1.41.1 (bru3p): 1. Ostfragen.

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1. Ostfragen.

Reichsminister Schlange trug vor, daß die Not im Osten einen solchen Umfang angenommen habe, daß, wenn nicht bald durchgreifende Maßnahmen erfolgen[1965] würden, die Bestellung der nächsten Ernte gefährdet und mit einer Ernährungskrise in Deutschland im nächsten Jahre zu rechnen sei1. Die Zahl der Zwangsvollstreckungen vor allem nehme einen untragbaren Umfang an. […] Er verlas daraufhin den Entwurf der Kabinettsvorlage, mit der die notwendigen Maßnahmen zur Erntesicherung getroffen und gleichzeitig die Entschuldung im Osten gefördert werden solle2.

1

Vgl. dazu auch RM Schlanges Äußerungen in Dok. Nr. 545, P. 3.

2

Der Entw. einer NotVo. zur Sicherung der Ernte und der landwirtschaftlichen Entschuldung im Osthilfegebiet sollte dem Inhaber eines landwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen oder gärtnerischen Betriebs ermöglichen, ein Sicherungsverfahren zu beantragen, wenn er „außerstande ist, ohne wesentliche Beeinträchtigung der Vorbereitung und Einbringung der nächsten Ernte seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen“. Der Betrieb sollte dann durch die Landstelle der Aufsicht durch einen Treuhänder unterstellt werden. Die Einleitung des Sicherungsverfahrens bedeutete für den Betrieb, daß Zwangsvollstreckungen, Verwertung gepfändeter Gegenstände und Entscheidungen auf Eröffnung von Konkursverfahren ausgesetzt wurden. Wenn der Inhaber eines unter dem Sicherungsverfahren stehenden Betriebs „die Pflichten eines ordentlichen Landwirts“ verletzte, konnte der Treuhänder beim Amtsgericht die Zwangsverwaltung des Betriebs beantragen. Die Betriebseinnahmen sollten zur Bezahlung der laufenden Löhne, Gehälter und Sozialversicherungsbeiträge, der Deckung der notwendigsten Lebensbedürfnisse des Inhabers und seiner Familie, der laufenden öffentlichen Abgaben, der laufenden Zinsen für Auslandsanleihen und der Sicherung des Betriebs und der Ernte verwendet werden. Darüber hinaus verfügbare Mittel sollten zur Deckung der Hypothekenzinsen herangezogen werden. Die Bank für Industrieobligationen sollte Kredite zur Erntefinanzierung und zur Durchführung des Entschuldungsverfahrens zur Verfügung stellen (Entw. mit Anschreiben Schlanges vom 14.11.31 in R 43 I /1811 , Bl. 90–97, auch in Nachl. Pünder , Nr. 113, Bl. 11–18).

Zu diesen Vorschlägen erklärte er, daß die Bedenken unbegründet seien, daß für die landwirtschaftlichen Betriebe, auf die die Maßnahmen Anwendung finden sollen, die Gefahr geschaffen werde, daß sie keine weiteren Kredite erhalten würden. Die in Frage kommenden Betriebe würden jetzt schon sowieso keinen weiteren Kredit bekommen. Bedenken nach den verschiedensten Richtungen müsse überhaupt jeder Hilfsplan für den Osten auslösen. Demgegenüber müsse man sich vorhalten, daß die Gefahr bestehe, daß die Mehrzahl der Betriebe des Ostens in wenigen Wochen zusammenbreche, wenn nicht nachdrücklichst geholfen werde. Auch eine weiter verzögerte Hilfe werde deswegen die Katastrophe nicht abwenden können. Unter diesen Umständen habe ihm notwendig geschienen, mit der Sicherung der Ernte eine Erleichterung der Entschuldung zu verbinden.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erklärte, sich dem Standpunkt des Kommissars für die Osthilfe anzuschließen. Er begrüße auch die Verbindung der Betriebssicherung mit der Entschuldung. Wegen gewisser Bedenken für die Genossenschaftsbanken schlage er vor, zu erwägen, ob nicht zu deren Gunsten eine Änderung des § 18 erfolgen könne3. Die Genossenschaftsinstitute könnten vielleicht irgendwie bevorzugt werden wegen ihrer Forderungen, eventuell durch Aufstellung einer bestimmten Reihenfolge der Berücksichtigung der Gläubiger4.

