schweyer, der in dem vorgesehenen Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik ein Revolutionstribunal sah und im übrigen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfs bezweifelte, wurde klar, daß ein neuer Konflikt bevorstand358.

358

Siehe Dok. Nr. 304.

Zu einer zusätzlichen Verstimmung führte der Erlaß der zweiten Verordnung zum Schutz der Republik, die für die bayerischen Vertreter überraschend kam359. Der Gesetzentwurf zum Schutz der Republik wurde zusammen mit dem über die Pflichten der Beamten zum Schutz der Republik, der die Gruppe derer, die zur Disposition gestellt werden konnten, erweiterte und sich somit[LXIX] gegen monarchisch gesonnene Beamte richten sollte360, den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet.

359

Siehe Dok. Nr. 304, Anm. 16.

360

Siehe Dok. Nr. 310 u. Dok. Nr. 311.

Nachdem der Gesetzentwurf im Reichsrat nur geringfügige Änderungen erfahren hatte, über die Radbruch das Kabinett noch einmal mit dem ausdrücklichen Bemerken informierte, daß auch die neue Fassung eine Anwendung gegen links nicht schlechthin ausschlösse361, versuchte Lerchenfeld mit einem Telegramm vom 9.7.1922 an den Reichspräsidenten und an den Reichskanzler, deren Verständnis für den bayerischen Standpunkt zu gewinnen. Gleichzeitig formulierte er noch einmal die Hauptbeschwerdepunkte der Bayern: Die in der Schaffung des geplanten Staatsgerichtshofes und in dem Reichskriminalpolizeigesetz liegende Zentralisation beim Reich sei für Bayern untragbar; eine Vereinbarung der Länder über gemeinschaftliche Maßnahmen hingegen sei möglich362.

361

Siehe Dok. Nr. 310.

362

Siehe Dok. Nr. 325, Anm. 1.

Doch die Republikschutzgesetze nahmen mit eindeutigen Mehrheiten in Reichstag und Reichsrat ihre parlamentarische Hürde und erlangten am 21. 7. 1922 für das gesamte Reichsgebiet ihre Rechtsgültigkeit.

Bereits am 24.7.1922 erging – offenbar auf Betreiben der BVP im Landtag – eine bayerische Gegenverordnung, die zwar materiell die Bestimmungen der Reichsgesetzgebung im wesentlichen übernahm, ihren Vollzug jedoch bayerischen Organen übertrug. Die Staatsregierung begründete dieses Vorgehen als für die Wahrung ihrer staatlichen Hoheitsrechte notwendig und berief sich im übrigen auf den Artikel 48 Absatz 4 der Reichsverfassung.

Diese Konfliktsituation traf das Kabinett nicht unvorbereitet: es hatte sich bereits für den später tatsächlich beschrittenen Weg mäßigend wirkender Verhandlungen entschieden363. Um jegliche Verschärfung zu vermeiden, reagierte die Reichsregierung zunächst zwar mit der Erklärung, die bayerische Verordnung sei verfassungswidrig und ungültig364. Zugleich eröffnete sie aber mit einem Schreiben Eberts an Lerchenfeld den Weg der Verhandlungen365.

363

Siehe Dok. Nr. 325.

364

Siehe Dok. Nr. 327, Anm. 6.

365

Siehe Dok. Nr. 328 mit Anm. 2.

Nach der Antwort Lerchenfelds hierauf366 kam es am 9.8.1922 im Ministerrat zu einer ersten Fühlungnahme mit der durch Lerchenfeld selbst angeführten bayerischen Delegation. Als wichtigste Gravamina der Staatsregierung kristallisierten sich in den folgenden Verhandlungen die Errichtung des Staatsgerichtshofes und die bedrohte Staatlichkeit der Länder heraus. Letzteren Streitpunkt wollte die bayerische Regierung durch eine Verfassungsgarantie beigelegt wissen367.

366

Siehe Dok. Nr. 328, Anm. 2.

367

Zu den Verhandlungen s. Dok. Nr. 335; Dok. Nr. 336 u. Dok. Nr. 337.

Das schließlich ausgehandelte Berliner Protokoll gestand Bayern entgegen den ursprünglichen Interessen des Reiches368 in allgemeiner Formulierung[LXX] einen süddeutschen Senat beim Staatsgerichtshof zu und erlaubte Zugeständnisse bei der Abgabe von Fällen an die ordentlichen Gerichte der Länder. Im übrigen versicherte die Reichsregierung, sie sei nicht willens, über ihre verfassungsmäßigen Zuständigkeiten hinaus Hoheitsrechte der Länder an sich zu ziehen. Bayern wollte als Gegenleistung seine Verordnung bis zum 18.8.1922 aufheben369. Allerdings hatte Lerchenfeld das Protokoll nur unter Vorbehalt unterzeichnet370.

368

Siehe dazu das Gutachten des RJMin., Dok. Nr. 332.

369

Siehe Dok. Nr. 338.

370

Siehe Dok. Nr. 337, Anm. 3.

Eine endgültige Klärung der Situation war damit immer noch nicht erreicht: einen Tag vor der zugestandenen Aufhebung der bayerischen Verordnung wurde bekannt, daß die Staatsregierung und ihre Koalitionsparteien Rückfragen für notwendig hielten371.

