1.94 (wir2p): Nr. 329 Staatssekretär a. D. Bergmann an den Reichskanzler. Paris, 29. Juli 1922

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Nr. 329
Staatssekretär a. D. Bergmann an den Reichskanzler. Paris, 29. Juli 1922

R 43 I /30 , Bl. 3-11

[Betrifft: Meinungen innerhalb der Reparationskommission zur Gewährung eines neuen Moratoriums1]

1

Der Bericht wird am 31.7.1922 abschriftlich dem RPräs. und StS v. Haniel zugeleitet; Bergmann hatte ihn dem RFM bereits zugesandt.

Sehr verehrter Herr Reichskanzler!

Aus meinen wiederholten Besprechungen mit Delacroix, an denen zeitweise auch Bemelmans teilnahm, habe ich den sehr bestimmten Eindruck gewonnen, daß wir keinerlei Aussicht haben, zurzeit ein längeres Moratorium, geschweige denn eine vollständige Befreiung von den Reparationszahlungen bis Ende 1924 zu erlangen2. Ich fand Delacroix trotz des Abbruchs der deutsch-belgischen[975] Verhandlungen in der Markfrage ebenso entgegenkommend und mitteilsam wie früher. Dem Ernst der Lage entsprechend habe ich diesmal von jeder diplomatischen Vorsicht abgesehen und meine oft unbequemen Fragen mit größter Dringlichkeit an Delacroix gestellt. Er hat mir mit einer manchmal erfreulichen Offenheit geantwortet und Dinge mitgeteilt, die er nachher im Beisein von Bemelmans wieder vorsichtig verhüllte. Poincaré ist „très mal disposé“. Das geht auch aus dem Ton der Pariser Presse hervor, die kaum jemals so böswillig und gehässig gegen Deutschland gewesen ist, als gerade jetzt. Von irgendwelcher Einsicht in die Notlage Deutschlands ist nichts zu spüren. Noch immer wird der Zusammenbruch der Mark als ein betrügerischer Bankrott Deutschlands behandelt. Auf meine Frage, was Poincaré eigentlich für Pläne habe, sagte Delacroix, das wisse niemand. Alle Erörterungen der Pariser Presse über angebliche praktische Vorschläge der Französischen Regierung seien Rätselraten. Poincaré hülle sich jedermann gegenüber in tiefstes Geheimnis. Wahrscheinlich habe er überhaupt keinen Plan und spiele inzwischen mit gewohntem Geschick den starken Mann. Ich glaube, daß diese Annahme zutrifft. Poincaré ist bekannt als Formaljurist, von dem noch niemals ein praktischer oder schöpferischer Gedanke ausgegangen ist. Wahrscheinlich hat er weder einen Reparationsplan, noch irgendwelche bestimmten Absichten für Zwangsmaßnahmen Deutschland gegenüber. Um seine Stellung zu wahren, wirft er mit Drohungen um sich herum, so wie er dies auch in seiner Antwort auf die deutsche Clearingnote getan hat3.

2

Mit ihrer Note vom 12.7.1922 an die Repko (siehe Dok. Nr. 314, Anm. 6) hatte die Klko im Hinblick auf den Art. 234 des VV (siehe Dok. Nr. 229 Anm. 8) den Antrag gestellt, der dt. Reg. die während des Kalenderjahres 1922 fälligen Barzahlungen zu stunden. Die Repko hatte daraufhin am 13.7.1922 den Empfang der Note bestätigt und erklärt: „Sie [die Repko] ist jedoch überzeugt, daß die Reparationszahlungen nur eine und nicht die wichtigste Ursache für den gegenwärtigen Marksturz sind, und daß eine dauernde Befestigung der Lage nur durch sofortige Durchführung der von der Reparationskommission seit langem geforderten Finanzrefom möglich ist. – Solange der Bericht des Garantiekomitees über die Anwendung dieser Maßregeln der Kommission nicht zugegangen ist [siehe Dok. Nr. 319 Anm. 1], kann sie keine Entscheidung treffen. Angesichts der Dringlichkeit des Problems gedenkt sie diese Entscheidung vor dem 15. August d. J. zu treffen und der deutschen Regierung mitzuteilen.“ Es folgen Bestimmungen über die am 15.7.22 fällige Rate (Aktenstücke zur Reparationsfrage vom 12. Juli bis 11. Dezember 1922, S. 7). Tatsächlich ergeht die endgültige Antwort nach einem Zwischenbescheid vom 14.8.1922 am 31.8.1922.

