1.200 (mu22p): Nr. 456 Aufzeichnung über die Besprechung von Vertretern der Landwirtschaft mit dem Reichskanzler betr. die Notlage der Landwirtschaft am 28. Februar 1930

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Nr. 456
Aufzeichnung über die Besprechung von Vertretern der Landwirtschaft mit dem Reichskanzler betr. die Notlage der Landwirtschaft am 28. Februar 19301

1

Die Aufzeichnung datiert vom 3.3.30.

R 43 I /2542 , Bl. 247-249, hier: Bl. 247-249

Unter dem Vorsitze des Reichskanzlers und unter Beteiligung des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft und des Staatssekretärs in der Reichskanzlei fand am 28. Februar vormittags 12 Uhr eine Besprechung mit Präsident Brandes, den Reichsministern a. D. Hermes und Schiele sowie dem bayerischen Landwirtschaftsminister Fehr statt. Die Vertreter der Landwirtschaft wiesen übereinstimmend auf die große Gefahr einer Radikalisierung des Landvolkes durch die Steigerung seiner Notlage hin. Besonders im Osten sei diese Bewegung bereits bedrohlich. Die schwarzen Fahnen zeigten es an. Aber auch im Westen und in Bayern hätten die Preisstürze auf dem Markte der Agrarprodukte in letzter Zeit die Stimmung außerordentlich verschlechtert. Den Führern der großen Spitzenverbände werde es immer schwerer, ihre Gefolgschaft zu erhalten. Im Westen bestehe die Gefahr, daß sich wieder Winzerunruhen vorbereiten.

Die Landwirtschaftsvertreter baten deswegen übereinstimmend, ein Ermächtigungsgesetz für die Reichsregierung anzustreben, nach dem diese in der Lage sei, rasch die erforderlichen durchgreifenden Maßnahmen im Innern und im[1510] Verkehr mit dem Auslande zur Stützung der landwirtschaftlichen Preise durchzuführen.

Es wurde anerkannt, daß die Reichsregierung sich bemüht habe, durch vielseitiges Eingreifen die Not der Landwirtschaft zu lindern, insbesondere ihre Preise zu heben. Die Maßnahmen kämen aber meist zu spät. Bei dem raschen Wechsel der Verhältnisse müsse eine starke Beweglichkeit in der Abwehr übermäßiger Schwierigkeiten möglich sein.

Im Einvernehmen mit den anderen Führern der Gründen Front bat Minister Schiele um baldige Einberufung einer Besprechung mit 12–15 hervorragenden Führern der Landwirtschaft, in der die Möglichkeiten und Grenzen eines Ermächtigungsgesetzes besprochen werden sollen.

Der Reichskanzler und der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft sagten zu, daß diese Besprechung alsbald einberufen werden würde. Die Teilnehmer solle Minister Schiele benennen.

Inzwischen ist vorgesehen, die Besprechung am Mittwoch, den 5. März vormittags beginnen zu lassen2.

2

Siehe Dok. Nr. 463 und 464.

Im einzelnen führten die Landwirtschaftsvertreter noch folgendes aus:

Nach Ansicht von Präsident Brandes ist die besondere Notlage in Ostpreußen zum guten Teil mit darauf zurückzuführen, daß die benachbarten Gebiete Polens unter wesentlich günstigeren Bedingungen produzieren. Steuern und Löhne belasteten die Erzeugung etwa nur halb so sehr wie in Deutschland.

Die gesamte Landwirtschaft Westeuropas werde durch die starke Steigerung der Getreideerzeugung in Kanada und Australien bedroht. Neue Methoden und Sorten ermöglichen eine fast unbegrenzte Steigerung der Produktion. Dabei werde auf die Absatzfähigkeit der Ware keine Rücksicht genommen.

Die Erzeugung sei dort wesentlich billiger als in Westeuropa wegen der extensiven Bewirtschaftung der enormen Flächen. Auch Frankreich fühle sich so bedroht, daß es die Regierung zu Schutzmaßnahmen ermächtigt habe.

Reichsminister a. D. Hermes stellte in Aussicht, daß der Einheitsverband der Genossenschaften alsbald hinsichtlich einer starken Steigerung der Selbsthilfe Vorschläge machen werde, insbesondere für die Verbesserung der Qualitäten und des Absatzes. Für jede innerwirtschaftliche Maßnahme aber sei die Abdämmung der Auslandskonkurrenz notwendige Voraussetzung des Erfolges. Insbesondere der Weizenzoll müsse weiter wesentlich erhöht werden. Es sei möglich, die Einfuhr von Weizenmehl von 2 auf 1 Million Tonnen herabzudrücken. Dadurch würde der Anreiz zum stärkeren Weizenanbau auf Kosten des Roggens gegeben.

Die parlamentarischen Aussichten für die Erlangung eines Ermächtigungsgesetzes im Sinne der Vorschläge der Grünen Front beurteilte er wenig günstig. Auch hinsichtlich der Durchführung des Beimahlungszwanges für Roggen trug er Bedenken3.

3

Siehe Dok. Nr. 443, P. 2.

