1.138 (ma12p): Nr. 350 Der Reichswehrminister an die Reichskanzlei. 7. November 1924

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[1160] Nr. 350
Der Reichswehrminister an die Reichskanzlei. 7. November 1924

R 43 I /1017 , Bl. 176f

[Veröffentlichung der Sachverständigengutachten des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die militärischen Operationen im Jahre 1918.]

Der 4. Unterausschuß des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses beabsichtigt, wie ich höre, die Drucklegung und Veröffentlichung der Gutachten der Sachverständigen in der Frage der militärischen Operationen 19181.

1

Gemeint sind die Gutachten von General a. D. v. Kuhl, Oberst a. D. Schwertfeger und Prof. Delbrück, die im 4. Unterausschuß des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses erstattet wurden (vgl. Anm. 4: Schreiben Fischers an Spahn vom 13. 11. ). Der 4. Unterausschuß hatte die Aufgabe, die Ursachen für den dt. Zusammenbruch im Jahre 1918 zu untersuchen.

Diese Gutachten der militärischen und zivilen Sachverständigen stehen sich in vielen Punkten gegenüber. Der Kommissar des Reichswehrministeriums beim Parlamentarischen Untersuchungsausschuß2 hat mir gemeldet, daß nach seinem pflichtmäßigen Ermessen die Gutachten der zivilen Sachverständigen schwerwiegende Lücken enthalten, daß das für eine objektive und abschließende Urteilsbildung erforderliche Aktenmaterial nicht genügend erforscht und verwendet sei und dementsprechend Schlußfolgerungen gezogen seien, die den historischen Vorgängen nicht entsprechen. Die militärischen Sachverständigen haben sich bemüht, in den einzelnen Sitzungen die irrigen Voraussetzungen und Unterlagen der zivilen Sachverständigen zu widerlegen.

2

Oberstlt. Otto v. Stülpnagel.

Diese Verhandlungsberichte sollen bei Herausgabe der Gutachten nicht mit veröffentlicht werden, wodurch in der Öffentlichkeit der Anschein erweckt werden muß, daß die Gutachten der zivilen Sachverständigen unwiderlegt blieben.

Der 4. Unterausschuß hat sich für Abgabe eines Votums als inkompetent erklärt, das sonst in jedem Falle die Arbeiten des Parl. Untersuchungsausschusses abschließen soll. Sozialistische Mitglieder haben erklärt, die militärischen Fragen auch nach umfangreichster Darlegung durch die Sachverständigen nicht verstehen und dementsprechend kein Urteil abgeben zu können.

Somit erhält auch infolge des Fehlens eines Votums die Öffentlichkeit kein Bild, wie die einzelnen Gutachten der Sachverständigen zu bewerten sind.

Namentlich der Sachverständige Professor Delbrück hat in seinem Gutachten fortgesetzt scharfe Angriffe gegen den General Ludendorff und seine militärische Tätigkeit und überhaupt gegen die Tätigkeit der OHL im Jahre 1918 gerichtet.

Fehlt ein Votum, fehlen ferner bei der Veröffentlichung die Verhandlungsberichte, in denen, wie gesagt, den zivilen Sachverständigen militärische gegenübertreten, so müssen zwangsläufig in der Öffentlichkeit gänzlich irrige[1161] Anschauungen entstehen. Jede Partei wird die ihr genehmen Gutachten parteipolitisch auszuschlachten suchen. Bei dieser Sachlage entstehen folgende schwerwiegende Nachteile.

1. Der amtlichen, durch das Reichsarchiv zu bearbeitenden Veröffentlichung über den Weltkrieg wird vorgegriffen3. Die deutsche Öffentlichkeit wird über die Vorgänge im Jahre 1918 falsch orientiert und dementsprechend voreingenommen den späteren amtlichen Darlegungen des Reichsarchivs gegenübertreten.

3

Der erste Band der im Reichsarchiv bearbeiteten Darstellung „Der Weltkrieg 1914 bis 1918“ erscheint 1925.

2. Das Ausland wird die die OHL verurteilende Anschauung der zivilen Sachverständigen mit Vergnügen aufgreifen und sofort propagandistisch ausnutzen. Damit setzen sich auch im Ausland Anschauungen über die deutsche Kriegführung fest, die der Wirkung der späteren amtlichen Darstellung sehr abträglich sein können. Diese Wirkung wird um so unangenehmer sein, als das demnächst erscheinende französische Generalstabswerk sicherlich eine einzige Gloriole der französischen Armee und Führung bilden wird.

