1.261 (bru2p): Nr. 513 Der Bayerische Ministerpräsident an den Reichskanzler. München, 9. Oktober 1931

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Nr. 513
Der Bayerische Ministerpräsident an den Reichskanzler. München, 9. Oktober 1931

R 43 I /1165 , Bl. 8–11

[Vorschläge zur Wirtschaftspolitik]

Sehr verehrter Herr Reichskanzler!

Mit äußerster Sorge verfolgt auch die Bayerische Staatsregierung die in bedenklichstem Ausmaße und Tempo fortschreitende ständige Verschlechterung der deutschen Wirtschaftslage. Nach den an die Öffentlichkeit kommenden Mitteilungen ist die Reichsregierung bemüht, durch eine zu erlassende umfangreiche Notverordnung auf wichtigen Gebieten entsprechende Vorkehrungen und Maßnahmen zu treffen, um den aus dieser Entwicklung sich ergebenden drohenden Gefahren zu begegnen1. Ich hätte es für dringendst erwünscht gehalten, wenn zu den Vorberatungen hierüber auch die Landesregierungen zugezogen worden wären, wie ich das schon früher bei der Bayerischen Gesandtschaft in Berlin zum Ausdruck gebracht habe. Ich behalte mir vor, auf diese auf die Dauer unmögliche Art und Weise des Vorgehens der Reichsregierung zurückzukommen. Nachdem aber die Länder bisher zu den Beratungen nicht zugezogen worden sind, sehe ich mich veranlaßt, mich mit einer Stellungnahme[1819] zu den besonders im Vordergrund der Erörterungen stehenden Fragen an Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, zu wenden. Es sind dies Fragen, die in den letzten Tagen insbesondere durch die Kundgebung der deutschen Wirtschaftsverbände2 und die Gegenäußerung aus Gewerkschaftskreisen3 herausgehoben worden sind.

1

Es handelt sich um die 3. NotVO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen […] vom 6.10.31. Das Datum des Schreibens wurde handschriftlich vom 5. in 9. Oktober 1931 berichtigt. Das Praesentatum lautet auf den 13.10.31. Vgl. Dok. Nr. 509, Anm. 1.

2

S. Dok. Nr. 496.

3

ADGB, AfA, DGB und Gewerkschaftsring hatten am 1.10.31 eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der die Wirtschaftsverbände beschuldigt wurden, sie wollten den wirtschaftlich Schwachen der Willkür des wirtschaftlich Starken ausliefern. Der Versuch, die ungeheure Wirtschaftsnot aus staatlichen Eingriffen und aus der dt. Sozial- und Lohnpolitik zu erklären, sei völlig haltlos, die Wirtschaftsnot sei vielmehr auf die allgemeinen Auswirkungen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems zurückzuführen, die durch überspannten Protektionismus, Subventionspolitik und Überrationalisierung verschärft worden seien. Die Gewerkschaften hatten die krasse Interessenpolitik der Unternehmer zurückgewiesen und folgende Forderungen erhoben: 1. Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung aller Arbeitslosen; 2. Verkürzung der Arbeitszeit durch Einführung der 40-Stunden-Woche; 3. Erhaltung und Steigerung der Kaufkraft, Sicherung des Tarifrechts und des staatlichen Schlichtungswesens; 4. Senkung der Zölle mit dem Ziel der Preisanpassung an das gesunkene Weltmarktniveau. Druck auf überhöhte Handels- und Verarbeitungsspannnen; 5. Auflockerung der monopolistischen Preisbindungen bei gleichzeitigem Ausbau der öffentlichen Kontrolle; 6. Öffentliche Bankenaufsicht; 7. Rücksichtslose Kürzung der Spitzengehälter und Pensionen in Wirtschaft und Verwaltung (Vorwärts, Nr. 461 vom 2.10.31).

Die Kundgebung der Wirtschaftsverbände sieht m. E. die Gründe unserer besonders bedrängten Lage, soweit diese nicht auf die schlechte Weltwirtschaftslage, die ständige Erhöhung der Zollmauern im Ausland, die Umgestaltung der Weltproduktion in Industrie und Landwirtschaft durch übersteigerte Rationalisierung, sondern auf unsere innere deutsche Wirtschafts- und Arbeitspolitik zurückzuführen sind, durchaus richtig. Nur mehr tiefgreifende Maßnahmen, die grundlegende Fehler der letzten Jahre wieder einigermaßen ausgleichen würden, können Rettung bringen.