3

§ 18 des Entw. enthielt Bestimmungen über den Erlaß von Zinsrückständen sowie die Herabsetzung von Kapitalforderungen im Rahmen von Entschuldungsplänen für sanierungsreife landwirtschaftliche Betriebe (R 43 I /1811 , Bl. 90–97, hier Bl. 95–96).

4

Telegraphisch und mit einem Schreiben protestierte der Raiffeisen-Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften beim RK gegen die NotVo., die zwar den Realkredit schützen, den Personalkredit jedoch preisgeben und damit „zu einer Kette von Zusammenbrüchen zunächst der unmittelbaren Gläubiger und damit der landwirtschaftlichen Gläubiger führen“ würde (Telegramm vom 19. und Schreiben vom 20.11.31 in R 43 I /1811 , Bl. 100–103, Zitat Bl. 103). Weitere Proteste gegen die NotVo. vom Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiersgewerbes und von der Rentenbank-Kreditanstalt vom 20.11.31, von dem Deutschen Genossenschaftsverband vom 21.11.31 und vom DIHT vom 23.11.31 in R 43 I /1811 , Bl. 113, Bl. 114–124, Bl. 126 und Bl. 141–149.

[1966] Starke Bedenken trage er aber, eine Hilfe, wie sie die Vorlage leisten werde, nur dem Osten zukommen zu lassen. Auch die Landwirtschaft im Westen sei in großer Not. Es seien dort bereits Erwägungen angestellt worden, eine Notgemeinschaft zu bilden. Um der Landwirtschaft westlich der Elbe zu helfen, habe er die Vorlage […] vom 16. November 1931 ausarbeiten lassen, die zu Beginn der Sitzung an die Kabinettsmitglieder verteilt worden sei. Diese enthalte den Entwurf einer Verordnung zur Sicherung der Betriebsführung in den landwirtschaftlichen Betrieben, die nicht zum Osthilfebezirk gehören. Er bitte, nicht eine Regelung für den Osten ohne eine Berücksichtigung des Westens zu treffen5.

5

Der REM hatte am 16. 11. der Rkei den NotVo. Entw. über die Zwangsvollstreckung im landwirtschaftlichen Betrieb übersandt, den er im Einvernehmen mit dem RJM formuliert hatte (R 43 I /2549 , Bl. 202–210). Vgl. Dok. Nr. 582, P. 2.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er dem Herrn Reichspräsidenten zugesagt habe, die Verordnung zu Gunsten des Ostens möglichst umgehend durchzuführen. Eine Regelung für ganz Deutschland würde von so weittragender Bedeutung sein, daß sie nicht sofort und ohne eingehendere Prüfung erfolgen könne. Eine solche Regelung würde zudem den Eindruck eines Moratoriums machen.

Der Reichsbankpräsident brachte noch stärkere Bedenken gegen den Vorschlag des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft vor und begründete diese im einzelnen. Er meinte, die Regelung im Osten müsse sich auf das Allernotwendigste beschränken, sonst sei das ganze kapitalistische System nicht mehr zu halten. Die verschiedenen staatlichen Eingriffe seit dem Sommer hätten dieses schon ohnehin stark untergraben. Ähnliche Maßnahmen wie die der Vorlage des Ministers Schlange dürften deswegen für den Westen nicht erlassen werden. Auch die Bestimmungen für den Osten, wie sie in der Vorlage vorgeschlagen wären, müßten weite Einschränkungen erfahren. Der Gläubigerzugriff brauche z. B. nicht verhindert zu werden bei Gegenständen, die mit dem landwirtschaftlichen Betriebe nichts zu tun hätten. Das treffe z. B. zu bei Kunst- und anderen Wertgegenständen, die die Gutsbesitzer erworben hätten. Auch müsse ein Berufungsverfahren gegen die Eröffnung des Sicherungsverfahrens eingeführt werden. Schließlich müßten einzelne weitere Bestimmungen gemildert werden. Z. B. gehe es nicht an, im § 15 zu b) Forderungen aus Abfindungsverträgen und sonstige Familienforderungen zu bevorzugen6. Sonst würde die ganze Verordnung nur als Maßnahme zur „Familiensanierung im Osten“ aufgefaßt werden.

