1.178.3 (mu22p): 3. Erste Aussprache über den Bericht des Herrn Reichsministers der Finanzen über die Etatsgestaltung 1930.

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3. Erste Aussprache über den Bericht des Herrn Reichsministers der Finanzen über die Etatsgestaltung 1930.

Der Reichsminister der Finanzen erstattete dem Reichskabinett an Hand der den Reichsministern zugegangenen Vorlage vom 3. Februar 1930 […] eingehenden[1430] Bericht über den gegenwärtigen Stand der Vorarbeiten zum Etat 1930 und erläuterte die in der Vorlage aufgeführten verschiedenen Möglichkeiten zur Lösung des Problems der Finanz- und Kassenlage3.

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Siehe Dok. Nr. 432.

An den Vortrag knüpfte sich eine mehrstündige eingehende Aussprache. Beschlüsse wurden nicht gefaßt4.

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StS Schäffer hat in seinem Tagebuch diese Aussprache aufgezeichnet: „Reichskanzler Man muß zunächst einmal die Frage der ALV mit den Parteiführern besprechen und dabei auch auf die Deckungsmöglichkeiten zu sprechen kommen. Die Umsatzsteuer ist heute keine reine Verbrauchsbelastung, sondern bleibt in der Wirtschaft unterwegs hängen. Repräsentation soll eingeschränkt werden. Allgemein ist das Bestreben, eine Einigung zu finden, weil man der Überzeugung ist, daß es mit der Verabschiedung der Young-Gesetze nicht getan, sondern daß man auch nachher zusammenbleiben muß. Parteiführer ohne fertiges Programm zu ersten Besprechung am Freitag bestellen. Wissell: Die (Änderung der) ALV werde ich auch in den nächsten Wochen nicht zugestehen. Ich kann einen solchen Weg nicht gehen. Im November haben wir erst den Versicherungsträgern mitgeteilt, daß im nächsten Jahr gegen sie keine Ansprüche erhoben werden sollten (zur Deckung der Unterschüsse der ALV beizutragen). Ich würde dies nicht mitmachen. Eine Konzession ist hierfür nicht möglich. Die Versicherungsanstalten rechnen bei ihrer Vermögenslage mit keinerlei solchen Eingriffen. 28 Millionen von der gegenwärtigen Zahlungspflicht des Reiches sind noch rückständig. Durch das Anliegen wird der Vorschlag des Etats für die Versicherungsträger noch viel schwieriger. Die Gewerkschaftsverbände würden sich gegen die Parteien erklären, die einen derartigen Vorstoß machen würden. Anlagemöglichkeit für den Wohnungsbau ist nicht gegeben. Hauszinssteuer und die Darlehen der Versicherungsträger sind zwei Punkte, welche die Koalition sprengen können. Protest gegen die Streichung der Wochenhilfe und die Streichung der 20 Millionen für die Invalidenversicherung. Fehl(-betrag) bei Wohnungsbau. Severing (spricht vom Standpunkt seines Ressorts): Die Frage der ALV ist eine hervorragend innenpolitische. Die zurückgeschlagenen Angriffe der Kommunisten sind darauf zurückzuführen, daß man im vergangenen Jahr die Kürzung der ALV nicht mitgemacht hat. Die gleiche Innenpolitik muß in diesem Jahr fortgesetzt werden. Man darf die