2.159.1 (wir1p): 1. und 2. Maßnahmen gegen den Lebensmittelwucher. endgültige Beschlußfassung über die Bereitstellung von 500 Millionen M für die Ernährungsfürsorge für unterernährte Kinder.

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1. und 2. Maßnahmen gegen den Lebensmittelwucher1. endgültige Beschlußfassung über die Bereitstellung von 500 Millionen M für die Ernährungsfürsorge für unterernährte Kinder.

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Siehe auch Dok. Nr. 154, P. 3. Am 23. 11. hatte auch der Dt. Gewerkschaftsbund in einem Schreiben an RK, RJM, RIM und RWiM „Maßnahmen gegen den Wucher“ u. a. gefordert: „Den vorgenannten Stellen ist es bekannt, daß eine Welle der Teuerung und zugleich auch des bösartigsten Wuchers durch die deutschen Lande geht. Dieser Wucher wird nicht nur mit den Nahrungs- und Genußmitteln, sondern vornehmlich auch mit Bekleidungsgegenständen aller Art betrieben. Der zweite Ausverkauf Deutschlands hat begonnen; die dadurch z. T. hervorgerufene Knappheit vieler lebensnotwendiger Waren hat erneut den Kettenhandel belebt. An Verordnungen und Gesetzen gegen den Kettenhandel, Preistreiberei und Wucher fehlt es uns nicht. Im Gegenteil, es wäre äußerst wünschenswert, wenn eine größere Vereinheitlichung der weit über 100 bestehenden Verordnungen und Nebenverordnungen, die an Unübersichtlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen, von der Reichsregierung durchgeführt würde. Die VO wegen Verschärfung der Strafen gegen den Schleichhandel und Preistreiberei vom 18.12.1920 bildet eine gute Handhabe gegen Wucher, Ketten- und Schleichhandel. Diese VO müßte von den Landesregierungen in schärferer Weise, wie bisher geschieht, gehandhabt werden. Dazu ist notwendig, daß die Reichsregierung auf die einzelnen Länder nachhaltig und mit größter Energie einwirkt, um sie zur Durchführung dieser an und für sich zweckentsprechenden VO anzuhalten.“ (R 43 I /1246 , Bl. 204 f.).

Staatssekretär Huber trägt den Inhalt der Denkschriften2 des Reichsernährungsministeriums über die Notwendigkeit der Bereitstellung von Geldmitteln für die Ernährungsfürsorge für unterernährte Kinder vor.

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Gemeint ist eine 30seitige, undatierte Denkschrift (siehe Dok. Nr. 103 Anm. 1) und eine vierseitige Ergänzung dazu vom 25.11.1921 über Anforderungen von 500 Mio Mark zum Zweck der Ernährungsfürsorge (R 43 I /1259 , Bl. 229-232).

[436] Reichsminister der JustizRadbruch äußert sich über die Möglichkeit von Maßnahmen gegen den Wucher. Seines Erachtens könnten weitere gesetzliche Maßnahmen nicht mehr getroffen werden. Die bestehenden Gesetze3 seien ausreichend, und leere Gesten zu machen, sei zwecklos, wie jetzt auch das Beispiel des bayerischen Gesetzentwurfes gegen Schlemmerei zeige. Die Statistik zeige, daß die Länder von den schärfsten Wucherbestimmungen keinen Gebrauch machten. Die neulich vorgeschlagene Festsetzung von Richtpreisen4 halte er für zweckmäßig.

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Siehe Gesetz über Verschärfung der Strafen gegen Schleichhandel, Preistreiberei und verbotene Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände, vom 18.12.1920 (RGBl. 1920 II, S. 2107 ). In der Begründung zum Entwurf des genannten Gesetzes ist eine weitere Gesetzgebung in dieser Sache zitiert (RT-Drucks. Nr. 884, Bd. 364 ); siehe auch Anm. 7.

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Siehe dazu Dok. Nr. 153.

Staatssekretär Huber hält gleichfalls die bestehenden Strafbestimmungen an sich für ausreichend. Beabsichtigt sei der Erlaß eines Rundschreibens an die Länder über die Anwendung der bestehenden Bestimmungen. Insbesondere sollten sie nochmals darauf hingewiesen werden, daß zum Zwecke der Preistreiberei zurückgehaltene Waren zu enteignen seien.

Was speziell die Kartoffeln anlange, so scheine unter Berücksichtigung aller preisbildenden Faktoren und der in den letzten 2 Monaten eingetretenen rapiden Geldentwertung ein Richtpreis von 70 M je Zentner angemessen. Das Ernährungsministerium hoffe, durch Festsetzung von Richtpreisen eine Senkung der Preise zu erzielen. Man dürfe nicht verkennen, daß das Reichsernährungsministerium auf die Länder nur anregend wirken könne.

