2.210 (bau1p): Nr. 208 Besprechung beim Reichskanzler über die Bildung einer Arbeiterregierung und den Rückzug der Truppen aus Berlin am 22. März 1920, 14.30 Uhr

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Nr. 208
Besprechung beim Reichskanzler über die Bildung einer Arbeiterregierung und den Rückzug der Truppen aus Berlin am 22. März 1920, 14.30 Uhr1

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Die Datierung ist nicht in der Überschrift der Vorlage enthalten, ergibt sich aber aus dem Text. Dieser trägt keine Unterschrift, doch könnte GehRegR Brecht der Protokollant gewesen sein, da die vorliegende Durchschrift am Kopf das Wort „Aufzeichnung“ und im Text Korrekturen von seiner Hand aufweist. Das Dok. wird von ihm am 4.5.20 zu den Akten geschrieben. Abschriften befinden sich in: R 43 I /683 , Bl. 111 f. und 1304, Bl. 67 f. – Sachlich ist die Besprechung im Zusammenhang mit dem am Morgen des 20. 3. vereinbarten Acht-Punkte-Programms zu sehen, aufgrund dessen der Generalstreik sofort abgebrochen werden sollte (vgl. Dok. Nr. 204, Anm. 28). Obwohl die führenden Vertreter des ADGB, der Afa, des DBB und der Berliner Gewerkschaftskommission entsprechende Aufforderungen durch Flugblätter noch am 20. 3. verbreitet hatten (R 43 I /2719 , Bl. 109; vgl. Vorwärts vom 22.3.20, Abendausgabe), war der Generalstreik von der Berliner Zentralstreikleitung, auf die Funktionäre der USPD und der KPD maßgebenden Einfluß ausübten, fortgesetzt worden. Bestimmt wurde diese Entwicklung von der zwischen den drei Linksparteien und den Gewerkschaften umstrittenen Frage der Schaffung und Zusammensetzung einer sog. Arbeiterregierung, deren Bildung Legien dem ZK der USPD bereits am 17. 3. vorgeschlagen hatte (vgl. Wilhelm Koenen: Zur Frage der Möglichkeit einer Arbeiterregierung nach dem Kapp-Putsch. In: Beiträge zur Geschichte der dt. Arbeiterbewegung. 4. Jg. (1962), S. 342–352). Zur weiteren Anspannung der Lage trug auch das auf die verschärften Ausnahmebestimmungen (vgl. Dok. Nr. 205, Anm. 8) gestützte Vorgehen von Reichswehrtruppen in den Berliner Vororten und der Nichtvollzug des am 20. 3. bereits als endgültig bekanntgegebenen Rücktritts Noskes bei. Am 22. 3. berieten vormittags Gewerkschaftsführer und Vertreter der beiden sozialdemokr. Parteien über die aus Punkt 1 der o. a. Vereinbarung abgeleitete Möglichkeit, eine Arbeiterregierung zu bilden. Die anschließende, hier protokollierte Besprechung beim RK muß als Versuch angesehen werden, bei der RReg. als Voraussetzung für den endgültigen Abbruch des Generalstreikes die Anerkennung wesentlicher Bestimmungen der Vereinbarung vom 20. 3. durchzusetzen und die Aufhebung des verschärften Ausnahmezustands zu erwirken.

R 43 I /2662 , Bl. 111–112 Durchschrift

Am 22. März, nachmittags 2.30 Uhr, fand beim Herrn Reichskanzler eine Sitzung mit Vertretern der Gewerkschaften und der beiden sozialdemokratischen Fraktionen statt. Hierbei trug Legien die Forderungen vor, die

1.

auf Verhandlung mit den bürgerlichen Parteien über Bildung einer reinen Arbeiterregierung2 und

2.

auf Säuberung der Truppen und der Sicherheitswehr und ihre Entfernung aus den Berliner Straßen gingen.

2

Zur terminologischen Klärung des Begriffs Arbeiterregierung, den diesbezüglich von den Linksparteien und Gewerkschaften entwickelten Konzepten sowie zur Frage der Beteiligung nichtsozialistischer Kräfte vgl. Erwin Könnemann: Zum Problem der Bildung einer Arbeiterregierung nach dem Kapp-Putsch. In: Beiträge zur Geschichte der dt. Arbeiterbewegung. 5. Jg. (1963), S. 904–921.

Crispien führte aus: Die Frage der Regierungsbildung steht für uns nicht in erster Linie. Wir haben keine besondere Eile. Die Verhältnisse entwickeln sich von selbst in unserem Sinne. Niemand kann gegen die Arbeiter regieren. In eine Koalitionsregierung würden wir niemals eintreten. Die Zentrale der K.P.D. steht auf unserem Boden3: an eine Rätediktatur ist nicht zu denken. Eine reine Arbeiterregierung ist in Deutschland durchaus möglich. Sie hat die Gewerkschaften, Fraktionen, Angestelltenverbände usw. hinter sich. Ihr Programm würde enthalten: Sozialisierungen, Einziehung der Hohenzollerngüter und der Rebellengüter, aber Schutz des Eigentums im übrigen; die Bauern behalten ihre Güter; praktische Maßnahmen in der Arbeiterfürsorge, reale Erfüllung des Friedensvertrags, aber Versuch, ihn zu mildern. – Bürgerliche würden nicht als Parteivertreter eintreten dürfen, höchstens als Vertreter der christlichen Arbeiter usw.

