2.211.1 (wir1p): [Disziplinarverfahren infolge des Eisenbahnerstreiks]

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RTF

[Disziplinarverfahren infolge des Eisenbahnerstreiks2]

2

In zwei Besprechungen hatte der StSRkei am 17. 2. im RT Vertreter des Beamtenbundes und der Reichsgewerkschaft empfangen, und zwar um 16 Uhr Remmers und Flügel vom Beamtenbund, um 17 Uhr die in der Anwesenheitsliste dieser Besprechung angegebenen Vertreter der Reichsgewerkschaft. In der Besprechung mit den Vertretern des Beamtenbundes hatten diese eine Stellungnahme des RK über den Umfang der geplanten Disziplinarverfahren gefordert, da Unsicherheit über das Ausmaß der geplanten Maßnahmen bestehe. Hemmer hatte in seiner Antwort auf die Richtlinien verwiesen (Dok. Nr. 204 Anm. 3) und betont, daß der RK niemals eine dahingehende Erklärung abgegeben habe, Disziplinierungen sollten nur in geringem Umfang stattfinden (R 43 I /2124 , Bl. 357-364). – In der Besprechung mit den Vertretern der Reichsgewerkschaft hatten diese eine Übersicht über Massendisziplinierungen überreicht, nach der z. B. in Berlin 1500, in Frankfurt a. M. 5000, in Altona 28 und in Kassel 131 Kündigungen ausgesprochen wären. Bei der Handhabung der Richtlinien entstehe vor allem die Frage, wer als „Urheber“ anzusehen sei. Im Verlauf der Diskussion war eine Einstellung sämtlicher Disziplinierungen und ein Kabinettsbeschluß zur Interpretation des Wortes „Urheber“ gefordert worden (R 43 I /2124 , Bl. 361-364).

Der Reichskanzler erklärte, der Staatssekretär habe ihm die Wünsche der Herren vorgetragen, und er sei bereit, nochmals ihre Ansichten zu hören. Zunächst[576] wolle er jedoch bemerken, daß er Schwierigkeiten in der Disziplinierungsfrage vorhergesehen habe3.

3

Richtlinien für die Disziplinierungen siehe Dok. Nr. 204 Anm. 3.

Auf seinen Wunsch machte zunächst Herr Klein Ausführungen über die Lage der Disziplinierten, speziell im Direktionsbezirk Münster (Westfalen). Bei Abbruch des Streiks habe er öffentlich erklärt, daß nach seiner Berliner Information nur wenig Leute diszipliniert werden sollten, und darauf wäre der Streik, der in voller Kraftentfaltung sich befunden hätte, abgebrochen worden. Jetzt fänden jedoch Massendisziplinierungen statt, und die Folge sei, daß die Beamten in größter Unruhe seien und neue Streiks in Aussicht stellten. Insbesondere sei es das Wort „Urheber“, das einer Auslegung bedürfe. Er selbst werde als „Urheber“ des Streiks angesehen, und das Disziplinarverfahren sei gegen ihn eröffnet. Er habe doch nur als Bezirksleiter seine Pflicht getan, indem er bei der Abstimmung in Berlin entsprechend dem Beschluß der Eisenbahner in Münster für den Streik gestimmt habe. Daraus könne doch nicht gefolgert werden, daß er als „Urheber“ des Streiks anzusehen sei. Er sei lediglich Mandatar der von ihm vertretenen Beamten. Die Beamtenschaft in Münster habe fest auf das Kanzlerwort gebaut, und er habe selbst erklärt, daß das Wort des Kanzlers unbedingt gehalten werden würde.

Der Reichskanzler erwiderte, daß auch nach seiner Ansicht das Wort „Urheber“ einer Klärung bedürfe, daß die Definition dieses Worts aber eine sorgfältige Ausarbeitung <im Einvernehmen mit dem Reichsverkehrsministerium>4 erfordere. Bis jetzt läge ihm überhaupt noch kein ausführlicher Bericht über Disziplinierungen vor. Daran könne kein Zweifel sein, daß die Richtlinien loyal durchgeführt würden.

4

Die gekennzeichnete Stelle ist handschriftlich eingefügt.

Der Kanzler verlas den darauf bezüglichen Teil seiner Reichstagsrede5 und stellte in Aussicht, der Reichsgewerkschaft in kürzester Zeit eine schriftliche Mitteilung über den Begriff „Urheber“ zuzusenden6.

5

Regierungserklärung vom 9.2.1922 (RT Bd. 352, S. 5739  ff.).

6

In R 43 I nicht ermittelt.

Herr Thieme regt an, das Verkehrsministerium möge alle Streikenden so lange wieder einstellen, bis das Disziplinarverfahren beendet sei. Er mache keinen Hehl daraus, daß er über die Richtlinien entsetzt gewesen sei. Aber noch entsetzter sei er über die praktische Auswirkung dieser Richtlinien, da die Zahl der Disziplinierungen ins Ungeheure wachse.

Auf die Frage des Herrn Reichskanzlers erklärte Herr Klein, daß im Direktionsbezirk Münster im ganzen 15 förmliche Disziplinarverfahren eingeleitet worden seien und daß überhaupt niemand entlassen worden sei. Er sei selbst vom Amt suspendiert. Die 15 Disziplinarverfahren bezögen sich in der Hauptsache auf den Vorstand und die einzelnen Ortsgruppenvorsitzenden.