Die Prüfung über angemessene Preise für Margarine sei noch nicht abgeschlossen.

Der Reichskanzler bittet auch zu prüfen, ob nicht mit Hilfe der norwegischen Fette eine Preissenkung herbeigeführt werden könnte. Es müsse ferner geprüft werden, ob nicht angesichts der bestehenden Übelstände eine teilweise öffentliche Bewirtschaftung einzutreten habe.

Reichsminister Hermes warnt dringend vor der Rückkehr zur öffentlichen Bewirtschaftung.

Staatssekretär Mügel erwartet von neuen gesetzgeberischen Maßnahmen keinerlei Erfolg. Die Schwierigkeit in der Anwendung der bestehenden Gesetze läge darin, daß die Feststellung, welcher Preis wucherisch sei, nur sehr schwer getroffen werden könnte. Die von Staatssekretär Huber in Aussicht gestellten Richtlinien seien zu begrüßen.

ReichspostministerGiesberts ist der Ansicht, daß mit Gewaltmitteln kein Erfolg erzielt werden könne. Dagegen müsse eine Unterstützungsaktion erwogen werden.

ReichswirtschaftsministerSchmidt ist gleichfalls gegen eine Verschärfung der Wuchergesetze, spricht sich aber für eine häufigere und schärfere Anwendung der bestehenden aus5. Wünschenswert wäre auch, daß die Presse mehr Berichte aus den Wuchergerichten brächte.

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Siehe Anm. 3

[437] Was die Milchversorgung anlange, so fürchte er, daß, wenn man Hunderte von Millionen für eine Steigerung der Milchproduktion aufwende6, der größte Teil der Milch zur Herstellung von Butter verwandt werden würde.

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Siehe dazu auch Dok. Nr. 154 Anm. 11

Minister Wendorff: Die Öffentlichkeit sei über die Ursachen der Preissteigerung und über die Gründe, weshalb gegen die Preissteigerung wenig zu machen sei, nicht genügend aufgeklärt. Er empfehle eine monatliche Nachprüfung der aufzustellenden Richtpreise. Eine Rückkehr zur Zwangswirtschaft halte er für unmöglich. Durch Vermittlung der Oberpräsidenten müßte eine dauernde Verständigung zwischen Produzenten und Konsumenten erzielt werden. Empfehlenswert sei ferner, für Lieferungsverträge zwischen Gemeinden und Landwirten Geldmittel durch das Reich und die Länder zur Verfügung zu stellen.

Der Reichskanzler faßt das bisherige Ergebnis der Besprechung dahin zusammen, daß von einer Ergänzung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen abzusehen sei, und daß ferner die Öffentlichkeit über die Sachlage aufgeklärt werden müsse. Das Reichsernährungsministerium, die beteiligten preußischen Ressorts und der Pressechef der Reichsregierung sollen eine solche Erklärung gemeinschaftlich aufsetzen7.

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Der entsprechende Ausschnitt aus der Vossischen Zeitung vom 27.11.1921, Nr. 559 als Anlage in den Akten; in dem Bericht über die Beschlüsse der RReg. heißt es u. a.: „Die Steigerung der Preise beruht in der Hauptsache auf der Entwertung der deutschen Mark, die ihrerseits wieder im wesentlichen durch den Friedensvertrag und die uns auferlegten Reparationslasten herbeigeführt ist. Einer wucherischen Ausbeutung dieser Sachlage muß aber mit aller Energie entgegengetreten werden. Handhaben hierzu bietet die VO gegen Preistreiberei, die im Jahre 1919 durch die Wuchergerichtsverordnung und im Dezember 1920 durch ein weiteres Gesetz bis zur äußersten Grenze verschärft worden ist. Nach diesen Bestimmungen besteht die Möglichkeit, gegen Wucherer und Schieber mit strengsten Strafen vorzugehen. Zuchthaus, Geldstrafe in unbeschränkter Höhe, Ehrverlust, Polizeiaufsicht, Untersagung des Handelsbetriebs, Einziehung der Waren und des wucherischen Gewinns sowie Brandmarkung des Täters durch Urteilsveröffentlichung sind vorgesehen. Auch die Zurückhaltung von Gegenständen des täglichen Bedarfs fällt unter diese Strafdrohungen. Unabhängig vom Strafverfahren können Waren, die zurückgehalten werden, enteignet und der Allgemeinheit zugeführt werden. Unzuverlässige Personen können vom Handel ausgeschlossen werden.“ (R 43 I /1371 , Bl. 290).