3

Am 14. 7. hatte die dt. Reg. die am Clearing-Verfahren beteiligten Mächte ersucht, die nach dem Abkommen vom 10.6.1921 monatlich fällige 2 Mio Pfund auf 0,5 Mio Pfund zu ermäßigen. In seiner scharfen Note vom 26.7.22 lehnt Poincaré dieses Gesuch ab und verlangt unter der Drohung „eine bestimmte Anzahl von Maßnahmen“ gegen das Reich anzuwenden, daß die dt. Reg. innerhalb einer Frist von 10 Tagen die Zusicherung gebe, jeden Monat den Pauschalbetrag von 2 Mio Pfund zu zahlen (siehe Aktenstücke zur Reparationsfrage vom 12. Juli bis 11. Dezember 1922, S. 7 ff.).

Und doch ist Poincaré eine politische Macht, auch England gegenüber. Es ist erstaunlich, wie an seinem Starrsinn alle guten englischen Vorsätze abprallen und wie Lloyd George immer wieder zurückweicht, sobald das französische Geschrei losgeht. Wenn wir aus London die Ansicht gewonnen hatten, daß es jetzt Zeit sei, einen Zahlungsaufschub möglichst bis Ende 1924 zu beantragen4, so ist es schon jetzt klar, daß wir uns wieder einmal von England aus zu falschen Hoffnungen haben verleiten lassen. Nicht einmal die englischen Delegierten werden in der Reparationskommission ernstlich für einen langen Zahlungsaufschub eintreten. Alle übrigen Mitglieder werden angesichts der Haltung Frankreichs dagegen stimmen. Ich habe Delacoix direkt gefragt, ob und weshalb auch er gegen ein solches Moratorium sei. Er hat mir darauf sehr bestimmt[976] gesagt, daß er gegen einen langfristigen Zahlungsaufschub stimmen werde, weil schon bei der Erörterung darüber Frankreich sicherlich mit ganz neuen Garantieforderungen kommen werde, die auf eine vollständige Knebelung Deutschlands in wirtschaftlicher Hinsicht hinauslaufen. Er sei aber auch grundsätzlich ein Gegner des Moratoriums, weil es die endgültige Lösung des Reparationsproblems nur verschleppe. Bradbury verfolge das Ziel, daß sich Deutschland zunächst einmal finanziell gründlich sanieren müsse und zwar mit Hilfe eines längeren Zahlungsaufschubs. Nach der Gesundung der deutschen Finanzen werde man dann an die endgültige Feststellung der Reparationsschuld herankommen. Diesen Weg hält Delacroix angesichts der jetzigen Weltkrisis nicht für gangbar. Er glaubt, daß die Verhältnisse zu einer schleunigen Regelung der Reparationsfrage unter Ausgleich der interalliierten Schulden drängen, und daß die bevorstehenden Besprechungen in London zu einer baldigen Wiederaufnahme der Beratungen der Bankiers im Anleihekomitee führen werden. Als er hörte, daß ich demnächst zu privaten Besprechungen mit Morgan und Kindersley nach London gehen würde, war er damit sehr einverstanden5. Er hofft, daß schon in London eine Aussprache darüber stattfinden wird, wie man die Reparationsschuld auf eine vernünftige Summe herabsetzen kann. Vor ihm lag eine Berechnung, die er, wie er sagte, für seinen französischen Kollegen Dubois anfertige und die bezweckt, ohne formelle Änderung des Zahlungsplans von London im Wege der Mobilisierung der Schuld durch eine Anleihe auf eine für Deutschland tragbare Gesamtsumme zu kommen. Dieses Ziel will er bemerkenswerterweise genau auf dem Wege erreichen, der dem deutschen Plan in der Londoner Konferenz vom März zugrunde lag, und der damals einen Sturm der Entrüstung bei den Alliierten erregte6. Er teilt die 132 Milliarden des Londoner Zahlungsplans in 50 Milliarden, die zu 5% verzinslich sind und 82 Milliarden, die vorläufig unverzinslich bleiben, weil nach den zu zahlenden Annuitäten (2 Milliarden und 26% der deutschen Ausfuhr) auf lange Zeit hinaus nichts für die Verzinsung der C Bonds übrigbleibt. Auf dieser Basis diskontiert er die gesamten 132 Milliarden mit 7% auf den heutigen Tag zurück und zieht von dem Ergebnis ab

