2.94.1 (str1p): Politische Lage.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 17). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

Politische Lage.

Der Reichskanzler berichtete über den Stand der bayerischen Frage1. Es seien 3 Vorfälle der letzten Tage, die eine schleunige Bereinigung des Verhältnisses zwischen der Reichsregierung und der bayerischen Regierung mit Beziehung auf den Ausnahmezustand erforderlich machten: 1. das Verbot des „Völkischen Beobachters“, welcher weiterhin in München erscheine, trotzdem der Befehlshaber der Reichswehr der Weisung des Herrn Reichswehrministers entsprechend, das Verbot an die Bayerische Staatsregierung übermittelt habe2; 2. die Anhaltung eines von der Reichsbank angeordneten Goldtransports durch die bayerische Polizeibehörde3; 3. die vorübergehende Aufhebung der Vollzugsverordnungen zur Ausführung des Republikschutzgesetzes4.

1

S. hierzu Dok. Nr. 84, 87 u. 93.

2

Im „Völkischen Beobachter“, Nr. 199 vom 27.9.23, war ein Artikel mit der Überschrift „Die Diktatoren StresemannSeeckt“ erschienen, der mit antisemitischen Angriffen auf den RK und den Chef der Heeresleitung gefüllt war (Text bei E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, S. 74 ff.). Daraufhin hatte der RWeM nach § 1 der VO vom 23.9.23 den VB bis auf weiteres verboten und von Kahr dieses Verbot zur weiteren Veranlassung vom Wehrkreiskommando VII übermitteln lassen (Deuerlein, a.a.O., S. 185 f.; vgl. a. Anhang Nr. 1). Der Generalstaatskommissar hatte sich jedoch gegen ein Verbot ausgesprochen, während von Knilling Verständnis für das Verbot geäußert hatte (Telefon. Mitteilung der Reichsvertretung München vom 27.9.23; R 43 I /2218 , Bl. 101). Der Leiter der amtlichen Pressestelle in München Dr. Eisele führte in einer Unterhaltung mit ORegR Saller von der Reichsentschädigungsstelle für Ausgewiesene aus, daß der VB weitererscheinen werde und daß das Republikschutzgesetz mit den Durchführungsbestimmungen für Bayern außer Kraft gesetzt worden sei (R 43 I /2218 , Bl. 115). Vgl. auch die Darstellung v. Pregers in Dok. Nr. 174.

3

S. Dok. Nr. 96.

4

S. o. Anm. 2.

[411] Komme es auf Grund dieser oder neuer Zwischenfälle zu einem Zusammenstoß zwischen dem Bayerischen Generalstaatskommissar und dem Befehlshaber der Reichswehr, so seien die schwersten Konsequenzen zu befürchten. Es frage sich daher, ob es zweckmäßig sei, beide Ausnahmeverordnungen aufzuheben oder eine von beiden, oder ob die Möglichkeit bestände, einen Ausgleich zu finden. In einer Besprechung zwischen dem Reichskanzler, dem Reichswehrminister und dem Reichsminister des Innern sei ein Schreiben an die Bayerische Staatsregierung entworfen, das eine einstweilige Lösung im dritten Sinne anstrebe. Der Reichskanzler verlas den Entwurf dieses Schreibens5 und fügte hinzu, daß hiermit zwar noch keine endgültige Lösung des Konflikts herbeigeführt, daß aber immerhin der Weg zu einer Lösung angebahnt, und daß insbesondere für die nächsten Tage ein Zustand geschaffen werde, durch den eine weitere Verschärfung der Situation vermieden werde.

5

In diesem Schreiben, das nach StS von Rheinbabens Randvermerk inhaltlich Verwendung in Stresemanns Rede vor dem RT am 6.10.23 gefunden hat (s. RT-Bd. 361, S. 11939  f.), hieß es, daß „ohne Zusammenhang oder Abgrenzung zwei außerordentliche Gewalten“ bestünden, „aus deren Nebeneinander-Arbeiten eine Verwirrung des Reichsbewußtseins der Bevölkerung und ernste Unzuträglichkeiten“ erwachsen könnten. Der nach Art. 48 RV provisorische Ausnahmezustand habe nach der VO des RPräs. rechtlich seine Geltung verloren, deshalb solle die bayer. Reg. die rechtliche Stellung des Generalstaatskommissars klären und die Aufhebung der eigenen VO prüfen. Wie in Würdigung der in Bayern gegebenen Schwierigkeiten der RWeM den Militärbefehlshaber in München angewiesen habe, nicht „ohne Not“ selbständig einzugreifen, so solle die bayer. Reg. vor Aufhebung ihres Ausnahmezustandes keine Handlungen vornehmen, ohne sich mit dem Inhaber der vollziehenden Gewalt ins Benehmen zu setzen. „Insbesondere muß die Reichsregierung darauf Wert legen, daß die Maßnahmen des Generalstaatskommissars auf dem Gebiete der Zivilverwaltung nach allen Seiten gleichmäßig getroffen und hierbei Interessen und Verantwortlichkeit des Reiches in gleichem Maße gewahrt werden wie das Reich bei seinen Maßnahmen auf die Interessen Bayerns weitgehend Rücksicht nimmt“ (R 43 I /2703 , Bl. 193–195).