Finanzierung der ALV nicht auf unsichere Grundlage stellen. Diese Anregung findet keine Mehrheit. Daher soll mit den Parteiführern gesprochen werden, ob man diesen Plan überhaupt verfolgen soll. Ich möchte mich auch zu der Frage der großen Steuern nicht äußern. Ich bin nicht grundsätzlich gegen die Umsatzsteuer. Das wäre kein unüberwindliches Hindernis. Wir müssen auch auf psychologische Seiten Bedacht nehmen. Die Repräsentation muß aufhören. Vorschlag des Verzichts auf Aufwandsentschädigung. Scharfe Heranziehung der großen Einkommen muß ins Auge gefaßt werden. Ich bin gegen eine Kürzung der Beamtengehälter. Ein Zuschlag von 10–15% Steuer zu den Einkommen über 8000 Mark. Diese Steuer und die Umsatzsteuer wären zu befristen. Wirtschaftsminister: Als Ressortminister habe ich die größten Bedenken, aber da es sich hier um vorübergehende Sachen handelt, müssen außergewöhnliche Maßnahmen kommen. Einverstanden mit der doppelten Biersteuer. Auch nichts gegen die Weinsteuer und gegen die Erhöhung des Zolles auf Tee und Kaffee. Ebenso Verkürzung der Zollbeitragseinzahlungsfristen. Für die ALV ist die beste Lösung die, daß man die Beiträge noch um ½% erhöht. Der Fonds wird dann nachher angesammelt werden. Das ist eine Belastung der Wirtschaft und der Arbeiter, aber die Arbeiter werden einverstanden sein. Weitere Fragen: [1.–5. Rentenmark, Industrieobligationen, Realkredite] 6. Gegen die Umsatzsteuer einige Bedenken. Ich habe die Senkung bedauert. – 7. Es wäre sehr angenehm, wenn man um den Angriff auf die Sozialversicherungsträger herumkomme. Stegerwald: Biersteuer-Verdoppelung möglich, aber an die Weinsteuer kann man nicht heran. Bei der Biersteuer Pfennigrechnung. Den generellen Bedenken gegen die Abwälzung der Darlehnspflicht (auf die Versicherungsträger) tritt Stegerwald nicht bei, wenn die Bürgschaft (des Reichs gegenüber den Versicherungsträgern, die in Vorschuß gehen) geleistet wird. Das Baugewerbe darf man nicht weiter zurückdrängen. Bedenken gegen die Streichung der Wöchnerinnenfürsorge. Einmaliges Notopfer durch Erhöhung der Einkommensteuer für Einkommen oberhalb 5000 Mark. Schätzel: Auch Länder und Gemeinden müssen saniert werden. Die Biersteuererhöhung kann die Bayerische Volkspartei nicht mitmachen. Massenbelastungen sind allein nur sehr schwer tragbar. In Bayern trifft dies mit 300 Mio im Gegensatz zu 100 Mio in den anderen Ländern (zu). Keine Massenbelastung zur späteren Belastung anderer Wirtschaftskreise. Eine rohe prozentuale Mehrbelastung der Einkommensteuer wäre für dieses Jahr richtig. Beamtenbesoldung kann man nicht vermindern. Dietrich: Es wird enorm daran gearbeitet, daß an 50–100 Mio die Sache nicht scheitern darf. Gegen die Verquickung mit der Sozialversicherung, wie ursprünglich angenommen, auch die Parteien. Man muß die Last restlos auf die Konsumsteuer legen. Mit der Umsatzsteuer belastet man alles. Man soll die Genußmittel hauptsächlich belasten. Wein ist technisch schwierig. Einmaliges Notopfer macht keiner mehr mit. Bier, Tabak, Schnaps muß mit 450 Mio Mark belastet werden. Das ist das einzige, was eine Kapitalflucht verhindert. Heranziehung der Beamten wird nur wirken, wenn man alle (Kreise) heranzieht. Bei 5% 200–300 Mio. Die Aufrechterhaltung der Industriebelastung führt nicht weiter. Die Rentenbankkreditanstalt-Änderung gibt keinen Zuwachs. Versicherungssachen nur in äußerster Not heranziehen. 