4

Siehe dazu Dok. Nr. 315, P. 4.

5

Die Londonreise Bergmanns war durch ein Telegramm Sthamers vom 24.7.22 angeregt: „Blackett meint, daß es ratsam sein würde, wenn Deutsche Regierung sich schon jetzt intensiv mit Frage befassen würde, welche Reparationssumme Deutschland bereit sein würde in Annuitäten zu bezahlen, und daß es nicht unzweckmäßig sein würde, wenn noch vor Poincarés Herkunft oder während seines Aufenthaltes eine private Besprechung über diesen Gegenstand zwischen Bergmann, Kindersley, Morgan stattfinden könnte. Ehe ich mit K. in diesem Sinne spreche, bitte ich um telegrafische Mitteilung, ob die Anregung dortigen Intentionen entspricht und ob Bergmann herkommen könnte.“ (R 43 I /29 , Bl. 434). Mit einem Telegramm vom 26. 7. setzte StS v. Haniel daraufhin Bergmann von diesem Plan in Kenntnis und fügte an: „Hier wird es für notwendig gehalten, dieser Anregung Folge zu leisten und daß ferner während der Anwesenheit Poincarés London deutscher Unterhändler in London anwesend. Reichskanzler läßt Sie dringend bitten, für diese beiden Zwecke nach London zu reisen, sobald Pariser Besprechungen mit Reparationskommission beendet sind, jedoch spätestens gleichzeitig mit London Reise Poincarés. Vorherige Besprechung in Berlin wegen Reparationssumme wäre erwünscht.“ (R 43 I /29 , Bl. 457).

6

Der deutsche Gegenvorschlag ist als Anlage zum Sitzungsbericht vom 1.3.1921 gedruckt (RT-Drucks. Nr. 1640 , S. 149, Bd. 366).

[977] 1. den Betrag der interalliierten Schulden, abgesehen von den amerikanischen Forderungen,

2. den Betrag, der auf die anteilige Reparationsschuld der deutschen Kriegsverbündeten, nämlich Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei, entfällt.

Ich äußerte großes Interesse für diese Berechnung, mit der sich auch Bemelmans beschäftigt. Delacroix sagte zunächst zu, mir einen vertraulichen Einblick in diese Berechnungen zu gewähren, erklärte aber bei einer späteren Rücksprache, daß er mir die Rechnungsmethode im einzelnen nicht gut zeigen könne, zumal man sehr verschiedene Wege dabei einschlagen könne, und die Phantasie eine große Rolle spiele. Man sei auf eine Art zu einem Ergebnis von 42 Milliarden gelangt, man könne aber ebenso gut auch 33 Milliarden herausrechnen und vielleicht auch noch weniger. Hierbei sei der auf England entfallende Anteil an der Reparationsforderung von 22% noch nicht berücksichtigt. Es werde aber verlangt werden müssen, daß England ebenso wie auf seine Forderungen an die Alliierten, so auch auf seinen Anteil an der Reparation verzichte. Interessant ist, daß auch Logan mir dies als seine eigene Ansicht mitteilte.

