2.162 (bru1p): Nr. 162 Besprechung des Reichskanzlers mit Vertretern der Grünen Front. 6. November 1930, 10 Uhr

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[603] Nr. 162
Besprechung des Reichskanzlers mit Vertretern der Grünen Front. 6. November 1930, 10 Uhr

R 43 I /2545 , Bl. 3–5

Anwesend: Brüning, Schiele; StS Pünder; MinDir. v. Hagenow; Brandes, Graf Kalkreuth, RM a. D. Hermes; Protokoll: MinR Wienstein.

Dr. Brandes führte aus, daß in der letzten Zeit die Preisentwicklung des Roggens und der Kartoffeln außerordentlich bedenklich geworden sei. Kartoffeln seien fast unverkäuflich geworden. Im Osten sei die Lage trostlos, im Westen etwas besser.

Eine Politik auf lange Sicht sei zur Zeit nicht möglich. In hauptsächlich agrarischen Ländern, wie z. B. in den beiden Mecklenburg, würden zur Zeit fast keine Steuern bezahlt1. Die Lage des gesamten Ostens sei derartig schwierig, daß die Osthilfe allein der Schwierigkeiten nicht werde Herr werden können. Die Verluste der östlichen Landwirtschaft in diesem Jahr schätze er auf mindestens 600 Millionen Mark.

1

Vgl. Dok. Nr. 160.

Er habe dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft ein Schreiben übersandt (das in Abschrift auch dem Herrn Reichskanzler überreicht wurde), welches die sofort zu ergreifenden Maßnahmen anführe2. Wie verworren die Stimmung sei, könne man daraus ersehen, daß die kürzlich in Königsberg verurteilten Landwirte allgemein im Osten als Märtyrer gälten3. Er habe die Bitte, daß die Maßnahmen, die überhaupt zum Schutze der Landwirtschaft getroffen werden könnten, möglichst sofort getroffen würden.

2

In dem Schreiben an den REM forderte die Grüne Front einen Ausbau der Agrarzölle. Die Grüne Front erkenne trotz gewisser grundsätzlicher Bedenken an, „daß die mit Finnland getroffene handelsvertragliche Regelung die Möglichkeit zu einem wirksameren Schutz auf dem im Vordergrunde stehenden milchwirtschaftlichen Gebiete eröffnet hat“. Notwendig sei die Festsetzung eines ausreichenden Butterzolles, die Regelung der Käsezölle, eine Erhöhung des Eierzolls, angemessene Zölle für Schweine und Schweinefleisch und Schutzmaßnahmen für den Gemüse- und Obstbau. Eine Ratifizierung des Genfer Handelsabkommens vom 24.3.30 müsse unter allen Umständen vermieden werden. Die Grüne Front halte eine Nachprüfung der Meistbegünstigungsklausel für geboten. Schließlich sei eine vollständige und gründliche Nachprüfung der Preisspannen auf dem Lebensmittelgebiet notwendig (Abschrift des Schreibens mit Sichtparaphe des RK in R 43 I /2544 , Bl. 444–448).

3

Im sogenannten „Königsberger Bauernnotprozeß“ waren am 4.11.30 vier Angeklagte wegen Vergehens gegen § 129 StGB (Teilnahme an staatsfeindlichen Verbindungen) zu Gefängnisstrafen zwischen drei und fünf Monaten, zwei Angeklagte wegen schweren Aufruhrs zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden (DAZ Nr. 515–516 vom 5.11.30).

Graf Kalckreuth betonte, daß den Landwirten auf dem Gebiet des Kapitals starkes Entgegenkommen gezeigt werden müsse. In der nächsten Zeit würden vielfach Wechsel der Landwirte fällig, auch nahten sich einige Fälligkeitstermine für Steuern. Wenn die Landwirtschaft diese Verpflichtungen jetzt einlösen solle, müsse sie für ungefähr 200 Millionen Mark Produkte auf den Markt bringen, d. h. in Getreide ausgedrückt, 1½ Millionen t Getreide. Es sei ganz unmöglich, daß der Markt diese Mengen aufnehme.

[604] Vielleicht könne das Beispiel des Kreises Freystadt Nachahmung finden. Der Landrat des Kreises habe Agrarprodukte als Steuern angenommen, und zwar z. B. den Zentner Kartoffeln für 2 Mark. Diese Produkte seien dann an Wohlfahrtserwerbslosen anstelle von Geld ausgehändigt worden.

Reichsminister a. D. Dr. Hermes führte aus, daß die Not der Landwirtschaft den Nährboden für radikale Strömungen bilde. Die Not fange auch an, in den bäuerlichen Betrieben zu steigen. Erforderlich sei vor allem eine angemessene Preisbildung für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Für Gemüse, Obst und Eier habe eine katastrophale Preisentwicklung im Westen Platz gegriffen. Nach seiner Ansicht müsse mit den in Betracht kommenden Ländern in der Richtung verhandelt werden, daß diese freiwillig die Zölle für gewisse Agrarprodukte heraufsetzten. Die Aussichten halte er keineswegs für schlecht. In Rom habe er mit Niederländern bereits in dieser Richtung Fühlung genommen. Auch auf dem Balkan regten sich Tendenzen, in dieser Richtung mit Deutschland über einen vernünftigen Absatz von Agrarprodukten zu verhandeln. Das Genfer Handelsabkommen dürfe jetzt von Deutschland nicht ratifiziert werden.