6

§ 15b des NotVoEntw. lautete: „Darüber hinaus verfügbare Mittel sind zur Bezahlung der laufenden Zinsen der ersten Hypothek sowie zur Erfüllung sonstiger laufender Zinsverpflichtungen in der Reihenfolge zu verwenden, die im Falle der Zwangsversteigerung des Grundstücks maßgebend wäre, ferner zu laufenden Zinszahlungen auf Forderungen aus Abfindungsverträgen und auf sonstige Familienforderungen. In letzter Linie sind die sonstigen Forderungen zur berücksichtigen“ (R 43 I /1811 , Bl. 90–97, hier Bl. 94).

Der Reichswirtschaftsminister schloß sich den Bedenken des Reichsbankpräsidenten an.

Der Reichskanzler erklärte, der Plan des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft für die Landwirtschaft westlich der Elbe solle gesondert behandelt werden7.

7

Siehe Dok. Nr. 582, P. 2.

[1967] Reichsminister Schlange ging auf die Bedenken des Reichsbankpräsidenten ein und meinte, eine Berufung an die Oststelle wäre unmöglich. Die Oststelle würde dadurch zu stark überlastet werden.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß die Berufungsinstanz nicht unbedingt die Oststelle zu sein brauche.

Der Reichsbankpräsident warf den Gedanken auf, als Berufungsinstanz ein Gremium mit landwirtschaftlichen Vertretern zu bestimmen.

Reichsminister Schlange äußerte Bedenken gegen ein solches Gremium. Solche Gremien seien bei unserer heutigen innerpolitischen Lage in Deutschland zu stark parteipolitisch zerrissen, um praktisch zu arbeiten. Zu § 15 erklärte er sich bereit, den vom Reichsbankpräsidenten erwähnten Satz, betreffend die Familienforderungen, zu streichen8.

8

Vgl. hierzu den Text der NotVo. in RGBl. 1931 I, S. 677 .

Der Reichsverkehrsminister trug vor, daß die Handwerker im Osten durch das vorgeschlagene Verfahren gefährdet werden würden. Es sei zu befürchten, daß gerade diese und andere kleine Gläubiger mit ihren Forderungen ausfallen würden. Die wirtschaftlich stärkeren Gläubiger hätten meist gesicherte Forderungen und stünden vielfach an erster Stelle.

Der Reichsfinanzminister erklärte, die Voraussetzung für seine Zustimmung zu der Verordnung sei, daß 1) keine Maßnahmen für die Landwirtschaft westlich der Elbe getroffen würden und 2), daß die landwirtschaftlichen Güter nur einmal umgeschuldet werden dürften. Er sehe dabei noch weite Konsequenzen zum Nachteile der Genossenschaften und auch der Preußenkasse. Diese Institute würden schwer geschädigt werden. Die Preußenkasse müsse schließlich vielleicht liquidiert werden.

Der Reichskanzler pflichtete dem Reichsfinanzminister dahin bei, daß die Auswirkungen auf die Genossenschaften berücksichtigt werden müßten. Eine weitere Hilfe für die Preußenkasse könne das Reich nicht leisten. Minister Klepper habe schon jetzt um weitere Hilfe in Höhe von 100 Millionen für die Preußenkasse gebeten. Eine solche sei aber vollständig ausgeschlossen. Die Genossenschaften müßten auch mehr Selbsthilfe treiben. Er bitte den Minister Schlange, vor allem die Bestimmungen der letzten Notverordnung auf die Gehälter bei den Genossenschaften anzuwenden und nach Erlaß der vorliegenden Verordnung den Mißständen im Genossenschaftswesen seine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Der Reichsfinanzminister wies darauf hin, daß eine Sanierung nicht berechtigt wäre, wenn die Anwendung des § 18 keine Aussicht auf Erfolg biete.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft bat, eine zweite Sanierung nicht grundsätzlich abzulehnen. Was die Genossenschaften angehe, so würden diese auch bei dem jetzigen System erheblichen Schaden haben.