Nach einer kurzen Pause, während der der Reichskanzler den Schweizerischen Gesandten empfing, wurde die Sitzung fortgesetzt.

Der Reichsminister der Justiz schlug vor, dem Entwurf einen Passus hinzuzufügen, in dem die Bayerische Regierung aufgefordert werde, auf die schwierige außenpolitische Lage Rücksicht zu nehmen.

Der Reichswehrminister versprach sich hiervon nichts. Es sei gerade die Außenpolitik der Reichsregierung, welche von der Bayerischen Regierung aufs schärfste bekämpft werde6.

6

S. hierzu die Äußerungen v. Knillings in der Sitzung des bayer. Ministerrats am 26.9.23 (E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 12).

Der Reichsarbeitsminister empfahl, von einer Absendung des Briefes Abstand zu nehmen. Er glaube, daß Herr von Kahr ihn einfach ignorieren werde, wodurch für die Reichsregierung die peinlichste Lage entstehe.

Die Bayerische Angelegenheit sei nur ein Teil des Gesamtproblems, vor welches die Reichsregierung heute gestellt sei, nämlich die Fragen der Auseinandersetzung mit Frankreich und der gesamten innerpolitischen Einstellung. Über diese Fragen müsse die Reichsregierung sich noch vor der Reichstagssitzung am Dienstag [2. 10.] schlüssig werden7, da es sich möglicherweise als notwendig erweisen werde, vom Reichstag große Vollmachten zu fordern.[412] Die Erregung im Volke über das Verhalten Frankreichs und über die schwere innere Wirtschaftskrisis sei so groß, daß nur ein nach klaren Richtlinien eingestelltes, entschiedenes Handeln die Situation noch retten könnte.

7

Infolge der Koalitionskrise und des Rücktritts des 1. Kabinetts Stresemann trat der RT erst am 6.10.23 wieder zusammen.

Er schlage daher vor, die Situation mit Bayern durch inoffizielle Fühlungnahme einstweilen zu entspannen, um unmittelbare Konflikte für die nächsten Tage zu vermeiden.

Der Reichskanzler erwiderte, daß dies gerade der Zweck des Schreibens sei. Was die außenpolitische Lage anbelange, so erwarte er am morgigen Tage die Antwort des belgischen Botschafters auf seine neuerliche Anfrage8; möglicherweise werde auch der französische Botschafter antworten und man wisse dann, woran man sei9. Er fürchte allerdings, daß die gestellten Forderungen, namentlich in Bezug auf den Treueid der Eisenbahner10, die Reichsregierung vor eine Situation stellen würde, welche es erforderlich mache, die äußersten Konsequenzen zu ziehen. Unter solchen Umständen müsse alles vermieden werden, um sich mit dem Vorwurf zu belasten, zu einem Bruch mit Bayern Veranlassung gegeben zu haben.

8

Vgl. Anm. 8 zu Dok. Nr. 83.

9

S. Dok. Nr. 97.

10

S. Anm. 7 zu Dok. Nr. 97.

Der Reichsarbeitsminister erklärte, er sei mit einer hinhaltenden Taktik einverstanden, man solle nur die Festlegung in einem Schreiben vermeiden.

Der Reichswirtschaftsminister äußerte die Auffassung, daß die Note innere logische Widersprüche enthalte und in dieser Form unmöglich abgehen könne. Im übrigen sei die Bayerische Frage nur im Zusammenhang mit der Gesamtpolitik zu lösen.

Der Reichspostminister stimmte dieser Auffassung zu und teilte mit, daß die Postbeamten des besetzten Gebietes es abgelehnt hätten, irgendwelche Arbeit aufzunehmen, solange der in den Zeitungen berichtete Treueid von den Eisenbahnern verlangt würde. Die Entrüstung im besetzten Gebiet sei aufs höchste gestiegen, und es beständen Verbindungen zwischen den bayerischen Kreisen und dem westfälischen Treubunde. Auch in Hannover seien ähnliche Bewegungen im Gange11. Überall sei die Auffassung, daß eine Verständigung mit Frankreich nicht möglich sei. Somit hänge die Ruhe im Reiche auf das engste mit der außenpolitischen Haltung der Reichsregierung zusammen, und beide Fragen könnten nur gemeinsam gelöst werden. Er rate ab, das vorgeschlagene Schreiben nach München zu richten.

