2.93.1 (bru1p): Preispolitik der Reichsregierung und Arbeitsbeschaffungsprogramm.

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Preispolitik der Reichsregierung und Arbeitsbeschaffungsprogramm1.

1

In der Chefbesprechung vom 12.7.30 (Dok. Nr. 73) hatte StS Trendelenburg die Besprechung mit dem RdI angeregt.

Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung und wies zunächst auf die in Deutschland herrschende große Arbeitslosigkeit hin. Er betonte, daß das Bestreben der Reichsregierung darauf gerichtet sei, daß die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger möglichst nicht 1 600 000 übersteige. Hoffentlich werde das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Reichsregierung den erstrebten Erfolg haben. Leider sei es bisher der Reichsregierung noch nicht gelungen, den Straßenbau zu finanzieren2.

2

Vgl. hierzu die Beratungen im Kabinett, Dok. Nr. 46, P. 3 und Dok. Nr. 47, P. 3.

Voraussetzung für Erteilung von Aufträgen seitens der Ressorts im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms sei nun aber, daß die beauftragten Firmen in der Preisfrage entgegenkämen. Es müsse eine gewisse Preissenkung erzielt werden. Dieses Ziel sei gewiß nicht leicht zu erreichen. Er bitte die Herren, sich hierüber zu äußern.

Abraham Frowein ging davon aus, daß der Reichsarbeitsminister kürzlich in einer Rede sich ausdrücklich zur Privatwirtschaft und zu den Grundgedanken[356] der Privatwirtschaft bekannt habe3. Der Reichsarbeitsminister habe unter anderem ausgeführt, daß das Vertrauen der Wirtschaft zum Staate wiederhergestellt werden müsse. Nichts sei nach seiner Auffassung richtiger als dieser Satz. Dieses Ziel der Wiederherstellung des Vertrauens der Wirtschaft zum Staate sei aber nur dann zu erreichen, wenn alle sozialisierenden Maßnahmen unterblieben. Für verhängnisvoll halte er insbesondere folgende Maßnahmen:

3

Froweins Anspielung bezieht sich wahrscheinlich auf die Rede des RArbM auf der Tagung des Reichsverbands dt. Konsumvereine in Duisburg am 28.7.30 (DAZ Nr. 345–346 vom 29.7.30).

a) das Eingreifen des Staates in die Lohnpolitik. Die Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen sei besonders gefährlich4. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern würden hierdurch verkrampft.

4

Der RArbM hatte am 10.6.30 den Schiedsspruch von Bad Oeynhausen für verbindlich erklärt, der für die nordwestdt. Eisenindustrie eine Lohnsenkung von 7½% und eine über den Prozentsatz der Lohnsenkung hinausgehende Preissenkung festgesetzt hatte (Schultheß 1930, S. 133 f.).

b) verhängnisvoll sei ferner, daß die Wohnungszwangswirtschaft immer noch nicht abgebaut worden sei. Es sei kein Zufall, daß gerade der Index der Baumaterialien so stark gestiegen sei. Die Wohnungszwangswirtschaft führe unweigerlich zur Korruption.

Wenn diese grundsätzlichen Fehler nicht beseitigt würden, sehe er wegen der deutschen Wirtschaft sorgenvoll in die Zukunft. Er müsse auch noch besonders auf die Kartellnotverordnung eingehen5. Er habe hier die Besorgnis, daß der Staat durch die Notverordnung in falscher Weise in die Preisbildung eingreife. Wie wolle der Staat die Preisbildung zum Beispiel auf dem Gebiet der Steinkohle oder der Braunkohle kontrollieren? Die gesamte Produktion an Steinkohle mache einen jährlichen Wert von 2½ Milliarden Mark aus, die der Braunkohle einen jährlichen Wert von 500 Millionen Mark. Es sei für den Staat völlig unmöglich, hier die Preisbildung richtig zu kontrollieren.

5

S. den 5. Abschnitt der NotVO v. 26.7.30, RGBl. I, S. 328 .

Vor allem sei darauf hinzuweisen, daß die Kontrollmaßnahmen in erster Linie kleinere und mittlere Unternehmungen treffen würden. Gerade diese Unternehmungen müßten die Möglichkeit der Koalition haben. Er sei der Auffassung, daß die mittleren Betriebe unbedingt erhalten bleiben müßten. Bei den Großbetrieben bestehe die Gefahr, daß sie ihren Sitz ins Ausland verlegten. Eine derartige Maßnahme sei außerordentlich leicht zu treffen. Die Belastung der Wirtschaft mit sozialen Abgaben sei zu groß. Hauptsächlich aus diesem Grunde seien auch vielfach die Preise zu hoch. Er sei ein grundsätzlicher Gegner von Lohnsenkungen durch staatlichen Zwang.