450 Mio müssen aus Genußmitteln kommen. Guérard: Versicherungssache politisch nicht durchsetzbar. Auf diesem Wege ist wohl nichts zu erreichen. Die Zuschüsse sollen in das Ordinarium (des Reichshaushaltes) kommen. Wenn die Zuschüsse nicht reichen, muß gesetzlich festgelegt werden, daß die Reichsanstalt sich in sich selbst ausgleichen muß. Bei Überschreitung von 250 Mio muß die Reichsanstalt sich selbst helfen, eventuell durch Erhöhung der Beiträge. Die Entschädigungsforderungen der Länder haben mir gefehlt. Ich würde 100%ige Erhöhung der Biersteuer mitmachen. ¼% Zuschlag zur Umsatzsteuer ist möglich. Man muß eine Preiswelle vermeiden. Für die Erhöhung des Kaffee- und Teezolles. Für die 50 Millionen Industrie-Obligationen war unsere Absicht, die kleinsten Vermögen zu entlasten. Wir treffen gerade hier den Mittelstand. Was die Rentenmarkzinsen anbelangt, so bringt es uns nichts ein. Wir sollten infolgedessen auf diese verzichten. Die Einführung einer Weinsteuer ist für mich unmöglich. Sie würde 38 Mio bringen. Es kann aber für ihre Einführung keinen ungünstigeren Moment geben. Allein an der Mosel liegen bei kleinen Winzern 20 000 Fuder. Die Weinsteuer ist wegen der Kellerkontrolle verhaßt. Auch das Argument, daß der ausländische Wein schon jetzt erfaßt wird, ist falsch. Der auswärtige Wein ist nie so billig gewesen wie heute. Die Produktionskosten betragen ⅓ und ¼ der deutschen. Es wird daher viel weniger versteuert. Das Notopfer für die Einkommen über 5000 Mark wird gebilligt. Moldenhauer: Die Prüfung hat ergeben, daß keine besseren Vorschläge gemacht werden können. Einkommensteuererhöhung fördert Kapitalflucht. Beamtengehälter-Herabsetzung unmöglich. Die Industrie-Obligationen (Fortsetzung der Bezahlung) sind keine Belastung, sondern eine Mehrbelastung von 250 Millionen. Bei dem Reservefonds der Industrie-Obligationenbank liegt ein schriftliches Versprechen vom Finanz- und Wirtschaftsminister vor, ihn wieder der Industrie in irgendeiner Form zuzuführen. Verdoppelung der Biersteuer größte Bedenken und politische Schwierigkeiten. Abwandern zum Weinkonsum. Daher Belastung des Bieres notwendig. Andererseits werden die Bedenken gegen die Belastung des Bieres voll geteilt. Stegerwald: Das, worauf es ankommt ist eine psychologische Entspannung. Die Tariferhöhung der RB wird nur mit 75 Mio abzuwenden sein. Die Finanzlage der RB ist ungleich höher angespannt. Dietrich: Die Versicherungskoppelung wird nicht schlechthin abgelehnt“ (5.2.30; Institut für Zeitgeschichte: ED 93).