Delacroix warnte mich aber davor, bei den Besprechungen in London schon mit solchen Zahlen zu operieren, weil dies noch immer böses Blut machen könne. Es käme zunächst darauf an, die Methode der Diskontierung zu erörtern und ein grundsätzliches Einverständnis darüber zu erlangen. Ich sagte Delacroix, daß dies für die politischen Auseinandersetzungen zwischen den Alliierten ja sehr schön sei, daß ich aber den Bankiers gegenüber damit nichts anfangen könne. Insbesondere werde mir Morgan nunmehr die schon seinerzeit in Paris von ihm angekündigte Frage vorlegen, wieviel Deutschland im Ganzen zu zahlen in der Lage sei. Ich erinnerte Delacroix daran, daß auch er mir einmal diese Frage vorgelegt hätte, und daß ich darauf ganz unverbindlich als meine eigene Schätzung den Betrag von etwa 20 Milliarden vorbehaltlich der Zinsregulierung genannt hätte. Delacroix erwiderte, daß man doch mindestens mit 25 Milliarden rechne, die im Wege der Anleihe aufzubringen seien und außerdem mit Sachleistungen von etwa 15 Milliarden, die nach und nach natürlich ohne Zinsen zu leisten seien. Ich erklärte, daß ich persönlich diesen Gesamtbetrag für zu hoch halte, daß ich aber im übrigen dazu keine Stellung nehmen könne. Bedingung für die Barzahlungen müsse sein, daß sie sämtlich im Wege von Anleihen erfolgen, die allmählich in einer Reihe von Jahren durch Verkauf an das Publikum begeben werden und erst von da ab Zinsen tragen. Dem stimmte Delacroix ausdrücklich zu.

Offenbar lehnen sich die belgischen Berechnungen äußerlich an den Plan von Sir Robert Horne an, der gleichfalls von 40 bis 55 Milliarden Gesamtschuld ausgeht. Auch Bemelmans operierte mit dieser Größenordnung, ließ aber durchblicken, daß man auch zu einer geringeren Summe kommen könne. Logan sagte mir heute, daß er 30 Milliarden für den richtigen Gesamtbetrag halte. Alles kommt natürlich darauf an, wie die Verzinsung geregelt wird. Auf diese Weise können 40 Milliarden erträglicher werden als 20, die von vornherein fest zu verzinsen wären, und vielleicht würde es sich empfehlen, für die Franzosen mit einer hohen Zahl „window dressing“ zu machen.

[978] Sicherlich wird man mit mir in London in diesem Sinne weitersprechen. Es wäre mir lieb, wenn ich einen ungefähren Anhalt dafür bekommen könnte, wie sich die Deutsche Regierung hierzu stellt. M. E. sollte ein bestimmtes deutsches Angebot vorläufig nicht gemacht werden, und es ist wohl auch klar, daß irgendwelche Instruktionen mir in dieser Hinsicht jetzt nicht gegeben werden können. Ich würde diese Besprechungen am besten auf eigene Faust ohne jede Verbindlichkeit für die Deutsche Regierung zu führen haben, nur wäre es mir lieb zu wissen, ob grundsätzliche Bedenken dagegen vorliegen, daß ich mit Zahlen wie etwa 20 bis 25 Milliarden immer unter Vorbehalt der Verzinsung und vielleicht zuzüglich gewisser Sachleistungen den Bankiers in London gegenüber operiere7.