Der Reichskanzler führte aus, daß die Reichsregierung die Notlage der Landwirtschaft als Gegenstand ernstester Sorge betrachte. Das Reichskabinett habe bereits am 25. Oktober gewissen Vorschlägen seine Zustimmung erteilt4, und es besteht im Kabinett Übereinstimmung darüber, daß diese Maßnahmen für die Landwirtschaft beschleunigt in Kraft treten sollten. Der Zeitpunkt des Inkraftsetzens müsse der Reichsregierung überlassen werden. Lange würden diese Maßnahmen jedenfalls nicht mehr auf sich warten lassen.

4

S. Dok. Nr. 149, P. 2.

Er habe kürzlich bei einem Vortrag den Herrn Reichspräsidenten davon überzeugt, daß es der Reichsregierung gelungen sei, die deutschen Preise für Agrarerzeugnisse von den Weltmarktpreisen abzuhängen. Untragbar sei allerdings für die Reichsregierung das Verhalten gewisser Abgeordneter im Reichstage, wie des Abgeordneten von Sybel5. Die Landvolkpartei habe den Überbrückungskredit abgelehnt6, trotzdem das durch den Kredit einkommende Geld vor allem gerade auch für die Stützung der Kartoffel- und Roggenpreise Verwendung finden sollte.

5

Vgl. dazu Dok. Nr. 62.

6

Die Fraktion des Deutschen Landvolks hatte in der namentlichen Schlußabstimmung am 18.10.30 mit Ausnahme eines Abg. das Gesetz über Schuldentilgung geschlossen abgelehnt (RT-Bd. 444, S. 185  u. 211).

Was die Steuern anlange, so werde die Einkommensteuer seines Wissens fast überall gestundet. Von der Vermögenssteuer werde eine Rate am 15. November fällig. Er werde mit dem Reichsminister der Finanzen in dem Sinne Fühlung nehmen, daß dieser eine generelle Stundung für gewisse Gebiete ausspreche. Schwieriger sei die Situation bei den Realsteuern. Es würde ihn interessieren, Genaueres über den Kreis Freystadt zu hören7. Viele Industrien[605] sorgten bereits für unmittelbaren Bezug von Kartoffeln für ihre Arbeiter und Angestellten8. Vielleicht könne der Landbund mit der Industrie Fühlung nehmen um auf diesem Gebiet noch größere Erfolge zu erzielen.

7

In einem Vermerk für MinR Feßler vom 8.11.30 bat MinR Wienstein im Auftrag des RK um nähere Informationen über die Aktion im niederschlesischen Kreis Freystadt (R 43 I /2545 , Bl. 10–11). S. auch Dok. Nr. 171.

8

Vgl. Dok. Nr. 148, Anm. 29.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte aus, daß die Spiritus- und Stärkefabrikation in der letzten Zeit erheblich mehr Kartoffeln verbraucht habe, als bisher. Notwendig sei es, die teilweise übertriebenen Preisspannen zu beseitigen. Eine Senkung der Fleischpreise halte er für unerläßlich.

Der Reichskanzler warf die Frage auf, ob ein Teil der Schwierigkeiten in den bäuerlichen Betrieben auf den Mangel an Standardware zurückzuführen sei9.

9

Vgl. dazu den Entwurf eines Standardisierungsgesetzes für die Landwirtschaft (Dok. Nr. 60, P. 1).

Dr. Brandes erwiderte, daß es außerordentlich schwer sei, bei den Bauern auf diesem Gebiete vorwärts zu kommen. Bemühungen der Organisationen in dieser Richtung seien jedenfalls im Gange. Zur Zeit würden für die Bauern in vielen Gebieten Kurse über die Absatzfragen veranstaltet. Ein Hauptanreiz für die Fabrikation von Standardwaren werde naturgemäß in den Preisen liegen.

Reichsminister a. D. Dr. Hermes betonte die Notwendigkeit, daß eine kleine Kommission möglichst bald ein Gutachten über die Gründe der Preisspannen der einzelnen Lebensmittel ausarbeite. Das Gutachten müsse auch veröffentlicht werden, um einen Druck auf die öffentliche Meinung auszuüben.

Der Reichskanzler stimmte diesen Ausführungen zu und schloß sodann die Sitzung.

Über die Sitzung wurde die anliegende Verlautbarung ausgegeben10.

10

Die hier nicht abgedruckte Pressemitteilung wurde von WTB Nr. 2249 am 6.11.30 veröffentlicht (R 43 I /2545 , Bl. 8).

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