3

Die KPD hatte mit ihren Aufrufen zum Generalstreik die Losung verbunden, „den Kampf um die proletarische Diktatur und die kommunistische Räterepublik“ zu eröffnen (Aufruf vom 14.3.20; zit. nach: Arbeiterklasse siegt über Kapp und Lüttwitz. Bd. I, Dok. Nr. 44). Sie rückte von der kurzfristigen Durchsetzung dieses Ziels seit dem 20. 3. jedoch aus taktischen Gründen ab und sah in der Bildung einer „sozialistischen Regierung“ einen erwünschten Zustand für die Selbstbetätigung der proletarischen Massen und ihr Heranreifen für die Ausübung der proletarischen Diktatur (Stellungnahme der Zentrale der KPD vom 21. bzw. 23.3.20; zit. nach: Arbeiterklasse siegt über Kapp und Lüttwitz. Bd. I, Dok. Nr. 93).

Brennender ist die sachliche Frage. Die Regierung hat selbst zum Generalstreik aufgerufen4. Von Seeckt soll erklärt haben, daß man jetzt gegen links[737] vorgehen müsse5. Oberst Reinhard und Kessel6 sind noch da, sowie andere, die kein Vertrauen genießen. Die Säuberung des Militärs muß energisch fortgesetzt werden. Die Arbeiter haben sich zum Teil kräftige Positionen erobert. Die Regierung hat die Ehrenpflicht, nicht mit Gewalt dagegen vorzugehen.

4

Vgl. dazu Dok. Nr. 194, Anm. 6.

5

Vgl. dazu Dok. Nr. 206, Anm. 7.

6

Es könnte sich um den Offizier der Berliner Sicherheitspolizei, Hans von Kessel, handeln. Die Sicherheitspolizei, die aus der 3. Streifkompanie des Freikorps Reinhard hervorgegangen war, hatte während der Vorbereitungen und im Verlauf des Kapp-Lüttwitz-Putsches eine zwielichtige Rolle gespielt (vgl. Dok. Nr. 210).

Im Laufe der weiteren Aussprache erklärten Reichskanzler Bauer und Minister Müller, daß die Frage der Arbeiterregierung mit den bürgerlichen Parteien besprochen werden müsse. Minister Müller fügte hinzu, daß wir dem Ausland gegenüber mit einer Arbeiterregierung nicht durchkämen. Das Ausland verlange eine Regierung mit den Mittelparteien7.

7

Der brit. Geschäftsträger in Berlin, Lord Kilmarnock, hatte am 19. 3. Vizekanzler Schiffer gegenüber erklärt, daß Dtld. seiner Meinung nach mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Krediten nur rechnen könne, wenn verfassungsmäßige Zustände aufrechterhalten und die Ordnung vor Störungen durch extreme Kräfte jeder Richtung gesichert werde. Kilmarnock will in gleichem Sinne auch auf einen führenden Vertreter der USPD eingewirkt haben und nimmt für sich in Anspruch, damit mäßigend auf das Zustandekommen der Acht-Punkte-Vereinbarung vom 20. 3. eingewirkt zu haben (Kilmarnock an Curzon, 20.3.20; DBFP, 1st Series, Vol. IX, No. 182). Die Verfahrensweise Kilmarnocks wird am 23. 3. vom brit. Außenministerium gebilligt. Vgl. dazu auch Schultheß 1920, I, S. 65.

Hilferding erklärte, die Arbeiter brauchten reale Garantien, weil ihre Forderungen bisher in rechtsverbindlicher Weise nicht angenommen seien. Das Ganze müsse sich im Rahmen der Verfassung abspielen.

Reichskanzler Bauer machte am Schluß folgende Zusicherungen:

1.

er werde dafür eintreten, daß die Reichswehr aus Berlin zurückgezogen werde und nur das Regierungsviertel besetzt bleibe;

2.

er werde ferner dafür eintreten, daß die Sicherheitswehr durch Arbeiter ergänzt werde;

3.

er werde mit der Fraktion und den bürgerlichen Fraktionen über Bildung einer reinen Arbeiterregierung verhandeln;

4.

er werde für die Aufhebung des verschärften Belagerungszustandes in Berlin eintreten.8

8

Vor der nachfolgenden Kabinettssitzung (Dok. Nr. 209) finden gegen 15.30 Uhr interfraktionelle Besprechungen statt, in denen sich einige der inzwischen aus Stuttgart zurückgekehrten Parlamentarier – darunter Koch, Fehrenbach, Haußmann – über den Inhalt und das Zustandekommen der o. a. Acht-Punkte-Vereinbarung informieren lassen. Umstritten bleibt dabei vor allem die Zweckmäßigkeit des Rücktritts Noskes, den dieser inzwischen als endgültig bezeichnet hat, der Zeitpunkt eventuell anzustrebender RT-Neuwahlen sowie die Verfassungsmäßigkeit der von RIM Koch als „ganz unerträglich“ bezeichneten Abmachung, den Arbeiterparteien und -organisationen entscheidenden Einfluß auf die Regierungsbildung einzuräumen. Von dem Demokraten Haußmann wird die Frage der Demission des gesamten RKab. befürwortend aufgeworfen. Insgesamt hält die Mehrheit der Anwesenden die Vereinbarung für interpretationsbedürftig und nicht bindend. Eine Stellungnahme soll weiteren Fraktionsberatungen überlassen bleiben (Aufzeichnungen in: Nachl. Koch-Weser , Nr. 24, S. 139–141; wortprotokollartig in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nachl. Haußmann, Nr. 43). – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 211.

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