7

Eine Stellungnahme der RReg. ist in den Akten nicht ermittelt; wohl findet am 1.8.22 11.30 Uhr eine Chefbesprechung statt, auf der die Frage Bergmanns diskutiert wird. StS Hirsch äußerte dabei seine Bedenken gegen jegliche Zahlenbindung. Nach Ausführungen Hirschs über die Bedeutung des Währungssturzes, bat der RK, Material bereit zu halten für den Fall, daß Vertreter der deutschen Regierung zu den Londoner Besprechungen hinzugezogen würden. Im übrigen wird aber beschlossen, StS Bergmann nach Berlin zu beordern, bevor er nach London gehe (R 43 I /29 , 30, Bl. 12). Auf ein entsprechendes Telegramm Hemmers vom 3.8.22 (R 43 I /29 , 30, Bl. 39 f.) antwortet Bergmann, daß seine Anwesenheit in London bereits am 5.8.22 erforderlich und ein Besuch Berlins daher unmöglich sei (Dok. Nr. 333, P. 2).

Die von mir betonte Notwendigkeit einer kleineren Anleihe zur Stabilisierung der Mark fand bei Delacroix Verständnis. Er meint jedoch, daß man diese Anleihe nicht ausschließlich für deutsche Zwecke, sondern auch für die Begleichung der Moratoriumszahlungen verwenden müsse. In diesem Falle hält er das Zustandekommen einer kleineren Anleihe von etwa 1½ Milliarden Mark unter entsprechender Erstreckung des jetzt bestehenden Moratoriums für denkbar, sobald es gelungen sein wird, für die Beschränkung der gesamten Reparationsschuld gewisse feste Grundlagen zu finden. Delacroix ist der Meinung, daß Poincaré etwa am 7. August nach London gehen werde, so daß noch vor dem 15. August eine Entscheidung über den vorläufigen Zahlungsaufschub – wahrscheinlich für August und September – erfolgen könne. Was geschehen wird, wenn etwa die Reise von Poincaré nach London wegen der italienischen Krise bis zum September verschoben wird, darüber konnte ich eine bestimmte Auskunft von keiner Seite erhalten. Wahrscheinlich ist, daß dann die Reparationskommission die Zahlung zum 15. August vorläufig aufschieben wird.

Wegen der Antwort Poincarés auf die deutsche Clearingnote darf ich mich auf unser ausführliches Telegramm von gestern beziehen8. Mir sind, besonders nach meinem Gespräch mit Logan, Bedenken gekommen, ob es sich empfiehlt, der Antwort Poincarés gegenüber eine formal ablehnende Haltung einzunehmen; aber ich glaube doch, daß man diesen Standpunkt wird vertreten können, wenn innerhalb der nächsten Tage von den anderen beteiligten Alliierten keine Entscheidung eingeht. Dann wird es sich allerdings empfehlen, mit der deutschen Antwort doch noch bis in die ersten Tage des August zu warten, damit Frankreich nicht etwa in einer zweiten höhnischen Note darauf hinweisen kann, daß wir ja eine Frist von 10 Tagen haben, innerhalb deren die[979] Entscheidung der anderen Alliierten sicherlich noch eingehen werde. Inzwischen hat Belgien geantwortet9.

8

In R 43 I nicht ermittelt.

9

Die belgische Regierung hatte in Beantwortung der deutschen Clearing-Note am 29.7.22 mitgeteilt, daß sie sich über den Antrag auf Herabsetzung der Zahlungen an die Ausgleichsämter zur gleichen Zeit wie über den Antrag auf Gewährung eines Moratoriums äußern werde. Der Vorrang vor allen übrigen Lasten gebühre jedoch den Reparationen (Aktenstücke zur Reparationsfrage vom 12. Juli bis 11. Dezember 1922, S. 14).