11

Mit der Überschrift „Auch die Welfen wühlen“ hatte „Die Zeit“, Nr. 223 vom 27.9.23, aus Braunschweig über den Landesparteitag der braunschweigisch-niedersächsischen Partei berichtet. Der Parteivorstand Hampe habe eine Neugestaltung Deutschlands auf der Grundlage der alten deutschen Stämme gefordert. Zu Separationsbewegungen neben denen im Rheinland führte der PrIM Severing in der Sitzung der SPD-RT-Fraktion am 31.10.23 aus: „Ähnliche Bestrebungen verfolgen Welfen und Westfalen. Franz.-belg. Propaganda in Schleswig-Holstein regt sich. Kohle fließt dorthin in Massen und Dänen rüsten“ (Arch. soz. Dem.: NL Keil  24).

Der Reichsernährungsminister berichtete von seinen Besprechungen mit dem Ministerpräsidenten von Knilling und dem Generalstaatskommissar von Kahr12. Auch in Bayern strebten die Kräfte auseinander, und es könne daher[413] passieren, daß die Gegensätze sich innerlich auslebten, falls eine einheitliche Front nach außen geschaffen würde. Eine solche könne jedoch jederzeit entstehen durch eine scharfe Forderung der Reichsregierung. Die Bayerische Regierung sei rechtlich zwar im Unrecht, aber innerpolitisch gebunden. Es sei daher zweckmäßig, während der nächsten Tage die Angelegenheit durch Verhandlungen hinzuhalten.

12

Vgl. Dok. Nr. 93.

Er glaube, daß von Frankreich nichts zu erwarten sei. Wenn aber die Regierung erst den Ablauf der außenpolitischen Ereignisse abwarte, dann könne der Bruch im Inneren zuvorkommen. Frankreich wünsche das natürlich. Die Reichsregierung müsse aber umgekehrt denken. Man müsse sich darüber klar sein, daß Ruhr und Rhein für den Augenblick politisch verloren seien; diese Tatsache müsse durch den förmlichen Bruch anerkannt werden, und dadurch sei es wenigstens möglich, eine Gesamtfront nach außen zu wahren.

Der Reichsminister der Finanzen wies daraufhin, daß das bayerische Vorgehen schwerste innerpolitische Rückwirkungen bereits ausgelöst habe. Es handle sich nicht nur um die Frage der Außenpolitik, vielmehr werde in München eine ausgesprochen rechtsgerichtete Gewaltherrschaft gegründet. Als Folge davon würden die gleichen Kräfte im übrigen Reiche ausgelöst. Der Gedanke einer Rechtsdiktatur finde immer mehr Anhänger13.

13

S. dazu Anhang Nr. 1; vgl. zu den Überlegungen über ein Direktorium: E. Kessel, Seeckts politisches Programm von 1923, S. 902 ff.; H. Meier-Welcker, Seeckt, S. 374 f.

Es sei eine Gefahr, daß bei einer Besprechung der Frage im Reichstag die Koalition auseinandergehe, und man müsse sich daher fragen, ob bei einer Beibehaltung des Reichstags die Situation noch zu beherrschen sei. Es sei erforderlich, vom Parlament die Vollmacht zu erbitten, in finanzieller und politischer Hinsicht das Notwendige zu veranlassen und im übrigen den Reichstag zu vertagen. Dies sei der einzige Weg, das Reich zu erhalten.

Geheimrat Dr. Kempner berichtete über die soeben telephonisch gemeldeten Vorgänge in Düsseldorf14.

14

Gemeint ist der Separatistenputsch; s. dazu Anm. 9 zu Dok. Nr. 89.

Der Reichsarbeitsminister äußerte die Meinung, daß es überhaupt nicht möglich sei, vor den Reichstag zu treten, ehe ein klares außen- und innerpolitisches Programm geschaffen sei. Ohne Bekanntgabe eines solchen Programms könnten die Vollmachten nicht erteilt werden.

Der Reichskanzler meinte, daß es auf ein Programm und auf ein Eventualprogramm ankomme. Jedenfalls müßte vor der Reichstagssitzung mit den Fraktionsführern Fühlung genommen werden.