3. Das Ansehen Deutschlands erfordert eine völlig objektive Darlegung der Geschehnisse des Weltkrieges aus wirklich sachverständiger, das Material in vollem Umfange benutzender und erschöpfender Feder. Diese objektive, einwandfreie Beurteilung der Geschehnisse ist auch grundlegendes Material für die weitere Ausbildung des Offizierkorps und der Reichswehr. Insofern werden bei einer Veröffentlichung unvollkommener Gutachten auch die militärischen Belange der Reichswehr stark geschädigt.

4. Schließlich darf noch darauf hingewiesen werden, daß bei der Veröffentlichung der Gutachten in der geplanten Form sicherlich sofort ein starker Federkrieg aller beteiligten Militärs in der Presse einsetzen wird, was schon aus innerpolitischen Gründen höchst unerwünscht ist.

Nach alledem halte ich ein Verbot der Veröffentlichung der Gutachten des 4. Unterausschusses aus staatspolitischen Gründen für notwendig.

Wenn der 4. Unterausschuß nicht in der Lage war, ein Votum abzugeben, ist es auch zwecklos, die sich gegenüberstehenden Gutachten herauszugeben.

Im übrigen wird das amtliche Werk des Reichsarchivs später diese rein militärischen Fragen nach jeder Richtung hin einwandsfrei klären und dem deutschen Volke darlegen.

Ich halte die baldige Herbeiführung eines Kabinettsbeschlusses in dieser Angelegenheit für erforderlich4.

4

In einem für den RK bestimmten Randvermerk vom 8. 11. empfiehlt MinDir. Kempner, „die Frage in einer Ministerbesprechung unter Zuziehung des Generals v. Seeckt zu besprechen, ohne daß eine Vervielfältigung dieses Schreibens erfolgt“. Die Angelegenheit wird in der Kabinettssitzung vom 12. 11. behandelt (Dok. Nr. 354, P. 4).

In einem Schreiben des Generalsekretärs des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Fischer vom 13. 11. an Spahn heißt es: „In Ausführung des letzten Beschlusses des 4. Unterausschusses von der vorletzten Wahlperiode (in der letzten Wahlperiode hat sich der 4. Unterausschuß nicht konstituiert) sind die Vorbereitungen für die Drucklegung soweit gefördert, daß wir die Gutachten der Herren v. Kuhl, Schwertfeger und Delbrück nunmehr herausbringen können. […] Gegen die Veröffentlichung dieser Gutachten hat nun der RWeM beim RKab. Verwahrung eingelegt. Die Tatsache, daß das geschehen ist, wurde vom Kommissar des RWeMin. Oberstlt. Otto von Stülpnagel dem Untersuchungsausschuß mitgeteilt. Gründe sind in dem Schreiben nicht genannt.“ Prof. Schücking habe sich als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses mit der Rkei in Verbindung gesetzt und erfahren, „daß der Protest von General v. Seeckt ausgeht und damit begründet wird, daß im nächsten Jahre die Edition des frz. Generalstabswerkes zu erwarten ist und daß vermieden werden soll, den Franzosen durch Veröffentlichung der dt. Gutachten Stoff zur Kritik der dt. Heerführung zu liefern“. In einer telefonischen Unterhaltung mit Fischer habe General v. Kuhl gesagt, daß diese Befürchtung nicht zutreffe. „Die frz. Militärkritik beziehe ihre Einwände gegen die Oberste Heeresleitung vorwiegend, um nicht zu sagen ausschließlich, aus den Veröffentlichungen von Hans Delbrück, hauptsächlich aus der Broschüre ‚Ludendorffs Selbstporträt‘. Was Delbrück in seinem Gutachten, dessen Veröffentlichung in Betracht komme, ausführe, sei nichts anderes als die Wiederholung dessen, was er in der genannten Schrift und sonst schon gesagt habe. Dagegen stelle das Gutachten von Kuhl in Widerlegung der Thesen Delbrücks eine Rechtfertigung der Obersten Heeresleitung dar. Werde also das Gutachten von Kuhl und von Schwertfeger (das m. E. in ähnlichem Sinne wirken muß, wie das Kuhlsche) verhindert, so bleibe auch fernerhin die Delbrücksche Kritik unwidersprochen und bilde die Grundlage der Einwände des Auslandes gegen die frühere O.H.L.“ Außerdem habe v. Kuhl geltend gemacht, daß es noch viele Jahre dauern könne, bis das frz. Generalstabswerk mit den Bänden über die Offensive von 1918 herauskomme, die auch den Gegenstand der Gutachten von Kuhl, Schwertfeger und Delbrück bilde. „Sollte der Untersuchungsausschuß mit der Veröffentlichung der Gutachten solange warten müssen, so hieße das, diese Gutachten überhaupt nicht verwerten. Dieses Verfahren wäre umso seltsamer, als die ersten Teile der genannten Gutachten schon im Jahre 1922 als Reichstagsdrucksachen erschienen sind. Endlich und nicht zuletzt kommt in Betracht, daß Geheimrat Delbrück kategorisch erklärt hat, mit seinem Kampf gegen Ludendorff in kürzester Zeit erneut an die Öffentlichkeit zu gehen. […] Erneut käme nur der schärfste Gegner Ludendorffs in der Kritik der früheren O.H.L. zu Worte, nicht aber die, wenn auch von kritischen Einwänden begleitete, so doch ganz auf wohlwollendes Verstehen gerichtete Rechtfertigung von Ludendorffs Strategie durch Kuhl. […] Herr Prof. Schücking läßt mich durch Eure Exzellenz bitten, die oben entwicklten Gesichtspunkte, wenn Eure Exzellenz denselben zustimmen, privatim dem Herrn RK so schnell, wie es möglich ist, zur Kenntnis zu bringen.“ (R 43 I /1017 ).