Der Reichskanzler wies auf die Gefahr hin, daß durch die Auswirkungen der Verordnung auf die Genossenschaften auch die gesunden Genossenschaften in Mitleidenschaft gezogen würden, und daß namentlich auch andere mittelständische Genossenschaften mitgerissen würden.

[1968] Der Reichsbankpräsident erklärte, es müsse im Wortlaut der Verordnung festgelegt werden, daß das Sicherungsverfahren nicht eingeleitet werden dürfe, wenn es keine Aussicht auf Erfolg biete.

Der Reichsfinanzminister wiederholte, er lehne eine zweite Sanierung unbedingt ab.

Der Reichsverkehrsminister befürchtete, daß 80% aller Genossenschaften illiquide werden würden und Konkurs anmelden müßten.

Der Reichskanzler bat Ministerialrat Quassowski um seine Ansicht über die Auswirkungen auf die Genossenschaften.

Ministerialrat Quassowski erklärte, die Gefahr nicht in solchem Umfange zu sehen. Im übrigen scheine ihm kein Ausweg gegeben, die Gefahren ganz zu vermeiden. Er sehe auch nicht die Gefahr für die Genossenschaften westlich der Elbe. Gegebenenfalls müßten vielleicht noch mehr Finanzwechsel von der Reichsbank aufgenommen werden.

Der Reichsfinanzminister trat dem entgegen, daß irgend etwa geschehe, was zu dem Zwang führen könne, neue Finanzwechsel hereinzunehmen.

Der Reichskanzler erklärte auch, er halte für sehr notwendig, Sicherungen in die Verordnung einzubauen dafür, daß nicht die gesunden Betriebe durch die Genossenschaften in den Strudel der Zusammenbrüche mit hineingezogen würden. Er habe auch Bedenken dagegen, daß etwa Betriebe gerettet würden, die industrielle Investierungen vorgenommen hätten auf Kosten der kleinen Einleger der Genossenschaften. Eine Hilfe in solchen Fällen sei ausgeschlossen. Der Verordnungsentwurf biete aber bisher keine Handhabe, solche Betriebe auszunehmen.

Er faßte seinen Standpunkt dahin zusammen, eine Erntesicherung solle erfolgen. Schädliche Auswirkungen auf die gesunden Betriebe müßten aber unbedingt vermieden werden. Es könnten nicht alle Betriebe erhalten werden und es könne vor allem auch nicht jeder in seinem Betriebe erhalten werden.

Der Reichswirtschaftsminister stellte fest, es handele sich um zwei verschieden dringliche Probleme: einmal darum, die Frühjahrsbestellung zu sichern, sodann um die Zinsen- und Schuldfrage. Diese bedürfe noch weiterer Vorarbeiten und scheine ihm noch nicht reif, gleichzeitig mit der Betriebssicherung geregelt zu werden.

Der Reichskanzler erklärte, es solle geprüft werden, wie eventuell durch eine Generalklausel den vorgebrachten Bedenken Rechnung getragen werden könne. Um die bestehenden Schwierigkeiten zu lösen, bat er die beteiligten Ressorts, entsprechende Vorschläge auszuarbeiten.

Um diese zu beraten, erfolgten während des Fortganges der Verhandlungen über die Devisenfrage Sonderbesprechungen der beteiligten Minister bzw. deren Sachbearbeiter.

Das Ergebnis trug zum Schluß der Ministerbesprechung Oberregierungsrat Heinrich vor.

Die entsprechenden Abänderungen des Entwurfs betrafen vor allem den § 15 und den § 18 sowie zwei weniger wesentliche Bestimmungen. Sie sind aus dem zweiten Entwurf ersichtlich, der als Anlage 2) dem Protokoll beigefügt ist9.

9

Zur Fortsetzung der Beratungen siehe Dok. Nr. 557, P. 2.

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