2.49 (ma11p): Nr. 49 Der Richterverein beim Reichsgericht an den Reichskanzler. Leipzig, 8. Januar 1924

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[200] Nr. 49
Der Richterverein beim Reichsgericht an den Reichskanzler. Leipzig, 8. Januar 19241

1

Diese Eingabe wurde in der Juristischen Wochenschrift vom 15.1.24 veröffentlicht; danach abgedr. in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur dt. Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1966, S. 383 f.

R 43 I /2454 , Bl. 81 f.

[Aufwertungsfrage]

Nach Zeitungsnachrichten erwägt die Reichsregierung eine Maßnahme, durch die eine Aufwertung von Hypotheken (und wohl auch anderer Geldansprüche) verboten werden soll2. Der unterzeichnete Vorstand des Richtervereins des Reichsgerichts würde glauben, gegen seine Pflicht zu verstoßen, wenn er es unterließe, seine warnende Stimme hiegegen zu erheben.

2

Vgl. den (1.) Entwurf einer dritten SteuerNotVO, Dok. Nr. 25, P. I.

Niemand wird dem Reichsgericht den Vorwurf machen, daß es vorschnell und unüberlegt die Gleichung Mark gleich Mark aufgegeben habe. Langsam und vorsichtig hat es zunächst auf einzelnen Rechtsgebieten die Notwendigkeit einer Aufwertung anerkannt. Aber immer entschlossener und allgemeiner hat sich die neue Auffassung durchgesetzt. Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung des 5. Zivilsenats vom 28. November 19233, die im Grundsatz dem Schuldner die Befugnis abspricht, eine in besserem Geld begründete Schuld in entwerteter Papiermark abzutragen und die Löschung der Hypothek zu fordern. Die zurückhaltende Art, wie dieses Urteil begründet ist, ist ein Zeugnis davon, wie sehr sich der Senat seiner Verantwortung angesichts der Tragweite der Entscheidung bewußt gewesen ist.

3

S. Dok. Nr. 25, Anm. 4.

Wenn der höchste Gerichtshof des Reiches nach sorgfältiger Erwägung des Für und Wider zu einer solchen Entscheidung gelangt ist, so glaubt er von der Reichsregierung erwarten zu dürfen, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird.

Gestützt ist die Entscheidung auf den großen Gedanken von Treu und Glauben, der unser Rechtsleben beherrscht, gestützt auf die Erkenntnis, daß ein ferneres Festhalten an der Vorstellung, Mark sei gleich Mark, zu einem höchsten Maße des Unrechts führen würde, unerträglich in einem Rechtsstaat. Von demselben Gedanken war aber zugleich die Auffassung des Gerichts über das Maß der gebotenen Aufwertung getragen: wonach die Folgen der Geldentwertung angemessen auf Gläubiger und Schuldner zu verteilen sind, dem Gläubiger also – wenigstens für die Regel – keine volle Umwertung auf dem Goldfuße zukommt.

Dieser Gedanke von Treu und Glauben steht außerhalb des einzelnen Gesetzes, außerhalb einer einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmung. Keine Rechtsordnung, die diesen Ehrennamen verdient, kann ohne jenen Grundsatz bestehen.[201] Darum darf der Gesetzgeber nicht ein Ergebnis, das Treu und Glauben gebieterisch fordern, durch sein Machtwort vereiteln.

Das ist der Gedankengang, der für das weite Gebiet der Geldentwertungsfrage beim Reichsgericht immer allgemeineren Eingang gefunden hat. Darum ist die Kunde von der geplanten gesetzgeberischen Maßnahme in den Kreisen des Reichsgerichts mit Befremden aufgenommen worden.

Auch in der Tages- und Fachpresse ist scharfer Widerspruch erhoben worden, zum Teil gestützt auf die Behauptung, starke Einflüsse eigensüchtiger Art seien die treibenden Kräfte. Es ist dem unterzeichneten Vorstand eine ernste Sorge, die Reichsregierung möchte solchen Einflüssen nachgebend eine Rechtslage herbeiführen, die gegen Treu und Glauben verstieße.

Eine gesetzgeberische Maßnahme, die die Betroffenen schädigt, kann sich vom Standpunkte des Ganzen nachträglich als unzweckmäßig herausstellen. Der Gefahr solcher Mißgriffe kann kein Gesetzgeber entgehen. Aber ein schwerer Stoß nicht nur für das Ansehen der Regierung, sondern für das Rechtsgefühl im Volke und für den Glauben an das Recht wäre es, wenn es dazu kommen müßte, daß jemand, der sich im Rechtsstreit auf die neue gesetzliche Vorschrift beriefe, damit von den Gerichten mit der Begründung abgewiesen würde, seine Berufung auf die Vorschrift verstoße gegen Treu und Glauben.

Schon ist in der Öffentlichkeit mehrfach und eindringlich die Frage erörtert worden, ob nicht der geplante Eingriff selbst als ein Verstoß gegen Treu und Glauben, als unsittlich seiner unsittlichen Folgen wegen, als eine verfassungswidrige Enteignung, oder als eine dem verfassungsmäßig gewährleisteten Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung Hohn sprechende Steuer rechtsunwirksam wäre. Die ernste Gefahr einer solchen oder ähnlichen richterlichen Beurteilung der geplanten Maßnahme – auch durch das höchste Gericht – besteht, und sie besteht auch dann, wenn die Regierung unter dem Druck der aufgetretenen Widerstände die ursprünglich geplante Schroffheit mildernd, die im Recht begründete Aufwertung nur zum Teil verbieten sollte.

Der unterzeichnete Vorstand bittet, dieses Bild von der Stimmung beim Reichsgericht so ernst, wie es geschildert ist, zu würdigen4.

4

S. hierzu das Schreiben des StSRkei an den RJM vom 24.1.24 (Dok. Nr. 69). Vgl. auch Luther, Politiker ohne Partei, S. 236.

Der Vorstand des Richtervereins des Reichsgerichts

Lobe

Senatspräsident.

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