2.109 (bau1p): Nr. 107 b Tagebuchaufzeichnung des Reichsinnenministers Koch über die Kabinettssitzung vom 24. November 1919, 16 Uhr

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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[404] Nr. 107 b
Tagebuchaufzeichnung des Reichsinnenministers Koch über die Kabinettssitzung vom 24. November 1919, 16 Uhr1

1

Zur Begründung des Abdrucks dieser Parallelüberlieferung s. Dok. Nr. 107 a, Anm. 2.

Nachlaß Koch-Weser, Nr. 22, Bl. 16–182

2

Zum Abdruck gelangt die mschr. Übertragung der im Nachl. Koch-Weser , Nr. 20, Bl. 81 bis 86 befindlichen hschr. Tagebuchaufzeichnung. Die Übertragung stimmt mit dem Manuskript inhaltlich überein, bietet aber, z. B. durch Auflösung von Abkürzungen usw., den Vorteil besserer Lesbarkeit.

Nachmittags Kabinettssitzung. Um 4 Uhr Kabinett (Fortsetzung der Erzberger-Belgien-Sache, Bericht Simson über Reise nach Berlin, Wirtschaftsfragen). […]

Erzberger erklärt (bevor ich in der Sitzung bin), Francqui habe sich bereit erklärt, einen deutschen Vorbehalt entgegenzunehmen, daß Deutschland sich an das Abkommen nur halte, wenn auf die Auslieferung verzichtet werde. Francqui erwarte allerdings davon eine Abschwächung seiner Aktion.

Simson berichtet: Frieden wird ratifiziert ohne Amerika. Verstärkung französischen Einflusses. – Baltikum kommt nach Ansicht der Franzosen in Ordnung, wenn Truppen jetzt abzurücken beginnen. – Auf Ersatz für Scapa Flow beständen die Alliierten jusqu’au bout. Admiral Reuter habe im Einverständnis mit der Deutschen Regierung gehandelt. Daraufhin hat Simson erklärt, er müsse über die Behauptung erst Instruktion einholen. – Wegen der Auslieferung sei der Oberste Rat avec regret zu der Ansicht gekommen, daß mit Rücksicht auf die Volksstimmung in England und Frankreich auf die Auslieferung nicht verzichtet werden könne. – Simson hat zum Schluß erklärt, eine Zustimmung zum Friedensabschluß ohne Amerika könne Deutschland nicht geben, wenn alsbald hinterher die Auslieferung verlangt werde. – Dann hat Simson seine Abreise schriftlich angekündigt. Vorher aber hat er noch eine Note wegen Rückkehr der Gefangenen erhalten, die das Unerhörteste ist, was uns vorgekommen ist. Verleumdungen und Beschimpfungen sowie Tatsachenerdichtungen. Für manches hat Bernhard das Stichwort gegeben3. – Es ist kein Zweifel, daß Frankreich uns zu Tode treffen will.

3

Angesichts der all. Drohung, zur Durchsetzung von bislang nicht erfüllten Waffenstillstandsbedingungen neben mil. auch „andere Zwangsmaßnahmen“ zu ergreifen (vgl. Dok. Nr. 97, P. 1), und der daran anknüpfenden öffentlich geäußerten Verdächtigungen, die RReg. tue nicht alles in ihrer Macht stehende, um die unter dem Druck dieser Maßnahmen von den All. zurückgehaltenen mehr als 500 000 dt. Kriegsgefangenen zu befreien (vgl. Dok. Nr. 99, P. 7), hatte die RReg. am 7. 11. an die frz. Reg. appelliert, die Kriegsgefangenenfrage „nur noch vom Standpunkt der Menschlichkeit aus“ zu behandeln (DAZ Nr. 553 vom 10.11.19; vgl. Schultheß 1919, II, S. 602). Daraufhin hatte Clemenceau mit der von Simson erwähnten Note vom 15. 11. geantwortet und darin geleugnet, als Gegenleistung für die vorzeitige Aufnahme dt. Kohlelieferungen an Frankreich in einem Protokoll vom 29. 8. die Vordatierung des im VV vorgesehenen Zeitpunktes für die Rückführung der dt. Kriegsgefangenen zugesagt zu haben. Frankreich schulde Dtld. lediglich die genaue Beachtung der in den Artt. 214–224 VV festgelegten Bestimmungen. Moralische Vorwürfe deutscherseits müsse sich die frz. Öffentlichkeit verbitten. Die Kriegsgefangenen würden vorerst zu Aufräumungs- und Wiederaufbauarbeiten in den von dt. Armeen planmäßig verwüsteten nordfrz. Industriegebieten eingesetzt (Text der erst am 21. 11. übergebenen Note in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 70; vgl. DAZ Nr. 580 vom 25.11.19; Schultheß 1919, II, S. 603). Von Simson verließ Paris am 22. 11. Die mit der Notwendigkeit, die RReg. mündlich zu informieren, begründete Abreise teilte Frhr. von Lersner Generalsekretär Dutasta mit Schreiben vom 21. 11. mit (DBFP, 1st Series, Vol. II, S. 390 f.). – Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Aufzeichnung des GehRegR Loehrs vom PrIMin. über die Verhandlungen mit der Entente (Dok. Nr. 109).