Der Vizekanzler bezweifelte, daß eine außenpolitische Frontänderung die Stimmung in Bayern ändern würde. Dort handle es sich in erster Linie um einen Kampf gegen die Sozialdemokratie15. Daher sei es für die sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts schwer, dem bayerischen Problem länger aus dem Wege zu gehen. Das vorgeschlagene Schreiben sei in dieser Beziehung eine geeignete Rückendeckung und würde sicherlich eine Entspannung der Lage herbeiführen.

15

Vgl. Anm. 5 zu Dok. Nr. 84.

[414] Der Reichsminister des Innern stimmte den vorhergehenden Ausführungen zu: Irgend eine schriftliche Erklärung zur Frage müßte erfolgen, sonst komme das Kabinett in Schwierigkeiten. Man könne die Absendung des Schreibens um einen Tag verschieben und alsdann im Reichstag eine Erklärung ähnlichen Inhalts abgeben.

Im übrigen sei zu bedenken, daß es nicht auf Bayern allein ankomme, sondern auch auf Sachsen16 und die übrigen Staaten. Die Gesamtlinie der Reichspolitik müsse auf alle Länder Rücksicht nehmen.

16

Vgl. Anm. 2 zu Dok. Nr. 75; Anhang Nr. 1.

Er glaube, daß es möglich sein werde, vom Reichstag die erforderliche Ermächtigung zu erlangen; dazu sei es aber zunächst erforderlich, ein Programm zu haben, und sodann, daß die Kabinettsmitglieder nicht die Werkzeuge ihrer Fraktionen seien.

Demnach komme es auch auf die Durchführung des Programms an: Gewalt allein genüge nicht; die vorliegenden wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen müßten ohne parteipolitische Einstellung gelöst werden. Die Sturmzeichen von rechts und links nähmen ständig zu, und es sei zu befürchten, daß, wenn es zu gewaltsamen Auswirkungen käme, die Folgen derart sein würden, daß das deutsche Volk um Jahrzehnte zurückgeworfen würde. Demgegenübersei es Aufgabe der großen Koalition, Reich und Volk zu erhalten, was wiederum nur ginge, wenn die weiten Kreise des Volkes dahinter ständen. Daß diktatorische Maßnahmen nötig seien, werde allgemein empfunden. Für diese müsse aber eine Form gesucht werden, die nicht neue schwere Erschütterungen herbeiführe.

Der Reichswehrminister Herr von Kahr denke nicht daran, mit der Reichsregierung Frieden zu schließen, er wolle sie vielmehr diskreditieren. Eine Reichsexekutive in Bayern mit Truppenmacht sei ausgeschlossen. Wir näherten uns der Zeit eines Direktoirs, unter dem auch ein klares Wirtschaftsprogramm gemacht werden müsse. Er empfehle, die Reichstagsverhandlungen um einige Tage zu verschieben. Den Brief an Bayern würde er absenden, denn die Antwort bekämen wir doch erst, wenn die Krise gelöst sei.

Der Reichsverkehrsminister Er würde den Brief an Bayern nicht vor der Reichstagssitzung absenden. Das Kabinett müsse sich auf den stärksten nationalen Boden stellen und erweiterte Vollmachten vom Parlament fordern. Dies entspreche auch dem Wunsch des Reichstags.

Der Reichswirtschaftsminister Man müsse morgen an die Realisierung des Programms gehen. Das Wirtschaftsprogramm müsse sich gleichmäßig gegen alle Seiten richten, beispielsweise auf der einen Seite starke Besitzsteuern, auf der anderen längere Arbeitszeit, Maßnahmen gegen Kartelle usw.

Der Reichsarbeitsminister empfiehlt, den Brief an Bayern nicht abzusenden.

Der Reichspostminister ist gleichfalls gegen Absendung des Briefes. Die Reichstagsverhandlung könne erst stattfinden, wenn die Regierung Klarheit über die Außenpolitik und ihr Programm gewonnen habe.

Der Reichskanzler ist gegen eine Verschiebung der Reichstagssitzung, weil sonst in der Zwischenzeit die Presse die Lage beherrsche.

[415] Der Reichsernährungsminister ist gleichfalls gegen die Vertagung des Reichstags und die Absendung des Briefes.

Der Reichskanzler stellte als Ergebnis fest, daß der Brief nicht abgesandt werden soll.

Am 1. Oktober d. Js. 3 Uhr nachmittags müsse das Kabinett zur Beratung des Programms zusammentreten17.

17

S. Dok. Nr. 97.

Hierauf wurde die Sitzung geschlossen.

Extras (Fußzeile):