2.131.2 (mu21p): 2. zu den im sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags gestellten Anträgen zur Invaliden- und Angestelltenversicherung.

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2. zu den im sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags gestellten Anträgen zur Invaliden- und Angestelltenversicherung.

Die Aussprache über beide Punkte der Tagesordnung wurde verbunden.

Der Reichswirtschaftsminister ging von den Beschlüssen aus, die der Sozialpolitische Ausschuß des Reichstags in der Sitzung vom 19. Februar in der Kleinrentnerfürsorge gefaßt hat, und führte aus, daß diese Beschlüsse zustande gekommen seien, obschon die große Mehrheit der Parteien davon überzeugt sei, daß die Reichsregierung diese Beschlüsse nicht durchführen könne2.

2

Gemeint ist wahrscheinlich die Aussprache im RT am 18. und 19. 2., die ihren Ausgang von einem Bericht des 9. Ausschusses (Soziale Angelegenheiten) nahm (s. RT-Drucks. Nr. 805, Bd. 434 ; die Aussprache in RT-Bd. 424, S. 1157  ff. und S. 1178 ff.).

Der Reichswirtschaftsminister verwies sodann weiter auf die im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags zur Beratung stehenden Anträge auf dem Gebiete der Invalidenversicherung, insbesondere auf den sozialdemokratischen Antrag Nr. 104 der Ausschußdrucksachen3. Die finanzielle Auswirkung dieser[441] Anträge berechne sich auf mehr als 1 Milliarde RM. Auch diesen Anträgen gegenüber müsse die Reichsregierung klar zum Ausdruck bringen, daß sie weder ganz noch zum Teil durchgeführt werden könnten. Schon allein die Erörterung dieser Anträge sei geeignet, die zur Zeit in Paris geführten Reparationsverhandlungen in verhängnisvoller Weise zu erschweren. Während dort die deutschen Sachverständigen um eine wesentliche Herabsetzung der Reparationslasten kämpften, könne ihnen unter Hinweis auf die Reichstagsverhandlungen von der Gegenseite unter Umständen vorgehalten werden, daß etwaige Reduktionen an der Reparationssumme offenbar nur zur Erfüllung der gestellten, von der Gegenseite nicht als berechtigt anerkannten sozialpolitischen Forderungen oder anderer, nach Meinung der Alliierten überflüssiger Zwecke verwendet werden sollen. Er regte an, der Reichskanzler möge sich daher der Weiterverfolgung der Anträge im Sozialpolitischen Ausschuß namens der Reichsregierung in aller Form widersetzen.

3

Nicht ermittelt.

Der Reichsarbeitsminister erwiderte, daß er die Lage nicht so schwarz beurteile wie der Reichswirtschaftsminister.

Zur Frage der Kleinrentnerfürsorge habe der Reichstag zwei verschiedene Entschließungen angenommen. Die eine Entschließung fordere ein selbständiges Rentnergesetz in Verbindung mit einem Gesetz über Inflationssteuern. Die andere Entschließung verlange einen Ausbau der Fürsorgepflichtverordnung zugunsten der Kleinrentner4. Von der ersten Entschließung nehme wohl niemand im Reichstag ernstlich an, daß die Reichsregierung sie durchführen werde, da jeder von der Undurchführbarkeit überzeugt sei. Dagegen sei die Reichsregierung durchaus in der Lage, der zweiten Entschließung zu entsprechen. Die Fürsorgepflichtverordnung sei in der Tat reformbedürftig, und die verlangten Reformen seien im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel erfüllbar. Er werde dem Reichstag daher alsbald Vorschläge zur Verbesserung der Fürsorgepflichtverordnung unterbreiten, und er sei überzeugt, daß die Weiterentwicklung der Angelegenheit alsdann glatt verlaufen werde. Auch in den Anträgen zur Invalidenversicherung sehe er keinen Grund zu ernstlichen Befürchtungen. Die Antragsteller selbst seien nicht der Auffassung, daß die Anträge in vollem Ausmaß angenommen werden können. Sie selbst hätten ihre Anträge nur als ein zu erstrebendes Ziel bezeichnet. Die Diskussion über die Anträge werde ergeben, was von ihnen zur Zeit angenommen und durchgeführt werden könne. Er meinte, es werde genügen, wenn nicht der Reichskanzler, sondern der Reichswirtschaftsminister im Ausschuß erscheine und dort die vom Standpunkt der Wirtschaft gegen die Anträge geltend zu machenden Bedenken darlege. Der Ausschuß selbst habe bereits den Wunsch geäußert, den Reichswirtschaftsminister zur Sache zu hören.