371

Siehe Dok. Nr. 340 u. Dok. Nr. 342.

Hatte die Reichsregierung bisher durch ihre Verhandlungsbereitschaft ein gewisses Entgegenkommen gezeigt, blieb sie in den erneuten Unterredungen, zu denen die bayerische Regierung die Minister Gürtner und Schweyer entsandt hatte, fest und war zu weiteren Zugeständnissen – Bayern erstrebte die Errichtung eines rein Bayerischen Senates beim Staatsgerichtshof, die grundsätzliche Überweisung aller Vergehen an die ordentlichen Gerichte und die verfassungsmäßige Verankerung der Unantastbarkeit der Länder – nicht bereit.

In den z. T. mit Schärfe geführten Verhandlungen legte der Reichskanzler die bayerischen Unterhändler darauf fest, das neue, das Berliner Protokoll lediglich interpretierende Schreiben des Reichskanzlers372 nicht nur entgegenzunehmen, sondern vor dem bayerischen Ministerrat und den Koalitionsparteien auch zu vertreten. Am 28.8.1922 wurde die bayerische Verordnung aufgehoben373.

372

Siehe Dok. Nr. 347.

373

Zu den Verhandlungen s. Dok. Nr. 344 bis Dok. Nr. 347; zur Aufhebung der VO s. Dok. Nr. 347, Anm. 5.

Hatte der an die Grundmauern der Reichseinheit rührende Konflikt, den das Ausland mit Sorge verfolgt hatte374, die Position des Reiches nach außen geschwächt, so konnte es sich nun erneut gefestigt präsentieren.

374

Siehe Dok. Nr. 344, Anm. 3.

2. Reichskonkordat

An der langen Geschichte von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Reich und dem Vatikan bis zum Abschluß eines Reichskonkordates wirkte das Kabinett Wirth nur in einem kurzen Zeitabschnitt mit.

Bei seinem Regierungsantritt hatte Wirth, dem das vom Reichsinnenministerium und dem Auswärtigen Amt vorbereitete Reichskonkordat auch ein persönliches Anliegen war, ein Verhandlungsstadium vorgefunden, das die Besprechung auf Kabinettsebene rechtfertigte375.

375

Siehe Dok. Nr. 49.

[LXXI] Die unterschiedlichen Interessen der beiden großen Länder Bayern und Preußen prägten die Verhandlungstaktik der Reichsregierung, die jedoch eine Einigkeit dieser Länder und damit die Grundlage für Verhandlungen mit dem Vatikan nicht erreichte376.

376

Siehe Dok. Nr. 134 u. Dok. Nr. 139.

3. Bildungspolitik

Auf dem Gebiet der Bildungspolitik hatte die Weimarer Verfassung eine Ausführungsgesetzgebung vorgesehen, die aus der Zusammenarbeit von Reich und Ländern erwachsen sollte377. Von den in diesem Rahmen angelegten Aufgaben behandelte das Kabinett abgesehen von einigen Angelegenheiten geringerer Bedeutung378 die Frage der Neuregelung der Lehrerbildung; ihre Lösung scheiterte – nicht ohne daß das zu Spannungen mit den Ländern geführt hätte – an dem Problem der Kostenbeteiligung des Reiches, bevor die Vorlage detailliert diskutiert worden war379. Am 12.9.1921 hatte das Kabinett auf Antrag des Reichsfinanzministeriums beschlossen, wegen der Notwendigkeit der Erfüllung des Londoner Ultimatums keine Mittel für die Neuordnung der Lehrerbildung bereitzustellen380.

377

Art. 142–150.

378

Siehe Dok. Nr. 46; Dok. Nr. 85; Dok. Nr. 86, P. 1 u. Dok. Nr. 107.

379

Siehe Dok. Nr. 45, Anm. 2.

380

Siehe Dok. Nr. 86, P. 2.

 

Auch nachdem Staatssekretär Schulz eindringlich dargestellt hatte, daß die Länder die inzwischen konfliktgeladene Materie von sich aus regeln würden und damit eine Zersplitterung auf diesem Gebiet eintreten müßte, wich das Kabinett von dem früher gefaßten Beschluß nicht ab. Immerhin konnte der Reichsfinanzminister in seinem Schreiben vom 8.3.1922 seine ablehnende Haltung damit begründen, daß das Ausland die Notwendigkeit zu erhöhten Aufwendungen für diesen Zweck nicht einsehen werde, da das deutsche Volksschulwesen allgemein als „auf besonders hoher Stufe stehend“ angesehen werde381.

381

Siehe Dok. Nr. 215, Anm. 5.

Infolge dieses durch die Erfüllungspolitik bedingten Beschlusses, der auch vom Kabinett Cuno bestätigt wurde, trafen die Länder entgegen der Absicht der Weimarer Verfassung einzeln eine Regelung, und das Reichskabinett konnte nur den Reichsminister des Innern beauftragen, auf eine möglichst große Vereinheitlichung hinzuwirken382.

382

Siehe Kabinett Cuno, Dok. Nr. 21, P. 2 u. Dok. Nr. 41, P. 8.

Extras (Fußzeile):