Entscheidend für das Schicksal unserer Wirtschaft wird es sein, ob es gelingt, die das Volk zermürbende und schließlich auch den Staat zerstörende Arbeitslosigkeit zu beheben. Nur ein Volk, das in seiner Gesamtheit schafft, kann leben. Wenn es nicht gelingt, die fortschreitende Arbeitslosigkeit einzudämmen und eine große Zahl der Arbeitslosen wieder automatisch, nicht durch künstliche Versuche wie durch das geplante Reichssiedlungswerk, in Arbeit zu bringen, dann sind die Zahlungseinstellungen der öffentlichen Körperschaften nicht mehr zu vermeiden, weil ansteigende Ausgaben rapid sinkenden Einnahmen gegenüberstehen. Kleine Mittel der vorübergehenden Arbeitsbeschaffung nützen nicht mehr; sie verbrauchen nur die letzten Mittel, die für eine neue Gestaltung der Wirtschaft noch verwendet werden könnten. Um durchgreifend zu helfen, ist es notwendig, wie das von Ihnen, sehr verehrter Herr Reichskanzler, selbst schon wiederholt betont worden ist, mit allen Mitteln die Produktionskosten zu senken. Das kann nur dadurch geschehen, daß unserer Wirtschaft wieder eine größere Bewegungsfreiheit in der Preisgestaltung zurückgegeben wird. Die Produktion ist zur Zeit gehemmt durch weit überspannte Steuern und soziale Lasten, vor allem aber durch Preis- und Lohnbindungen von unerträglicher Art. Wir haben tatsächlich keine freie Wirtschaft in Deutschland,[1820] sondern eine Art durch Kartell-, Trusts- und Tarifbindungen gedrosselter Zwangswirtschaft.

Aus diesen beiden Banden muß die Wirtschaft befreit werden, um wieder den freien Betätigungstrieb aller Glieder der Wirtschaft bis hinunter zum Arbeiter zu wecken. Nur so kann unsere Wirtschaft, die ohnedies mit schwersten Hemmungen von außen zu kämpfen hat, wieder einen größeren Wirkungsgrad und Umfang zurückgewinnen. Dabei müssen ihre Kräfte insbesondere auch darauf gelenkt werden, der gegenseitigen Befruchtung im inneren Markte zu dienen.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es unerläßlich, die bestehenden Lohnbindungen weitgehend aufzulockern und den freien Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern je nach den zugrundeliegenden Verhältnissen wieder mehr Spielraum zu geben. Es ist notwendig, den Parteien des Arbeitsvertrages wiederum die eigene Verantwortung für die Lohngestaltung mehr zu überlassen. Dabei wird man nicht auf eine vermittelnde Tätigkeit des Schlichters zu verzichten brauchen. Vielleicht wäre es möglich, den Schlichter lediglich zur Entscheidung über die von den beiden Parteien gemachten sich gegenüberstehenden Vorschläge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu berufen. Die Parteien würden dann schon bei Aufstellung ihrer Forderungen mehr Maß halten und nicht wie jetzt jeweils auf den beiden Seiten in ausgedehntem Maße bei ihren Forderungen vorbieten. Überdies müßte die Möglichkeit geschaffen werden, in einzelnen Betrieben je nach der Sachlage zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerschaft auch besondere Tarife zu vereinbaren.

Ich hege keinen Zweifel, daß weiteste Kreise der Arbeiterschaft es vorziehen, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten als das Los dauernder Arbeitslosigkeit ferner zu tragen oder von diesem Schreckgespenst dauernd bedroht zu sein, besonders wenn sie damit rechnen müssen, daß die Unterstützungsbeträge eines Tages überhaupt nicht mehr gezahlt werden können. Rücksichten auf einzelne Parteien oder Interessentengruppen darf es in dieser Frage nicht mehr geben. Der Zusammenschluß der Arbeiterschaft ist m. E. immer noch stark genug, sie vor Ausbeutung zu bewahren, und nach dieser Richtung würde auch ein staatliches Eingreifen immerhin vorzubehalten sein.

Diese Maßnahme ist umso notwendiger, als wir bei der fortschreitenden Absperrung der fremden Staaten hinter Zollmauern mit einer zwangsläufig sich vermindernden Ausfuhrmöglichkeit zu rechnen haben. Ich erinnere nur an die schwebenden Verhandlungen in England, zum Schutzzoll überzugehen, und an die durch den Sturz des englischen Pfundes zu erwartende erhöhte englische Konkurrenz auf dem Weltmarkt und in Deutschland selbst. Mit einem starren Festhalten an den Tarifbindungen wird unsere Ausfuhr rasch immer weiter einschrumpfen und die Gefahr immer drohender werden, daß das Ausland mehr und nach Deutschland hereinliefern wird. Die Lockerung der Tarifbedingungen ist auch insofern eine dringende Notwendigkeit, weil sich nach und nach durch immer weitere Ausdehnung des Wirkungsbereiches der Tarife, die trotz der Verschiedenheit der Lebensbedingungen in den einzelnen Landesteilen vielfach über das ganze Reich erstreckt worden sind, eine allzu schematische und[1821] starre Lohngestaltung herausgebildet hat, unter der so manche mit schlechteren Verhältnissen arbeitende Betriebe verkümmern müssen. Damit wird nur der Zusammenballung der Erzeugung in einzelnen Industriegebieten, wenn nicht in einzelnen Großbetrieben, vorgearbeitet, die zur äußersten Rationalisierung und damit zur weiteren Freistellung von Arbeitskräften führen müssen. Viele Mittel- und Kleinbetriebe, die das Rückgrat einer Volkswirtschaft bilden müssen, hätten nicht zu verschwinden brauchen und könnten noch erhalten werden, wenn ihnen eine individuelle Lohngestaltung gestattet würde.