Die Frage, wie die Preise gesenkt werden könnten, sei außerordentlich schwer zu beantworten. Die Löhne seien in den letzten Jahren gestiegen, die Preise für Waren jedoch gar nicht oder sehr wenig. Die Preise für Gegenstände des täglichen Gebrauchs seien sogar gesunken. Mit Recht seien die Kartellpreise im allgemeinen stabil geblieben. Die Preisbildung der Verbrauchsgüter werde durch die Konsumgenossenschaften wesentlich beeinflußt. Den Anteil der Markenartikel an der Gesamtproduktion überschätze man vielfach.

[357] Der Reichskanzler wies zunächst darauf hin, daß das Reichskabinett bereits am 30. April grundsätzlich die schrittweise Aufhebung der Wohnungszwangswirtschaft beschlossen habe6. Es ständen vielfach auch schon Vierzimmerwohnungen als unvermietbar leer. Die Hauszinssteuer müsse bald in die endgültige Finanzreform einbezogen werden.

6

Das Protokoll über die Ministerbesprechung vom 30.4.30 (Dok. Nr. 21, P. 1) enthält keinen Beschluß über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft.

Die Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen sei außerordentlich selten.

Bei der Kartellnotverordnung sei zunächst der Reichswirtschaftsrat eingeschaltet worden7. Die Reichsregierung werde auf diesem Gebiete besonders vorsichtig zu Werke gehen. Die Neubauten müßten unbedingt verbilligt werden. Es müsse allgemein gespart werden, besonders auch von Ländern und Gemeinden. Im übrigen komme es nach seiner Auffassung nicht auf generelle Steuersenkungen an, sondern man müsse gewissen Industrien durch Senkung der Realsteuern helfen.

7

Vgl. Dok. Nr. 87 und Dok. Nr. 104, P. 1.

Direktor Kraemer wies darauf hin, daß in der Lohnfrage häufig der Fehler begangen werde, die amerikanischen Löhne in falscher Weise mit den deutschen Löhnen zu vergleichen. Man müsse davon ausgehen, daß der amerikanische Dollar nur eine Kaufkraft von ungefähr 1,60 M bis 1,70 M habe. Die Löhne seien in Deutschland teilweise sogar höher als in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, z. B. erhalte ein Setzer in Deutschland mehr als in den Vereinigten Staaten.

Es sei ohne weiteres zuzugeben, daß die Wirtschaft in der Rationalisierung vielfach zu weit gegangen sei. Die Markenartikel seien in den Preisen meistens heruntergegangen. Es sei übrigens zu betonen, daß der Lohnanteil bei den Unkosten der meisten Artikel größer sei als man denke.

Der Grund dafür, daß die Preise vielfach zu hoch seien, liege darin, daß der Einzelhandel übersetzt sei.

Auf dem Gebiete der Kartellnotverordnung müsse die Reichsregierung besonders vorsichtig vorgehen. Der Handel bevorzuge preisgebundene Waren, weil er auf diese Weise sichere Einnahmen habe. Notwendig sei zunächst die Feststellung, wieviel Kartelle vorhanden seien.

Dr. Mast verlieh seinem Bedauern darüber Ausdruck, daß der Straßenbau im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms fehlen solle. Er halte es leicht für möglich, gerade beim Straßenbau die Löhne zu senken. Verhandlungen mit den Gewerkschaften hierüber seien nach seiner Auffassung nicht aussichtslos.

Der Reichskanzler erwiderte, die Reichsregierung hoffe bestimmt, den Widerstand des Reichsbankpräsidenten gegen die Finanzierung des Straßenbaues zu brechen8.

8

Zur Haltung Luthers s. Dok. Nr. 47, P. 3.

Generaldirektor Poensgen ging besonders auf die Kartellnotverordnung ein. Er bezeichnete es als besonders bedenklich, daß nach dieser Verordnung ein Verwaltungsbeamter Strafen festsetzen könne, gegen die ein Rechtsmittel nicht gegeben sei.