[405] Simson schließt mit der Erklärung, daß an dieser Stelle Widerstand geleistet werden müsse.

David redet zum Guten. Man muß die französische Stimmung verstehen. Nur keine gereizten Noten wechseln und das Volk erregen. Wir sind ohne Macht und ziehen doch den Kürzeren.

Müller: Wenn man immer sagt, wir müssen nachgeben, weil wir ohne Macht sind, so wird man immer mehr verlangen. Aber um so verhängnisvoller, wenn wir im Baltikum mit Truppen eingriffen. Das wäre der Vorwand für Frankreich, Gewalt zu brauchen.

Erzberger: Ich bin gegen öffentliche Noten über Auslieferung, Gefangene und Scapa Flow. Ich meine, Herr von Simson soll nach Paris zurückfahren, um weiter zu verhandeln.

Müller: Der Notenwechsel läßt sich nicht mehr vermeiden. Es muß eine Fassung gewählt werden, die künftige Verhandlungen nicht ausschließt.

Simson: Nicht wir haben mit der Auslieferungsfrage öffentlich angefangen, sondern absichtlich hat Frankreich sich dieser Frage öffentlich bemächtigt, um die Öffentlichkeit scharf zu machen. – (Die Vossische Zeitung hat heute schon wieder einen Artikel, als wenn Simson Paris verlassen habe, weil der Rücktritt Amerikas unsere Sachlage verändert habe.)

Simson: Ich würde nicht wieder nach Paris gehen, solange Frankreich in der Auslieferungsfrage seinen interansigenten Standpunkt beibehält.

Schiffer: Die Gefangenennote muß schriftlich beantwortet werden. Aber Scapa-Flow muß zwar durch eine Note beantwortet werden, im Anschluß daran aber muß mündlich verhandelt werden. Die Auslieferungsfrage sollte ja jetzt zwar angefühlt werden, aber die Verhandlung sollte eigentlich erst nach dem Frieden beginnen.

Erzberger: Es ist doch erreicht, daß Entente von Strafe für Scapa-Flow absieht.

Simson: Ich habe bisher Entgegenkommen in der Auslieferungsfrage erhofft. Gegenüber dem glatten Nein vermag ich nicht weiter zu verhandeln.

Bauer: Wir haben doch immer erst einmal den Frieden gewollt. Die Haltung Simsons ist nicht vereinbar mit der Richtlinie des Kabinetts.

Schiffer: Es ist eben Herrn von Simsons Meinung, daß der Rücktritt Amerikas benutzt werden muß, um Konzessionen herauszuholen.

Abschluß: Über Scapa Flow soll Lersner Instruktion erhalten, daß Schiedsgericht angeboten wird4. Wegen Gefangenenfrage Note beantworten5.

4

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 107 a, Anm. 3.

5

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 111.

[406] Österreich verhungert. Das Kabinett will bereit sein, etwas Mehl abzugeben, indem die deutsche Bevölkerung 100 g wöchentlich weniger bekommt. Deutschland als heiliger Martin. Ist es nun recht oder nicht? Schmidt sagt, daß zwei Millionen Tonnen Brot zu wenig da sind. Ob wir kaufen können im Ausland, er weiß es nicht. – Ich äußere Bedenken. Österreich wird nicht geholfen. Es verlangt nachher, was es heute erbittet, wie schon so oft früher. Die Hilfsaktion der Entente wird nur hinausgeschoben6. Wir selbst können Österreich nicht hindurchhelfen. Die Herabsetzung der Brotration ist ohnehin nötig. Die Abgabe bedeutet Brot für 12 Tage für Deutschland. Das kann die Katastrophe abwenden.

