2.137 (bru1p): Nr. 137 Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands an den Reichskanzler. 10. Oktober 1930

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[515] Nr. 137
Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands an den Reichskanzler. 10. Oktober 1930

R 43 I /2367  Bl. 78–80

[Wirtschaftsprogramm der Reichsregierung]

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands hat sich in den letzten Tagen mit der gegenwärtigen Lage und dem Reformprogramm der Reichsregierung beschäftigt1. Sie dürfen versichert sein, daß die christlichen Gewerkschaften von dem Ernst der gegenwärtigen Lage, die große Gefahren für Staat und Wirtschaft in sich birgt, voll überzeugt sind, und daß sie die Schwierigkeiten, die vor allem auch für die Regierung bestehen, zu würdigen wissen. Eine Anzahl der von der Reichsregierung angekündigten Maßnahmen sind auch ohne Zweifel geeignet, geordnetere und gesundere Verhältnisse anzubahnen. Wenn wir trotzdem einige Aussetzungen machen und Wünsche und Forderungen gegenüber dem Regierungsprogramm zur Geltung bringen, so leitet uns dabei nicht nur die Sorge um die Interessen der arbeitenden Schichten, sondern auch um die Interessen des Gesamtvolkes. Folgende Punkte sind es vor allem, die uns zu Bedenken und Beanstandungen Anlaß geben:

1

S. Dok. Nr. 124, P. 1, Anlage.

1. In der starken Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung2, die im Zusammenhang damit steht, daß Mittel des Reichshaushalts für die Arbeitslosenversicherung nicht mehr verwendet werden sollen, sehen die christlichen Gewerkschaften ein Abweichen davon, daß auch die Allgemeinheit mit zu den Lasten herangezogen wird. Die christlichen Gewerkschaften sind daher der Meinung, daß, soweit irgend möglich, auch aus Allgemeinmitteln eine Beihilfe für die Zwecke der Arbeitslosenversicherung bereitgestellt werden muß.

2

Die ALV-Beiträge waren mit Wirkung vom 6.10.30 vom 4½% auf 6½% erhöht worden: RGBl. I, S. 458 .

2. Die beabsichtigte Neuregelung der Wohnungswirtschaft3 läßt berechtigte Zweifel darüber aufkommen, ob auch nur derjenige Wohnungsbedarf, der als wirklich dringend und notwendig bezeichnet werden muß, diejenige Erleichterung aus öffentlichen Mitteln bekommt, die nicht nur im Interesse der Arbeitsbeschaffung, sondern auch aus sozialen und kulturellen Gründen notwendig ist. Die christlichen Gewerkschaften halten eine stärkere Bereitstellung öffentlicher Mittel für erforderlich. Auch scheint ihnen eine zu weit gehende Lockerung der Wohnungszwangswirtschaft, mehr noch eine alsbaldige Aufhebung derselben, bedenklich.

3

Die RReg. hatte die Einbringung eines GesEntw. über die Aufhebung des Wohnungsmangel- und des Reichsmietengesetzes angekündigt: Dok. Nr. 124, P. 1, Anlage.

3. Wir würden es für gerechter halten, wenn der erst zum 1. April n. Js. in Aussicht genommene Gehaltsabzug für die Beamten nicht nur schon ab[516] 1. Januar 1931 wirksam würde4, sondern auch eine Staffelung nach sozialen Gesichtspunkten erfährt. Die gegenwärtige Notlage bedingt, daß die Beamten mit höheren Einkommensbezügen in stärkerem Maße herangezogen werden. Insbesondere fordern wir auch eine wesentliche gesetzliche Kürzung der hohen Pensionen.

4

Die Beamtengehälter sollten um 6% gekürzt werden.

4. In den vorgesehenen steuerlichen Erleichterungen für verschiedene Betriebe und Berufsschichten fehlt die Beseitigung der im Sommer d. Js. beschlossenen besonderen Besteuerung der Genossenschaften5.

5

Damit ist wahrscheinlich die innerhalb der Änderung des Biersteuergesetzes vom 15.4.30 eingeführte erhöhte Umsatzsteuer für Einzelhandelsgroßbetriebe (RGBl. I, S. 137 ) gemeint. Vgl. auch Dok. Nr. 15.

