1.92 (str2p): Nr. 206 Der Sächsische Ministerpräsident an den Reichskanzler. 31. Oktober 1923, 12.35 Uhr

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Nr. 206
Der Sächsische Ministerpräsident an den Reichskanzler. 31. Oktober 1923, 12.35 Uhr

R 43 I /2309 , Bl. 265/266 Telegramm

[Betrifft: Bildung einer neuen Regierung in Sachsen.]1

1

S. hierzu a. Anhang Nr. 1 mit Anm. 78.

Hierdurch beehre ich mich anzuzeigen, daß ich in der ordnungsgemäß einberufenen Sitzung des Landtages vom 31. Oktober 1923 zum Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen gewählt und mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt worden bin2. Die Bildung des neuen Kabinetts ist bereits erfolgt. Die neuernannten Mitglieder gehören sämtlich der sozialdemokratischen Partei an3. Da bei dieser Sachlage selbst von dem bisher von der Reichsregierung[912] vertretenen verfassungsrechtlichen Standpunkt aus die neue Regierung zweifelsfrei verfassungsmäßig ist und auch die vom Reich geltend gemachten Gründe zur Ernennung eines Reichskommissars beseitigt [!]. Ich sehe deshalb der sofortigen Abberufung des Herrn Reichskommissars durch die Reichsregierung, der amtlichen Bekanntgabe hierüber und entsprechender Benachrichtigung an mich entgegen4.

2

Demgegenüber vertrat die DNVP-Fraktion die Anschauung, die Wahl Fellischs sei nicht rechtens, da sie nicht den Bestimmungen der GO nach erfolgt sei und wenn, dann nur einer extrem formalistischen Auslegung nach. Bei Einhaltung der GO und Berücksichtigung des Tagungsverbots durch General Müller wäre Fellisch mit Sicherheit nicht gewählt worden. Mit dieser Argumentation versuchte die DNVP, die Wahl vor dem StGH anzufechten (R 43 I /2309 , Bl. 287–289).

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Dem neuen Kabinett, dessen Namen der RK schon am 31. 10. telefonisch und am 5.11.23 offiziell schriftlich genannt wurden, gehörten sechs Sozialdemokraten an, von denen IM Liebmann und KultusM Fleissner bereits im Kabinett Zeigner gewesen waren (R 43 I /2309 , Bl. 283, 299). S. dazu Anm. 3 zu Dok. Nr. 195. In der RT-Fraktionssitzung der DVP am Nachmittag des 5.9.23 führte StS Kempkes aus: „In Sachsen lagen Sachen so, daß verfassungswidriger Zustand bestand. Reichskommissar hatte unbeschränkte Vollmacht. Stres. hat niemals Beauftragte nach Sachsen geschickt. Richtig ist, daß Wels geflunkert hat.“ Im weiteren Verlauf der Sitzung kam es zu folgenden Erklärungen: „Heinze: Stres. hat vielleicht nicht Personen, aber die sozialistische und demokratische Fraktion ersucht, Vertrauensleute nach Sachsen zu schicken. DVP in Dresden stand jedenfalls unter dem Eindruck, daß schnellste Regierungsbildung Berliner Wunsch sei. Regierung muß sich eben von sozialistischem Einfluß frei machen. Dr. Becker: Als wir am 27. Oktober in der Reichskanzlei waren, haben wir alle geglaubt, daß Sachsen ein Koalitionskabinett bekommen würde, stattdessen haben wir eine Neuauflage des Kabinetts Zeigner unter anderer Firma. Die Aufgabe ist also formal gelöst und politisch verdorben. Findeisen: Die Lösung ist in breiten Schichten der sächsischen Bevölkerung keine Enttäuschung. Man ist im Gegenteil über das Vorgehen der Reichsregierung hoch befriedigt.“ Der thür. Abg. Leutheußer erklärte: „Aktion in Sachsen ist verpfuscht. Und Thüringen?“ Abg. Piper vertrat den Standpunkt: „Man hat Heinze eine Rolle spielen lassen, die sich weder mit seiner noch mit unserer Würde verträgt. Der Kanzler hat hier und in anderen Aufgaben versagt.“ Stresemann selbst führte im weiteren Verlauf der Sitzung zunächst aus: „Ich höre, daß Gerüchte im Umlauf seien, ich solle Wels, Dittmann und Fischer nach Dresden geschickt haben. Das ist eine ganz grobe Unwahrheit.“ Weiterhin setzte der RK auseinander: „In Kabinettssitzung tauchte Frage nach den Kompetenzen des Reichskommissars auf. Antwort: Ruhe und Ordnung schaffen und verfassungsmäßige Regierung ermöglichen. Wels fragte dann später: Würden Sie ein rein sozialistisches Kabinett für verfassungsmäßig ansehen? Antwort kann nur sein, daß es auf verfassungsmäßige Wahl des Landtags ankommt. Mehrere Fraktionen schickten Vertreter nach Dresden. Für uns keine Veranlassung dazu. Kaiser hat mich telefonisch gefragt, wie sich Fraktion zu Kabinett Fellisch verhalten solle. Ich habe ihm Entscheidung nach sächsischen Interessen freigestellt und ihm erklärt, die Reichsregierung sei auch dann nicht gefährdet, wenn etwa die Sozialdemokratie ausscheide“ (Pol. Arch.: NL Stresemann  87). Nach einem nicht datierten, aber wohl vom 31.10.23 stammenden Vermerk über einen Telefonanruf Heinzes hatte Fellisch ordnungsmäßig sein Kabinett erst am Abend des Tages bilden können, da durch Schwierigkeiten im Landtag wie einem Antrag auf dessen Auflösung sich die Vereidigung verzögerte. Heinze hatte zuvor schon Fellisch erklärt, daß er erst nach der Regierungsbildung sein Amt als Reichskommissar niederlegen werde. Dies geschah um 23.30 Uhr (R 43 I /2309 , Bl. 282). Vgl. a. zur Kabinettsbildung: W. Fabian, Klassenkampf in Sachsen, S. 181.

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Die VO des RPräs. vom 29.10.23 wurde am 1.11.23 aufgehoben und im RGBl. I, S. 1039  am 2.11.23 veröffentlicht (Original der Ausfertigung in R 43 I /2309 , Bl. 291). Mit dieser Aufhebung erloschen auch die Vollmachten des RKom.

Mit vorzüglicher Hochachtung Fellisch Ministerpräsident

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