6

Einzelheiten s. DBFP, 1st Series, Vol. II, S. 359 ff.

Inzwischen kommt Erzberger wieder. Francqui lehnt den Vorbehalt nunmehr ab, Erzberger empfiehlt, trotzdem zuzugreifen. Bauer will nicht. ‚Seifenblasen‘. Hirsch glaubt an die Gefangenenversprechungen nicht so wie Erzberger, legt aber auf die Schließung des Lochs im Westen großen Wert. – Ich kann mich nicht überzeugen, daß Belgien sich hinterher für die Nichtauslieferung einsetzen wird. Ich halte die günstige Situation nicht für hinreichend ausgenutzt. Es wird abgestimmt. 7 Stimmen (Erzberger, Noske – der sich gestreckt hat –, David, Schmidt, Müller, Bell, Schlicke) dafür. Mayer, Koch, Bauer, Giesberts (?) dagegen. Schiffer war hinausgegangen, angeblich ohne Absicht.

Zurück zu Österreich. Schiffer will große Politik machen und hält die Schwierigkeiten nicht für ausschlaggebend.

Bauer hält die Kürzung für unerträglich, namentlich bei der Kartoffelknappheit. David spricht von freiwilliger Ablieferung, um den idealen Sinn des Volkes wieder zu wecken. Auch der Erzeuger soll freiwillig abliefern. (Ob der das wohl von seiner Ration ersparte?) (Dieser ahnungslose Engel!) – Erzberger ist dagegen; auch Schmidt. Beschlossen, daß höchstens eine Hilfsaktion möglich ist, weil einmal so viel Stimmung gemacht ist und die Parteiführer sich in Gesprächen mit dem Gesandten Hartmann (!) schon festgelegt haben.

Müller empfiehlt, in der Bagger-Auslieferung und der im Schlußabsatz angedrohten Verewigung der kriegerischen Einschreitungsmöglichkeit dem Gesandten von Lersner ein Entgegenkommen zu untersagen.

Schwieriger ist nach seiner Ansicht, ob die Ratifikation von einem Entgegenkommen in der Auslieferungsfrage abhängig gemacht werden soll. Die Weigerung Amerikas hat uns an sich in ungünstigere Lage (Zusammensetzung der Kommission) gebracht. Wir können Kompensationen verlangen. Es ist sehr fraglich, ob wir nicht ein Interesse an der Verzögerung der Ratifikation haben. (Vergleiche Haussmanns Denkschrift.)7 Erzberger lehnt eine Verzögerung ab.

7

Nicht ermittelt; vgl. jedoch Dok. Nr. 100, P. 1, insbesondere Anm. 7.

[407] Bauer: Es muß versucht werden, die Auslieferungsfrage bei dieser Gelegenheit zu regeln. Aber die Ratifikation darf nicht verzögert werden. Die Bevölkerung und Wirtschaft [müssen] zur Ruhe kommen.

Schiffer: Ähnlich wie Vorredner.

David: Nicht die Entente, aber wir haben zwingendes Interesse am Frieden. Es ist kein Glück, daß Auslieferungsfrage mit Ratifikation wider unseren Willen verbunden ist.

Ich: Wir haben kein Interesse an der Verzögerung, müssen aber diesen Eindruck erwecken. Die Situation muß ausgenutzt werden. Ob ein Verzicht auf die Auslieferung erreicht wird, ist zweifelhaft, da sie den Verzicht uns vermutlich nicht als Recht gewähren wollen. Wir aber können nicht zum zweiten Mal uns auf die Auslieferung verpflichten lassen. Jedenfalls muß erreicht werden, daß ein Entgegenkommen und Erörterung über die Modalitäten zugestanden wird.

Schiffer: Es darf bei dieser Verhandlung nicht ganz das Ziel bezüglich der Auslieferung verloren werden.

Simson: Ich bin auch der Meinung, daß die Auslieferungsfrage nur allmählich in Ordnung zu bringen ist. Francqui wird in dieser Hinsicht arbeiten, da er Deutschland und Belgien wirtschaftlich verkoppelt hat8.

8

Über die dt.-belgischen Abmachungen s. Dok. Nr. 108; zum Fortgang der Verhandlungen mit der Entente s. Dok. Nr. 113.

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