[1431] Der Reichskanzler faßte mit allgemeiner Zustimmung den Standpunkt des Reichskabinetts dahin zusammen, daß das Reichskabinett im gegenwärtigen Stadium der Vorarbeiten sich noch nicht auf ein bestimmtes Programm festlegen wolle, daß vielmehr zuvor eine erste Aussprache über die Etatsgestaltung 1930 mit den Fraktionsführern stattfinden solle.

Der Reichskanzler erklärte weiter, er denke sich diese Aussprache in großen Zügen so, daß der Reichsminister der Finanzen vom Kernpunkt der Finanzschwierigkeiten ausgehe und zunächst den Stand der Dinge bei der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung darlege. Hierbei werde er auszuführen haben, daß die Reichsanstalt auch in diesem Jahre einen Kredit von 250 Millionen RM aufnehmen müsse. Um den Reichsetat von diesen Krediten zu entlasten, gebe es die Möglichkeit, die Hergabe dieser Kredite gesetzlich der Angestelltenversicherung und den Landesversicherungsanstalten zur Pflicht zu machen. Das Reich könne alsdann die Rückzahlung dieser Kredite garantieren. Wenn dieser Weg nicht beschritten werden solle, gebe es die Möglichkeit, den[1432] Reichsetat dadurch zu entlasten, daß die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3½% auf 4% erhöht werden. Hierdurch werde erreicht, daß der ungedeckte Bedarf der Reichsanstalt auf 80 Millionen vermindert werde und daß der Reichsetat mithin nur in dieser Höhe belastet bleibe. Wenn beide Wege abgelehnt werden sollten, ergebe sich ohne weiteres ein entsprechendes Ansteigen des ungedeckten Defizits im Reichsetat. An diese Darlegung werde sich dann die Aufzählung der wahlweisen Möglichkeiten neuer Steuervorschläge zur Abdeckung des Defizits anschließen lassen. Es sei anzunehmen, daß sich bei der Aussprache mit den Parteiführern sehr bald ergeben werde, nach welcher Richtung hin Einigungsmöglichkeiten bestünden. Auf der Basis der Verhandlungen mit den Parteiführern könne das Reichskabinett alsdann zur Aufstellung von festen Programmvorschlägen kommen. Bei den Verhandlungen werde sich auch zeigen, auf welche Weise die Reichsregierung mit den bekannten Vorbehalten des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei sich abfinden könne, die auf eine weitgehende Klärung und Sicherung des Finanzsanierungsprogramms vor der Verabschiedung der Young-Gesetze hinausliefen. Jedenfalls müsse das gegenwärtige Kabinett unter allen Umständen den Versuch machen, der bestehenden Schwierigkeiten Herr zu werden. Das, was zu geschehen habe, sei weitgehend zwangsläufig. Wenn das gegenwärtige Kabinett die Lösung nicht zustandebringen sollte, werde dem neuen Kabinett doch notgedrungen nichts anderes übrig bleiben, als die gleichen Beschlüsse zu fassen, an denen das alte Kabinett gescheitert sei.

Für die Parteiführerbesprechung wurde als Termin Freitag, der 7. Februar vormittags 11 Uhr, in Aussicht genommen5.

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Nach Schäffers Tagebuch war der RK u. a. der Meinung, auch auf die Ersparnisse des Wehretats werde in der Parteiführerbesprechung die Sprache kommen, da über „illegale Ausgaben“ gesprochen werde. „Das muß zunächst zurückhaltend behandelt werden. Auch das Kabinett muß demnächst zu diesen Dingen Stellung nehmen. Es sind noch nicht einmal 100 Mio. Es ist aber möglich, daß man auf diese Fragen zukommt (Landesschutz und Russika)“ (5.2.30; Institut für Zeitgeschichte: ED 93).

Zum Schluß brachte der Reichskanzler noch die Sprache darauf, daß es durchaus dem Ernst der Zeit entspreche und übrigens auch die Stellung des Reichskabinetts nach außen stärken werde, wenn bei Gelegenheit der kommenden Parteiführerbesprechung u. a. auch über eine Einschränkung der bisher üblichen kostspieligen repräsentativen Abendveranstaltungen gesprochen werde. Er beabsichtige jedenfalls, die großen parlamentarischen Bierabende in diesem Jahre ausfallen zu lassen und die daraus sich ergebenden finanziellen Ersparnisse wohltätigen Zwecken zuzuwenden. Er glaube auch zu wissen, daß der Herr Reichspräsident ähnlich verfahren werde.

Das Kabinett nahm hiervon zustimmend Kenntnis.

Die Punkte 3 a und 3 b wurden für den Etat 1930 zurückgestellt6.

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In dem Verzeichnis der Beratungsgegenstände im Original der Niederschrift waren „in Verbindung“ mit Punkt 3 angeführt worden: „3 a: Reichsmittel der wertschaffenden Arbeitslosenfürsorge, 3 b: Zustimmung zur Verbesserung der Kleinrentnerfürsorge“.

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