4

Der RT hatte einen Antrag der SPD angenommen, von dem in der Inflation geretteten und neugebildeten Vermögen eine Sonderabgabe einzuziehen (RT-Drucks. Nr. 823, Bd. 434 ) sowie einen Antrag der DVP, den Rentnern einen Rechtsanspruch auf Leistungen zu gewähren und sie aus der Fürsorge herauszunehmen (RT-Drucks. Nr. 832, Bd. 434 ). Außerdem hatte das Plenum eine Entschließung des 9. Ausschusses angenommen: „Die RReg. zu ersuchen, eine reichsgesetzliche Regelung zur Verbesserung der Kleinrentnerfürsorge hinsichtlich des Personenkreises, der Voraussetzungen und der Höhe der Leistungen und der Mitwirkung der beteiligten Organisationen zu treffen“ (RT-Drucks. Nr. 805, Bd. 434 ).

[442] Der Reichskanzler führte aus, daß es auch nach seiner Auffassung nicht so weitergehen könne wie bisher. Es sei ein unhaltbarer Zustand, daß von den Regierungsparteien ohne vorherige Fühlung mit der Reichsregierung oder auch nur mit den Fraktionsvorständen Anträge eingebracht würden, die neue Ausgaben erforderten, die von der Reichsregierung nicht erfüllt werden könnten. Er hielt es aber nicht für zweckmäßig, daß er als Reichskanzler in feierlicher Form namens der Reichsregierung im Ausschuß den Standpunkt der Reichsregierung dahin vertrete, daß von der Weiterverfolgung der Anträge Abstand genommen werden solle. Ein solches Vorgehen sei außergewöhnlich und im gegenwärtigen Augenblick besonders unzweckmäßig, zumal da er bei einer solchen Gelegenheit nicht offen über die reparationspolitischen Gefahren sprechen könne, die ja nach Auffassung der Reichsregierung in erster Linie gegen die Anträge spächen. Er hielt es für richtiger, daß der Reichsarbeitsminister und der Reichswirtschaftsminister allein sich mit dem Ausschuß über die Anträge auseinandersetzten. Darüber hinaus wolle er selbst die Fraktionsführer zusammenberufen und ihnen namens der Reichsregierung unter Darlegung der reparationspolitischen Gesichtspunkte auseinandersetzen, daß mit dem bisherigen System der Einbringung von undurchführbaren Anträgen radikal gebrochen werden müsse.

An diese Ausführungen schloß sich eine umfassende Aussprache an, an der sich sämtliche Reichsminister beteiligten.

Als Ergebnis der Aussprache beschloß das Reichskabinett:

1.

Der Presse soll eine amtliche Verlautbarung des Inhalts übergeben werden, daß die Reichsregierung einmütig der Auffassung ist, daß die Reichstagsentschließung, welche ein selbständiges Rentnergesetz in Verbindung mit einem Gesetz über die Inflationssteuer verlangt, undurchführbar ist, daß die Reichsregierung dagegen bereit ist, die vom Sozialpolitischen Ausschuß einstimmig angenommene und vom Reichstag gebilligte Entschließung wegen Verbesserung der Fürsorgepflichtverordnung zugunsten der Kleinrentner durchzuführen. Dabei soll ferner zum Ausdruck gebracht werden, daß diese Haltung der Reichsregierung der Regierungserklärung vom 3. Juli 1928 entspricht.

2.

Wegen der Anträge auf dem Gebiete der Invalidenversicherung soll der Reichsarbeitsminister im Sozialpolitischen Ausschuß namens der Reichsregierung die Erklärung abgeben, die Reichsregierung sei der Meinung, daß angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung und unserer reparationspolitischen Belastung eine auch nur teilweise Durchführung der Anträge nicht möglich ist, und daß die Reichsregierung daher bittet, von einer Weiterverfolgung der Anträge, die ja auch von den Antragstellern nur als ein zu erstrebendes Ziel bezeichnet worden sind, zur Zeit Abstand zu nehmen. In der der Presse zu übergebenden Verlautbarung über die Beschlüsse zur Kleinrentnerfürsorge soll gleichzeitig auf diese Erklärung des Reichsarbeitsministers verwiesen werden.

3.

Der Reichskanzler soll mit den Fraktionsführern eine Besprechung abhalten, um insbesondere unter Hinweis auf die reparationspolitischen Gefahren [443] zu erreichen, daß die Parteien in Zukunft von der Einbringung solcher Anträge Abstand nehmen, die angesichts der Finanz- und Wirtschaftslage von der Reichsregierung nicht verantwortet werden können und daß sie insbesondere auch von der Weiterverfolgung der bereits gestellten Anträge Abstand nehmen5.

5

Ob diese Besprechung stattfand, konnte nicht ermittelt werden.

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