Herr Wieber (Essen) gibt eine eingehende Schilderung der Entstehungsgründe des Streiks und der Stimmung im Essener Direktionsbezirk. Er kommt zu dem Schluß, daß nur, wenn sämtliche Disziplinierungen unterblieben, weitere Streiks verhindert werden könnten, denn darüber können keine Zweifel[577] herrschen, daß, wenn noch einmal bei den Eisenbahnbeamten der Streik losbreche, dann auch der Generalstreik einsetzen würde. Es sei keine Zeit zu verlieren. Papierne Erlasse könnten die Beamtenschaft nicht beruhigen. Alle die Kabinettsbeschlüsse und Verfügungen würden in dem Moment hinfällig werden, in dem die Beamtenschaft zu dem letzten gewerkschaftlichen Mittel greife und ihre Rechte mit Gewalt durchzusetzen versuche. Der Herr Reichskanzler möge die Bewegung nicht unterschätzen. Er sei selbst in seiner energischen Haltung gegen den Streik von den Massen beschimpft und als Verräter und Verbrecher bezeichnet worden. Nach vierzigjähriger treuer Dienstzeit habe er jedoch bei dem Streik in vollem Bewußtsein der Tragweite seiner Handlungen die Streikparolen weitergegeben, weil er tatsächlich der Auffassung war, daß die Gehälter der streikenden Beamten Hungerlöhne seien. Man brauche bloß an die Industrielöhne zu denken, um zu verstehen, wie groß der Unmut unter den Beamten sei. Er könne jederzeit nachweisen, daß Frauen von unteren, ja sogar mittleren Eisenbahnbeamten auf Märkten und an Straßenecken Schnürriemen und Seife verkauften, um den Lebensunterhalt fristen zu können.

Über die gesamte Zahl der im Essener Bezirk Disziplinierten konnte Herr Wieber auf Befragen des Herrn Reichskanzlers keine genauen Angaben machen.

Der Herr Reichskanzler ersuchte die Herren, ihm zunächst mit Material zu dienen und in einzelnen Bezirken festzustellen, was an den Behauptungen, es würden Massendisziplinierungen vorgenommen, wahr sei. Er sei bereit, dieses Material in Empfang zu nehmen und dem Herrn Reichsverkehrsminister zu unterbreiten7. Jetzt aus der Angelegenheit eine politische Aktion zu machen, sei unmöglich. Die Herren wüßten ja, wie schwer er im Reichstag wegen seiner bisherigen Politik in dem Eisenbahnerstreik angegriffen worden sei. Was die Frage der Regelung der Grundgehälter anlange, so könne nur eins nach dem anderen erledigt werden. Er hoffe, daß noch in dieser Woche die Frage der Überteuerungszuschüsse ihrem Ende zugeführt werde. Dann könnte man auch an die übrigen Besoldungsfragen herangehen. Aber eines sei nötig, daß hier auch die Länder gehört würden. Er sehe also Anfang nächster Woche der Vorlage von präzisierten Fällen entgegen.

7

In R 43 I lediglich die Aufstellung „Teilresultate über Maßregelungen“ ermittelt, die die Reichsgewerkschaft in der in Anm. 1 zitierten Besprechung überreicht hatte.

Herr Döbling bemängelte, daß das Wort „Urheber“ bis jetzt noch nicht definiert worden sei. Auch der Herr Reichsverkehrsminister habe bis jetzt sich dazu nicht geäußert. Wenn ein Kabinettsbeschluß über diese Frage herbeigeführt werden solle, so bitte er, vorher die Auffassung der Reichsgewerkschaft dazu vortragen zu dürfen.

Der Reichskanzler verlas darauf folgende Erklärung: „Die Einhaltung der Richtlinien wird von dem Herrn Reichskanzler überwacht werden. Daß er jedem einzelnen Fall nachgehen kann, ist technisch unmöglich und auch nicht seines Amts. Wenn aber die Organisationen Fälle besonderer Art ihm unterbreiten und behaupten, daß diese nicht nach den Richtlinien behandelt wären, dann ist[578] der Herr Reichskanzler bereit, sich eines solchen Falles anzunehmen und den Reichsverkehrsminister um Aufklärung zu ersuchen.“

Im Anschluß daran sagte er zu, daß er vor einem evtl. Kabinettsbeschluß nochmals mit der Reichsgewerkschaft zusammenkommen wolle. Er werde aber zuerst mit dem Reichsverkehrsminister Fühlung nehmen und erst dann die Reichsgewerkschaft anhören.

Herr Thieme trägt dann noch folgende zwei Wünsche vor:

1. Alle Disziplinierten sollen bis auf weiteres im Dienst bleiben, schon deshalb, um zu verhindern, daß sie auf der Straße herumlungern und Unzufriedenheit säen. Auch trägt der Umstand, daß die Disziplinierten während des schwebenden Verfahrens nur die Hälfte ihres Gehalts beziehen, erheblich zur Unzufriedenheit mit bei.

2. Die während des Streiks vom Reichsverkehrsminister erlassenen Notverordnungen, insbesondere betreffend die Verwendung der Heizer als Lokomotivführer, müßte jetzt nach Abbruch des Streiks aufgehoben werden, da die Verwendung dieses Aushilfspersonals die Lokomotivführer sehr erbittere.

Der Herr Reichskanzler schloß darauf die Besprechung.

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