2.73 (str1p): Nr. 73 Dr. Hjalmar Schacht an den Reichskanzler. 21. September 1923

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Nr. 73
Dr. Hjalmar Schacht an den Reichskanzler. 21. September 1923

Pol. Arch.: NL Stresemann 1

[Betrifft: Tirards Rheinstaatenprojekt; Goldwährung.]1

1

Zur kritischen Einschätzung dieses Schreibens s. K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik, S. 109, Anm. 6.

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

Ich sprach Ihnen kürzlich von den Bemühungen der französischen Besatzungsbehörden, ihrerseits politische Erfolge gegenüber Paris zu erzielen und daß man mich aufgefordert habe, nach Koblenz zu Herrn Tirard zu kommen. Ich habe das bisher mit Rücksicht auf die von Ihnen geführten direkten Verhandlungen nicht für angezeigt gehalten, erhalte aber heute einen Bericht über eine Unterredung, die Herr Dr. Ganz vom Sichelkonzern im Beisein eines seiner Konzerndirektoren, des Herrn Limann, vorgestern in Koblenz mit Herrn Tirard gehabt hat2. Nach Herrn Tirard sei die französische Regierung zu folgender Lösung bereit3:

2

Vgl. hierzu den Bericht E. Davids über die Besprechung Ganz-Tirard in: F. P. Kahlenberg, Die Berichte Eduard Davids als Reichsvertreter in Hessen 1921–1927, Dok. Nr. 82.

3

Am 22.9.23 berichtete Geschäftsträger von Hoesch dem AA, ein Gewährsmann habe von einer Ministerkonferenz bei Poincaré unter Beteiligung Fochs und Tirards mitgeteilt, Tirard habe ausgeführt, die Rheinrepublik sei theoretisch fertig und müsse nur noch proklamiert werden (Pol. Arch.: Büro RM 15, Bd. 3). Schon am 18.9.23 hatte der PrIM den RMbesGeb. und das AA über eine Nachricht des Reichs- und StKom. Mehlich vom 10.9.23 unterrichtet, wonach vorgesehen sei, Ende September oder Anfang Oktober die Rheinische Republik auszurufen. Bedenken bestünden bei den Franzosen wegen der Haltung der englischen Besatzung in Köln, die eine Rheinische Republik ablehne. Doch diese Republik werde wohl auch ohne englische Zustimmung proklamiert (Pol. Arch.: Abt. II, Besetzte Gebiete; Besetztes Rheinland, Loslösungsbestrebungen Bd. 2).

a)

Es werden im Verbande des Deutschen Reiches, ein, zwei oder drei selbständige geografisch aneinanderstoßende Staaten gebildet, von der Pfalz bis zur Ruhr. Die Regierung dieser Staaten wird von der Bevölkerung unabhängig von Berlin bestimmt, wobei die Besetzung der Beamtenstellen ausschließlich durch Einheimische zu erfolgen hat4. Die französische [328] Regierung habe nichts dagegen, wenn diese Staaten wie bisher ihre Abgeordneten zum Reichstag entsenden. Jedenfalls sollen sie im deutschen Zollgebiet verbleiben. Man scheint gewisse Befürchtungen zu haben, daß eine solche Abtrennung nur eine Scheinabtrennung (camouflage) sein werde, was man natürlich nicht dulden würde.

Sympathisch wäre den Franzosen eine Unabhängigkeit vom Reich für dieses Rheinlandgebiet in der Weise, wie sie Bayern bis 1914 hatte. Hierunter scheint insbesondere eigene Eisenbahn und Post verstanden zu sein, während eine eigene außenpolitische Vertretung in der Unterhaltung nicht berührt worden ist.

b)

Die Eisenbahn des Gebietes soll in die Verwaltung einer Internationalen A.G. übergehen, woran das Gebiet selbst und die Entente beteiligt sein sollen5. Ferner sollen Monopole für Tabak, Alkohol, Zucker usw. geschaffen werden, die aber von den Staaten des Gebietes selbst verwaltet werden sollen.

Herr Tirard betonte, daß die französische Regierung keine Annexionen wolle und eine pazifistische Lösung ohne Zwang vorziehe. Dabei hat er jedoch auf die angebliche Zunahme der separatistischen Bewegung hingewiesen, deren tragende Elemente allerdings z. Zt. der französischen Regierung keine dauernde Garantien zu bieten scheinen6. Dabei wies er aber darauf hin, daß wenn die Lösung nicht rechtzeitig erfolge oder in Deutschland Putsche losgehen sollten, die separatistische Lösung unter dem Druck der Straße (soll wohl heißen der französischen Nachhilfe) nicht aufzuhalten wäre. Nach einer Lösung auf obiger Grundlage könne eine Verminderung der Besatzungstruppen in Rhein und Ruhr stattfinden7 und zur Aufnahme einer Auslandsanleihe geschritten werden.