Geschieht das nicht, so werden auch die Betriebe zwangsläufig zu immer stärkerem Festhalten an ihren Bestrebungen zum Abschluß fester kartellmäßiger Bindungen getrieben, während es – und das ist das andere große einer Verbesserung bedürftige Moment in unserer Wirtschaftspolitik – dringendst notwendig ist, dieses ebenfalls allzu viel festgefahrene und sozusagen in sich verfilzte System der kartell- und trustmäßigen Preisbindungen ins Werk zu bringen. Nur wenn auch hiergegen mit aller Macht vorgegangen wird, kann auch eine Beseitigung der starren Lohnbindungen gerechtfertigt und mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden. Das muß hinuntergehen bis zu den zweifellos ebenfalls allzu starren und vielfach zu hochgegriffenen, zwar nicht ausdrücklich, aber doch sehr wirksam festgehaltenen Preisbindungen durch die Innungen und sonstigen Verbände der Gewerbetreibenden.

Ich bin mir durchaus bewußt, daß die Kartelle und Trusts ihre große volkswirtschaftliche Bedeutung haben, insbesondere wo es gilt, wirklich unnützes gegenseitiges Konkurrenzieren einzelner Industriebetriebe besonders im Auslande hintanzuhalten. Mit kluger und energischer Ausnützung der schon in der Lohnnotverordnung vom 26.7.19304 enthaltenen Vollmachten würde auf diesen Gebieten bereits vieles geschehen können. Gegebenenfalls könnte man sogar, wenn es zur Durchsetzung der Beseitigung der Lohnbindungen notwendig erscheinen sollte, eine völlige Aufhebung aller kartell- und trustmäßigen Preisbindungen, besonders auch in der zweiten Hand, erwägen und dabei die besondere Prüfung vorbehalten, welche Bindungen etwa nach besonderer Würdigung der Verhältnisse aus volkswirtschaftlich berechtigten Gründen aufrecht erhalten werden könnten. Das würde die Schaffung einer Kartellaufsicht bedeuten, die mit entscheidenden Vollmachten hierfür auszustatten wäre. Preisbindungen mehr lokaler Natur könnten wohl samt und sonders beseitigt werden.

4

S. die NotVO zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26.7.30, 5. Abschnitt (RGBl. I, S. 328 ).

Als eine dritte Frage von äußerster Tragweite sehe ich die alsbaldige noch weitere Zurückführung der Arbeitslosenversicherung auf das Maß einer notwendigen Unterstützung der Erwerbslosen an. Daß der Versuch, das Problem der Arbeitslosigkeit aufbauend auf den Grundgedanken der Versicherung zu lösen, völlig gescheitert ist, kann nicht mehr bezweifelt werden. Bei der heute schon vollzogenen Annäherung an die Wohlfahrtsfürsorge scheint eine Fortführung dieser Entwicklung angebracht, die eine Verbilligung des Vollzuges und die Wiedereinführung der auf die Dauer nicht zu entbehrenden obligatorischen[1822] Bedürftigkeitsprüfung, wie sie bei der früheren Erwerbslosenunterstützung durchgeführt wurde, mit sich bringen würde. Die Gemeinden sind die gegebenen Vollzugsorgane für die Durchführung dieser Unterstützung. Es war ein Fehler, sie ihnen aus der Hand zu nehmen, ein nebenbei auch so kostspieliger Fehler, der m. E. je eher je besser wieder gutgemacht werden muß.

Wenn ich mich auf die Hervorhebung dieser drei Gesichtspunkte beschränke, so tue ich dies nur, weil sie mir zur Zeit als die wichtigsten erscheinen, zu deren Bereinigung m. E. alsbald und nachdrücklichst geschritten werden müßte5.

5

In seiner Antwort vom 23.10.31 wies der RK den Bayer. MinPräs. auf den von der neuen RReg. einberufenen Wirtschaftsbeirat hin, der zu den von Held behandelten Fragen werde Stellung nehmen müssen (Konzept in R 43 I /1165 , Bl. 12).

Mit dem Ausdruck der vorzüglichsten Hochachtung bin ich

Ihr sehr ergebener

Dr. Held

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