Minister v. Richter empfiehlt, in der Erklärung auch darauf hinzuweisen, in welchem Umfange von den bestehenden Bestimmungen Gebrauch gemacht werde.

Ministerpräsident Braun ist mit dieser Presseerklärung einverstanden, hält diese Maßnahmen aber nicht für ausreichend. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, daß entweder die Gesetze oder die Justiz in ihrer Anwendung versagten. Er stelle deshalb zur Erwägung, ob nicht eine Erhöhung der Mindeststrafen und ein Publikationszwang bei Verurteilungen eingeführt werden solle. Ferner müsse gegen die Ausfuhr von Lebensmitteln ins Ausland mit der größten Schärfe eingeschritten werden.

Reichsminister der JustizRadbruch: Wir hätten bereits Strafbestimmungen, bei denen die Mindeststrafe Zuchthaus sei, auch die Publikationsmöglichkeit sei durch das Gesetz gegeben. Die schwersten Strafen würden gewöhnlich nicht angewendet, weil das wucherische Verhalten in den konkreten, zur Anklage[438] stehenden Einzelfällen gewöhnlich nicht so schwer erschiene, als man bei allgemeinen Erörterungen über den Wucher anzunehmen geneigt sei. Für die schwersten Fälle seien zur Zeit nicht die Wuchergerichte, sondern die Strafkammern zuständig. Er verspreche sich jedoch nichts davon, wenn auch diese Fälle den Wuchergerichten überwiesen würden. Auch gegen den vom Ministerpräsidenten Braun empfohlenen Publikationszwang hege er schwere Bedenken.

Reichsminister Hermes warnt vor Illusionen auf dem erörterten Gebiet. Der innerste und stärkste Grund der Preissteigerung sei nun einmal der Stand unserer Valuta. Solange unsere Valuta sich nicht bessere, würden alle Maßnahmen gegen hohe Preise versagen. Man müsse sich auch klar machen, daß man von staatlichen Zuschüssen für die Senkung der Lebensmittelpreise allmählich herunterkommen müßte. Allerdings sei dies für die Brotversorgung zur Zeit noch nicht möglich.

Gegen den Antrag des Reichsernährungsministeriums habe er aus finanziellen Gründen Bedenken.

Staatssekretär Mügel warnt vor der Erhöhung der Mindeststrafen und vor dem Publikationszwang. Es sei eine Tatsache der Erfahrung, daß immer nur relativ harmlose Menschen von den Wucherbestimmungen getroffen würden. Vor den Wuchergerichten hätte der Angeklagte keine genügenden Rechtsgarantien, deshalb müsse man die schweren Fälle bei den Strafkammern belassen.

Der Reichskanzler hält es für nötig, daß der Reichsminister der Justiz und die Justizministerien der Länder über die angeschnittenen Fragen nochmals schleunigst berieten.

Ministerpräsident Braun steht der vom Reichsernährungsministerium geplanten Verbilligungsaktion skeptisch gegenüber. Er bezweifelt, ob die Aktion den Konsumenten wirklich zugute kommen würde. Im übrigen könne Preußen heute keine endgültige Stellung nehmen, da die Vorlage den Preuß. Ministern eben erst zugegangen sei. Es wird beschlossen, daß die Besprechung zu Punkt 1 und 2 der Tagesordnung am 29. 11. fortgesetzt wird8.

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Siehe Dok. Nr. 158, P. 1 und P. 3.

Staatssekretär Huber stellt im Interesse der Kartoffelversorgung der Bevölkerung den Antrag, daß die Kartoffeln 4 Wochen lang frachtfrei befördert würden.

ReichsverkehrsministerGroener weist die Ansicht zurück, daß das Steigen der Kartoffelpreise irgendwie mit der Wagengestellung zusammenhänge. Für den Stückgutversand der Kartoffeln habe er die Frachtsätze um die Hälfte nachgelassen, was ausgezeichnet gewirkt habe. Der Sturm wegen der angeblich mangelhaften Wagengestellung sei künstlich hervorgerufen worden. Der Wagenbedarf sei seit Mitte November annähernd gedeckt9. Den Antrag auf frachtfreie Beförderung von Kartoffeln lehne er strikt ab.

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Siehe dazu Dok. Nr. 153 Anm. 3 und 4.

Die Reichsminister Schmidt und Hermes sprechen sich ebenfalls gegen die frachtfreie Beförderung aus.

Der Antrag auf frachtfreie Beförderung der Kartoffeln wird abgelehnt.

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