4

Offensichtlich wollte Tirard auf diese Weise dem Protest des AA in Paris, London und Brüssel vom 6.9.23 begegnen, in dem festgestellt worden war, daß die VO der IRKO, Beamte für die Posten zu benennen, die durch Abberufung, Ausweisung und der Verweigerung einer Ernennung freigeworden seien, gegen Art. 45 des Rheinlandabkommens verstoße, wonach die Zivilverwaltung des besetzten Gebiets in deutscher Hand liege. Ernennungen durch die IRKO seien rechtswidrig und Handlungen der von ihr ernannten Beamten nicht rechtsgültig. Es werde erwartet, daß auf diesen Protest hin, die IRKO ihre VO zurücknehme (Pol. Arch.: Büro RM 15, Bd. 3).

5

S. hierzu die Verhandlungen Wolffs mit Degoutte am 29.8.23 (Dok. Nr. 30). Hoesch berichtete am 9.10.23 dem AA, Tirard habe in einem Interview erklärt, die rheinischen Bahnen würden nicht an Deutschland zurückgegeben, sondern internationalisiert (Pol. Arch.: Büro RM 15, Bd. 3).

6

Der Düsseldorfer RegPräs. hatte zur separatist. Bewegung dem PrIM und dem StKom. öffentl. Ordnung mitgeteilt: „Seit Anfang August ist bei der Rheinischen Unabhängigkeitspartei, die sich nunmehr ‚Rheinischer Unabhängigkeitsbund‘ nennt, ein fieberhaftes Arbeiten und eine außerordentlich rege Agitation zu verzeichnen. Die Sonderbündler halten allenthalben Versammlungen und Besprechungen ab und tragen weiteren Zündstoff in die erregte Bevölkerung. Auch diese Gruppe der Sonderbündler stellt sich offensichtlich und rückhaltslos unter den Schutz der Besatzung und besorgt deren Geschäfte“ (Pol. Arch.: Abt. II, Besetzte Gebiete; Besetztes Rheinland Loslösungsbestrebungen 2).

7

Demgegenüber hatte der frz. Presse-Attaché Professor Hesnard dem dt. Geschäftsträger von Hoesch erklärt, der beste Weg, um der Räumungsfrage beizukommen, sei, „Frankreich Zahlung in Form von auf sicheren Pfändern gegründeten Obligationen anzubieten“ (11.9.23, Hoesch an AA; Pol. Arch.: Büro RM 7, Bd. 2).

So durchsichtig die vorstehenden Gedankengänge in ihrer Tendenz sind, so stimme ich doch Herrn Dr. Ganz und Herrn Limann in dem Gesamteindruck bei, den sie in die bestimmte Überzeugung zusammenfassen, daß nur sofortige Verhandlungen Rhein und Ruhr für das Reich noch retten können. Ich weiß,[329] sehr geehrter Herr Reichskanzler, daß Sie in dieser Richtung tätig sind8, hielt mich aber trotzdem für verpflichtet, Ihnen das Vorstehende mitzuteilen. Ich konnte Sie leider die letzten Tage persönlich nicht erreichen, um Ihnen eine Reihe Eindrücke und Informationen aus der Schweiz, Holland, Paris und Belgien mitzuteilen, die sich in das Gesamtbild einfügen. Im übrigen berichten mir beide Herren übereinstimmend, daß im Gebiet von Mainz bis Koblenz die Stimmung für eine Selbständigkeit im obigen Sinne bei angesehenen deutschen lokalen Parteiführern im Wachsen ist, wobei das treibende Element in der Hauptsache der Währungsverfall sein dürfte. Die schleunigste Bereitstellung einer Goldnote aus wirklichem Golde, als eines internationalen Zahlungsmittels, ist hierzu dringend erforderlich9. Auch hierüber habe ich mit schweizer, französischen und englischen Bankiers einen Meinungsaustausch gehabt, der mich eine beschleunigte Durchführung meines Projektes erhoffen läßt.

8

S. Stresemanns Unterredung mit dem frz. Botschafter, 17.8.23.

9

Zu Schachts währungspolitischen Vorstellungen s. Anm. 5 zu Dok. Nr. 37; Dok. Nr. 118.

Herr Dr. Ganz würde bereit sein, mit einigen führenden Herren aus Mainz am 26. oder 27. [September] hierherzukommen zum mündlichen Rapport, falls Ihnen ein solcher Besuch angenehm sein sollte. Ich bitte mich das freundlichst baldmöglichst wissen zu lassen10.

10

Eine Erwiderung Stresemanns wurde nicht ermittelt; aber auf Grund der Entscheidungen am 25.9.23 ist es wohl nicht zu einem Besuch des Dr. Ganz beim RK gekommen.

Mit ergebensten Grüßen

Ihr

Dr. Hjalmar Schacht

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