2.129 (mu21p): Nr. 129 Die Gewerkschaftsverbände an den Reichskanzler, 19. Februar 1929

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[437] Nr. 129
Die Gewerkschaftsverbände an den Reichskanzler, 19. Februar 1929

R 43 I /2034 , Bl. 29-32

Betr.: Erweiterung der Krisenfürsorge.

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

Dem Verwaltungsrat der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ist gemäß § 101 AVAVG1 der Entwurf einer Verordnung über die weitere Ausdehnung der Krisenfürsorge vorgelegt worden2. Die unterzeichneten Verbände sehen sich veranlaßt, ihre ernsten Bedenken gegen die in dem Verordnungsentwurf beabsichtigte Form der Durchführung des Beschlusses des Reichstages nachstehend vorzutragen.

1

§ 101 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16.7.1927 (RGBl. I, S. 199 ) besagt, daß bei andauernder ungünstiger Beschäftigungslage der RArbM nach Anhörung des Verwaltungsrates der Reichsanstalt die Gewährung der Arbeitslosenunterstützung als Krisenunterstützung zuzulassen habe. Zur Bedeutung der Krisenunterstützung s. Anm. 4 zu Dok. Nr. 12.

2

Siehe Dok. Nr. 118, P. 1. Der Erlaß ist veröffentlicht im RArb.-Blatt 1929 I, S. 37 f.; ein Umdruck befindet sich in R 43 I /2034 , Bl. 34-36.

Der Beschluß des Reichstages vom 8. Februar d. J. ersucht die Reichsregierung, die Krisenfürsorge auf alle Berufe auszudehnen3. Abgesehen davon, daß eine Reihe von Berufen nach dem Verordnungsentwurf auch künftig nicht unter die Krisenfürsorge fallen soll, überträgt der Entwurf die Einbeziehung bisher durch die Krisenfürsorge nicht erfaßter Berufsgruppen weitgehend den Präsidenten der Landesarbeitsämter4. Stärkste Bedenken richten sich insbesondere dagegen, daß die Zulassung weiterer Berufsgruppen nicht generell und bindend durch den Herrn Reichsarbeitsminister erfolgen soll, sondern durch die Präsidenten der Landesarbeitsämter. Die bisherigen Erfahrungen mit der Beauftragung der Präsidenten der Landesarbeitsämter zeigen, daß in dieser Regelung eine prinzipielle Gefahr liegt. Wird das Ausmaß und die Auswahl der Zulassung weitgehend in die Hände der Präsidenten gelegt, so müssen unerträgliche Verschiedenheiten in der Behandlung der Arbeitslosen sich ergeben, je nach dem, ob die Präsidenten von dem ihnen übertragenen Recht genügenden oder ungenügenden Gebrauch machen. Das Beschwerdeverfahren gegen etwaige ungenügende oder unzweckmäßige Begrenzungen würde so zeitraubend sein, daß Wochen vergehen würden, ehe daß gegebenenfalls eine Entscheidung[438] eines Präsidenten durch den Herrn Reichsarbeitsminister korrigiert werden könnte. Der Zweck, in der Zeit der größten Not langfristig Erwerbslose in die Krisenfürsorge zu bringen, wäre dadurch vereitelt. Die unter Umständen durchaus verschiedene Stellungnahme der Präsidenten der Landesarbeitsämter gegenüber den einzelnen Berufsgruppen würde eine allgemeine Rechtsunsicherheit erzeugen und das Vertrauen in die vom Herrn Reichsarbeitsminister zu verantwortende Regelung erschüttern.

3

Siehe die Verhandlungen im RT am 8.2.1929, RT-Bd. S. 1131 ff. Zur Abstimmung gelangte ein Vorschlag des 9. Ausschusses (Soziale Angelegenheiten), nachdem die Krisenfürsorge auf alle Berufe ausgedehnt werden sollte. Das sollte auch dann der Fall sein, wenn die Anwartschaft von 26 Wochen nicht erfüllt war, aber eine 13wöchige krankenversicherungspflichtige Beschäftigung nachgewiesen wurde. Weitere Punkte bezogen sich auf Verlängerung der Krisenunterstützung unter Einbeziehung ausgesteuerter Erwerbsloser und auf die Ausschließung von Notstandsarbeitern, die sonst der berufsüblichen Arbeitslosigkeit zufielen, von der Sonderfürsorge (siehe RT-Drucks. Nr. 802, Bd. 424 ).

4

Zum Personalkreis, der in die Krisenfürsorge aufgenommen werden sollte, siehe RArb.Bl. 1929 I, S. 38 f.

Die beabsichtigte Regelung bedeutet aber auch eine grundsätzliche Veränderung des Systems der Krisenfürsorge. Eine Reihe von Berufen ist bisher schon generell zugelassen. In all diesen Fällen würde keine besondere Prüfung der Einzellage eintreten, während in allen anderen Fällen eine besondere Prüfung und damit eine völlig unterschiedliche Behandlung Platz greifen würde.

Unseres Erachtens wollte der Beschluß des Reichstages gerade die sich aus einer Beauftragung der Präsidenten der Landesarbeitsämter notwendigerweise ergebenden Schwierigkeiten vermeiden. Ein Antrag, der ausdrücklich die Beauftragung der Präsidenten vorsah, wurde vom Reichstag abgelehnt. Schon hieraus ergibt sich, daß der Reichstag das Recht der Einbeziehung unmittelbar dem Herrn Reichsarbeitsminister vorbehalten wollte.

Die unterzeichneten Vorstände bitten dringend, bei der endgültigen Fassung der Verordnung ihre ernsten Bedenken gegen die Beauftragung der Präsidenten der Landesarbeitsämter zu beachten und statt dessen dem Herrn Reichsarbeitsminister unmittelbar und ohne weitere Delegation das Recht der Einbeziehung weiterer Berufsgruppen zu übertragen.

Des weiteren bitten die unterzeichneten Vorstände, die Fristen bezüglich der Wiedereinreihung bereits ausgesteuerter langfristig Erwerbsloser in die Krisenfürsorge für Arbeiter und Angestellte einheitlich zu bemessen5.

5

In seiner Antwort teilte der RArbM den Gewerkschaftsverbänden mit, daß sein Erlaß vom 22.2.29 über die Vorlage für den Verwaltungsrat der Reichsanstalt hinausgehe, so daß auch den Personen noch Krisenfürsorge zukomme, die schon im Dezember 1928 die Höchstbezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung erreicht hätten. Die Einbeziehung weiterer Berufsgruppen ohne Zulassung durch die Landesarbeitsämter sei nicht möglich gewesen, doch habe der RArbM die Präsidenten darauf hingewiesen, angesichts der schlechten Arbeitsmarktlage nicht engherzig zu verfahren. „Ich habe zu meiner Genugtuung feststellen können, daß die Präsidenten der Landesarbeitsämter fast durchweg von ihren Ermächtigungen den weitesten Gebrauch gemacht und nur solche Berufe von der Krisenfürsorge ausgeschlossen haben, bei denen das wegen der besonderen Lage des Arbeitsmarktes geboten erschien. – Ich darf endlich feststellen, daß ich die Wirksamkeit der Landesarbeitsämter auf dem Gebiet der Krisenfürsorge ständig beobachten lasse“ (15.3.29; R 43 I /2034 , Bl. 47 f.).

Mit vorzüglicher Hochachtung

Der Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes

Leipart

Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften

Bernh. Otte

Der Vorstand des Allgemeinen freien Angestelltenbundes

Stähr

Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- u. Beamtenverbände

P. Glaubitz

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