Mit diesem Schreiben Fischers setzt sich Seeckt in einem Schreiben vom 20. 11. an die Rkei im einzelnen auseinander. Seeckt führt u. a. aus: Fischer träfe nicht den „Kern der Sache“, der von ihm angegebene Grund für den Antrag des RWeMin. sei „nicht der entscheidende, sondern nur mitbestimmend“. Zu dem von Fischer angeführten Punkt bemerkt Seeckt: „Das propagandistisch eingestellte Ausland, besonders Frankreich, würde auch trotz der Gutachten der militärischen Sachverständigen das ihm gelegen kommende und für seine Zwecke vorteilhafte Gutachten des Prof. Delbrück ausnutzen. […] Sollte Herr Geh.Rat Delbrück trotz eines Verbotes durch das RKab. unter Nichtachtung der von mir und dem Kabinett als vorliegend erachteten staatspolitischen Interessen an die Öffentlichkeit herantreten, so fällt ihm allein die Verantwortung dafür zu. Ich kann mir aber nicht denken, daß ein an sich national denkender Mann von Ruf sich über das Urteil des RKab. und über die wohl erwogenen Gründe der Reichsstellen einfach hinwegsetzen und somit bewußt seinem Lande schweren Schaden zufügen wird, geleitet einzig und allein von dem Willen, einen im politischen Leben kaum noch eine große Rolle spielenden Feldherrn zu diskreditieren. Es scheint mir aber dringend geboten, auf Herrn Geh.Rat Delbrück, unter Appell an sein nationales Empfinden, mit allen Mitteln einzuwirken, von einem evtl. derartigen Vorgehen abzusehen. Sein Vorgehen würde nur, wie auch sein Gutachten, einen unerhörten Federkrieg heraufbeschwören, was keineswegs im Interesse Deutschlands liegt.“ (R 43 I /1017 ).

In einem Schreiben vom 26. 11. an MinDir. Kempner kommt Oberstlt. v. Stülpnagel nochmals auf die „Angelegenheit Delbrück“ zurück. Entgegen den methodischen Richtlinien des Untersuchungsausschusses sei „das Gutachten des Sachverständigen Professor Delbrück nicht in leidenschaftsloser Sachlichkeit abgefaßt, wie seine zahlreichen unerhörten Angriffe persönlicher Art und Werturteile über den General Ludendorff und die O.H.L. erweisen. [.. .] Bei dieser Sachlage werden Sie es erst recht verstehen, daß ein solches Gutachten, das schon formale Verstöße in sich trägt, der Öffentlichkeit nicht unterbreitet werden darf. In dem Gutachten Delbrücks erblicke ich persönlich im wesentlichen eine Tendenzschrift gegen den General Ludendorff und die O.H.L.“ (R 43 I /1017 ).

In Vertretung des Reichswehrministers

v. Seeckt

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