5. Die Begründung des Regierungsprogramms, speziell soweit sie sich auf Löhne und Gehälter bezieht, gibt uns Anlaß zu stärksten Bedenken und Befürchtungen6. Nicht nur, daß wir der These, die Höhe der Löhne und Soziallasten stehe der Gesundung der Wirtschaft entgegen, widersprechen; es kann und darf nicht übersehen werden, daß die Arbeiter bereits jetzt ganz erhebliche Opfer gebracht haben und noch täglich bringen. Auf ihnen lastet nicht nur die Arbeitslosigkeit und der Druck der Unsicherheit der Existenz, auch der seither bereits erfolgte Lohnabbau beträgt im Durchschnitt schon etwa 10 Prozent. Es geht nicht an, zu diesen bereits gebrachten Opfern den Arbeitnehmern noch weitere Opfer durch vermehrte Lohnsenkungen, denen keine Preissenkungen gegenüberstehen, aufzuerlegen. Die anderen Volksschichten zugedachten Opfer stehen in keinem Vergleich zu dem, was anscheinend den Arbeitern und Angestellten zugemutet wird.

6

In ihrer Verlautbarung über das Wirtschafts- und Finanzprogramm hatte die RReg. ausgeführt: „Der Zusammenbruch aller Preise der Rohstoffe wie der landwirtschaftlichen Produkte auf dem Weltmarkt hat gezeigt, daß die wirtschaftlichen Anschauungen der Nachkriegszeit, welche davon ausgingen, daß die Völker unter wesentlich höheren Preisen leben würden, also die Kaufkraft des Geldes eine verringerte sein werde, einer Revision bedarf. Zwar ist die Rückwirkung jener Umwälzung noch nicht bis zu allen Bedarfsartikeln unseres Volkes durchgedrungen. Die Höhe der von Gehalt und Löhnen, von Steuern und Soziallasten bedingten Gestehungskosten steht hemmend im Wege. […] Es geht darum, die Ursache, das Darniederliegen der Wirtschaft zu bekämpfen und über den Tiefpunkt, an dem wir stehen, hinwegzukommen. Sieht man die Aufgabe so an, dann verbietet sich gerade im Interesse der zur Zeit arbeitslosen aber arbeitswilligen Elemente jede neue Belastung der Produktion, vielmehr ist die Entlastung der produktiven Stände zu fördern. […]“ (WTB Nr. 1971 vom 30.9.30 in R 43 I /1446 , Bl. 335).

6. Wir wünschen Klarheit darüber, in welcher Weise die Regierung die Preisentwicklung im Sinne einer Hebung der Kaufkraft zu beeinflussen gedenkt. Unsere vorhin dargelegte Stellungnahme zur Lohnfrage ist mit von der Sorge um die zukünftige Preisgestaltung diktiert.

In Vorstehendem haben wir uns erlaubt, die uns zunächst am wichtigsten erscheinenden Punkte einer kurzen Stellungnahme zu unterziehen. Die christlichen Gewerkschaften sind weit davon entfernt, die auch der Reichsregierung im gegenwärtigen Augenblick gezogenen Grenzen zu verkennen. Sie sind andererseits aber auch der Überzeugung, da einige der in dem Regierungsprogramm vorgesehenen bzw. der durch dasselbe ausgelösten Maßnahmen die wirtschaftliche Gesundung, die wir alle wollen, hemmen.

[517] Es wäre uns, sehr geehrter Herr Reichskanzler, erwünscht, in mündlicher Aussprache Ihnen unsere Bedenken noch näher darzulegen und auch über die Ansichten der Reichsregierung besser unterrichtet zu werden. Wir bitten deshalb, einige Vertreter des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften und der mit uns im Deutschen Gewerkschaftsbund koalierten Organisationen zu einer Aussprache empfangen zu wollen.

In vorzüglicher Hochachtung

Der Vorstand

des Gesamtverbandes der christlichen

Gewerkschaften Deutschlands

Bernh.[ard] Otte

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