[358] Sodann ging er auf die wirtschaftliche Lage der Stahlproduktion ein und führte aus, daß die Stahlproduktion im Jahre 1926 16 000 t in Deutschland pro Tag betragen habe. Wenn man berücksichtige, daß jetzt viel mehr Arbeiter beschäftigt würden als im Jahre 1926, müsse die Stahlproduktion eigentlich 18 000 t pro Tag betragen. In Wirklichkeit betrage sie aber 14 000 t täglich. Diese Ziffern beleuchteten zur Genüge die schlechte Lage der Stahlindustrie. Infolgedessen seien Ersparnismaßnahmen unvermeidbar. Die Vorstandsgehälter seien vom 1. Juli d. J. ab um 10% gekürzt worden. Die Gehälter der übrigen Beamten sollten vom 1. Januar 1931 ab gekürzt werden.

Zur Zeit lägen in Deutschland Erzvorräte für 7 Monate auf Lager, während normalerweise nur für 1½ Monate Vorräte vorhanden sein dürften. Für die Eisen- und Stahlindustrie sei eine Preisherabsetzung unmöglich, weil der Eisenindex den anderen nie gefolgt sei.

Generaldirektor Pietrkowski wies im Zusammenhang mit der Kartellnotverordnung darauf hin, daß die Industrie an der Bindung der Preise kein besonderes Interesse habe, sondern in erster Linie der Handel.

Geheimrat Dr. Duisberg führte aus, daß bei den Stickstoffpreisen vielleicht eine kleine Senkung möglich sei. Die meisten Produkte der I.G. Farben würden jedoch ins Ausland verkauft, so daß Deutschland hier an einer Preissenkung gar nicht besonders interessiert sei. Zum Beispiel würden 96,7% der gesamten Aspirinproduktion der I.G. Farben ins Ausland verkauft, nur 3,3% in Deutschland. Von der Salvarsanproduktion würden 89% ins Ausland verkauft, 11% fänden in Deutschland Absatz.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg betonte, daß die Reichsregierung auf dem Gebiete der Kartellnotverordnung vorsichtig vorgehen werde. Was die Frage der Preisgestaltung anlange, so müßten die Industrien, welche Aufträge im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms erhielten, vor allem berücksichtigen, daß es sich hier um zusätzliche Arbeiten handele. Infolgedessen müßten die Industrien in der Preisfrage hier entgegenkommen.

Bergwerksdirektor Dr. Brandi betonte die Notwendigkeit, den Straßenbau in das Arbeitsbeschaffungsprogramm einzubeziehen.

Generaldirektor Poensgen äußerte den Wunsch, die Reichsbahn mit Eisenschwellen zu beliefern. In der letzten Zeit habe die Reichsbahn Holzschwellen verwendet und das Holz hierfür aus dem Ausland eingeführt. Nach seiner Auffassung schädige dieses Vorgehen der Reichsbahn die deutsche Wirtschaft außerordentlich. Er habe auch deshalb bereits mit der Reichsbahn Fühlung genommen. Die Herren behaupteten, daß bei Verwendung von Holzschwellen die Fahrt in der Eisenbahn ruhiger sei, was er jedoch auf Grund von Probefahrten, an denen er teilgenommen habe, nicht zugeben könne.

Bergwerksdirektor Dr. Brandi warf die Frage auf, ob es nicht vielleicht möglich sei, den Hansa-Kanal zu bauen. Nach Fertigstellung dieses Baues werde es möglich sein, 30 000 Bergarbeiter mehr zu beschäftigen als bisher, weil dann viel mehr Ruhrkohlen als bisher nach Hamburg geliefert werden könnten.

Der Reichskanzler erwiderte, daß dieser Kanalbau leider zur Zeit nicht möglich sei.

[359] Es bestand zum Schluß Übereinstimmung über folgende WTB-Notiz:

Die Vertreter der Industrie beim Reichskanzler.

*) Berlin, 4. August. Im Laufe des heutigen Nachmittags empfing der Reichskanzler in Gegenwart des Staatssekretärs Dr. Trendelenburg verschiedene Persönlichkeiten des Reichsverbandes der deutschen Industrie.

Die Aussprache hatte die Frage der Gestaltung der Preise im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms zum Gegenstande.

Die weiteren Besprechungen mit den einzelnen Zweigen der Industrie werden im Reichswirtschaftsministerium geführt werden9.

9

Die Verlautbarung, hier als Zeitungsnotiz eingeklebt, wurde am 5.8.30 in der dt. Presse veröffentlicht.

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