Die von mir angeregte Abziehung der deutschen Bankguthaben aus Frankreich fand bei den Herren, die ich gesprochen habe, allgemein Verständnis gemischt mit Schadenfreude. Mir wurde von einer Seite gesagt, daß die Deutsche Regierung gut daran tun würde, diesen Gegenzug nicht zu sehr durch Veröffentlichung in den Zeitungen zu unterstreichen, sondern mehr dadurch wirken zu lassen, daß die französischen Banken bei ihrer Regierung vorstellig werden. Natürlich wird es darauf ankommen, ob solche deutschen Guthaben in irgendwie erheblicher Höhe bestehen. Wenn es sich nur um ganz geringfügige Beträge handeln sollte, würde das deutsche Vorgehen von den Franzosen ins Lächerliche gezogen werden.

Die Note Poincarés wird allgemein als politischer Schachzug für die bevorstehenden Londoner Verhandlungen aufgefaßt. Sie ist den Vertretern der Alliierten Ausgleichsämter, die zur Beratung in Paris versammelt waren, als „fait accompli“ mitgeteilt worden. Der belgische Vertreter hat sofort Verwahrung eingelegt, weil seine Regierung auf dem Standpunkt stehe, daß die Clearingzahlungen gemeinsam mit den Reparationszahlungen behandelt werden müßten, während der Vertreter des englischen Ausgleichsamtes erklärt hat, daß er seiner Regierung berichten werde. Soviel steht fest, daß im Schoße der Reparationskommission keine Neigung besteht, dem französischen Beispiel zu folgen. In der gestrigen Sitzung hat Delacroix energisch den Standpunkt vertreten, daß die Reparationen den Vorrang vor dem Clearing haben müssen, und es nicht angehe, Zahlungen im Clearing zu verlangen, wenn die Reparationszahlungen gestundet würden. Mir wurde geraten, die ganze Sache nicht allzu tragisch aufzufassen. Demgegenüber habe ich darauf hingewiesen, daß trotz allem die Drohungen Poincarés nach Ablauf des zehntägigen Ultimatums eine schwierige Sachlage geschaffen hätten. Auffallend ist, daß die französischen Zeitungen, abgesehen von einer kurzen Havasmeldung, die Sache totschweigen. Die Note Poincarés ist nicht veröffentlicht.

 

Delacroix kam von sich aus auf die belgische Markfrage zu sprechen. Er sagte, Theunis habe sich bei ihm und Jasper gegen den Vorwurf verteidigt, als seien die belgischen Nachforderungen Schuld an dem Abbruch der Verhandlungen. Ich habe Delacroix sehr deutlich erklärt, daß Belgien mit seinen kleinlichen Nachforderungen, die in dem Vorvertrag vom 1. September 1921 keinerlei Stütze fänden, alle Aussichten für das Zustandekommen des Vertrages vereitele. Belgien würde damit die von uns versprochene Zahlung von 5 Milliarden Francs endgültig verlieren und dagegen nichts anderes haben als 6 Milliarden wertlose Mark und ein paar Hundert Millionen Erlös aus dem deutschen Eigentum, wovon noch die sehr hohen Unkosten einer langwierigen Verwertung abgehen würden.

[980] Delacroix konnte gegen meine Ausführungen nichts einwenden. Er wurde ganz kleinlaut und fragte, ob denn Aussicht auf Zustandekommen des Abkommens sei, wenn Belgien in den Hauptstreitpunkten nachgebe. Das habe ich als wahrscheinlich bezeichnet. Ich bin überzeugt, daß Delacroix, der heute nach Brüssel gefahren ist, die Sache mit Theunis ernstlich besprechen wird. Als ich darauf hinwies, daß inzwischen die Fortsetzung der Liquidation, insbesondere des Grundstücks der Deutschen Bank, für die Wiederaufnahme der Verhandlungen hinderlich sei, machte er eine Miene, die deutlich besagte, das wird ja nicht so heiß gegessen, die sofortige Liquidation ist mehr eine Drohung.

Den gleichen Bericht habe ich an den Herrn Reichsfinanzminister gesandt.

Mit besten Empfehlungen

Ihr sehr ergebener

Bergmann

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