Reichsminister a. D. Schiele hielt die neueste Roggenstützungsaktion der Reichsregierung für wenig aussichtsreich. Die zur Verfügung gestellten 20 Millionen[1511] seien zu gering. Er wies auf die starke Stützung der ausländischen Konkurrenz im Schlachtvieh durch die Ausfuhr billigen deutschen Roggens hin. Die Dänen könnten den Doppelzentner Schweine für 30 RM herstellen, während in Deutschland 65 RM erforderlich seien.

Die Kartoffelernte sei nicht unterzubringen. Die Einfuhr müsse erschwert werden.

Besonders eindringlich wies er darauf hin, daß es notwendig sei, die Landwirtschaft wieder hinter die Regierung zu bringen, um ein gemeinschaftliches Arbeiten zu ermöglichen.

Minister Fehr schilderte die Schwierigkeiten, die im Allgäu durch den Rückgang der Milch- und Butterpreise sowie die Konkurrenz des billigen ausländischen Käse entständen. Der Aufkauf des Roggens durch die Reichsregierung brächte Süddeutschland keine Erleichterung. Braugerste sei nicht mehr verkäuflich. Die Brauereien hätten sich auf etwa 1 Jahr mit ausländischer und inländischer Gerste eingedeckt.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft nahm im einzelnen zur Lage Stellung. Er wies auf die außerordentlichen Schwankungen und Preisstürze am Weltmarkt hin. Mehr als die Hälfte des Roggens, der jetzt in Deutschland umgesetzt werde, müßte von der öffentlichen Hand aufgekauft werden, wenn sich die Lage so weiter entwickele, wie sie sich in letzter Zeit herausgestellt habe. Im Besitze des Reichs sei bereits etwa ½ Million t Roggen. Er habe gehofft, durch die Aufkäufe den Preis zu heben. Es sei aber nur gelungen, ihn auf etwa 163 RM zu halten. Wenn die Anfuhr in den nächsten Monaten nach Berlin weiter so stark wäre wie bisher, würden außerordentliche Schwierigkeiten entstehen.

Die Gersteeinfuhr sei wegen der Zollerhöhung vor ihrem Inkrafttreten außerordentlich groß gewesen. Beim Weizen hoffe er mit dem Vermahlungszwang durchzukommen. Den Gerstenzoll möchte er beweglich gestalten. Er erhoffe dadurch auch eine günstige Wirkung auf den Roggenpreis.

Hinsichtlich der Schweinepreise sehe er keine Gefahr. Nötigenfalls könnten mit Hilfe des Einfuhrscheines einige 100 000 Stück auf den Weltmarkt gebracht werden.

Die Milch-, Butter- und Käsefrage betrachte er zu 90% als eine Frage der Organisation. Das Schicksal des Finnenvertrages sei ungewiß. Das Kabinett werde nochmals Stellung nehmen. Freiwillig gäbe Finnland den Käsezoll nicht auf4.

4

Zu den Handelsvertragsverhandlungen mit Finnland siehe Dok. Nr. 467, P. 5.

Der Vorschlag Caro wegen der Beimahlung von 60% Roggenmehl begegne großen Schwierigkeiten. Für Krankenbrot, für Kinder, Haushalt, Kuchen und ähnliches müßten Ausnahmen gemacht werden. Zur Durchführung wäre ein ungeheuerer Apparat erforderlich. Vielleicht könne das Brotgesetz dahin verschärft werden, daß neben dem reinen Roggenmehl Mischmehl in den Verkehr zu kommen habe, das zu 20% aus Roggen, 40% inländischem und 40% ausländischem[1512] Weizen bestehen müsse. Das würde für Kinder, Kranke und Haushaltszwecke ausreichen5.

5

Zu den Vorschlägen Caros siehe Anm. 6 zu Dok. Nr. 443. Nach der Ministerbesprechung am 28. 2. besichtigten die Kabinettsmitglieder Brote, die nach Caros Vorschlägen gebacken worden waren. Ein Beschluß wurde nicht gefaßt (Vermerk von MinR Vogels vom 6. 3.; R 43 I /2542 , Bl. 220, hier: Bl. 220). Nachdem die Fraktionen übereinstimmend den Beimahlungszwang abgelehnt hatten, zog der REM seine entsprechende Vorlage zurück (Vermerk von MinR Feßler vom 19. 3.; R 43 I /2542 , Bl. 221, hier: Bl. 221).

Ein radikales Mittel zur Stützung des Getreidemarktes wäre eine Abgabe von 10 M für den Doppelzentner Weizen bei Ablieferung an die Mühle. Dadurch würden etwa 400 Millionen RM aufkommen, die der produktiven Erwerbslosenfürsorge zugeführt werden könnten. Der Roggenpreis würde steigen. Für den Reichshaushalt wären günstige Wirkungen zu erwarten. Hierzu erklärte Präsident Brandes, daß es grundsätzlich nicht möglich sein werde, die Landwirtschaft dauernd mit Liebesgaben zu versehen. Auch große Summen würden verzettelt und dadurch wirkungslos verbraucht. Durch richtige Anwendung eines Ermächtigungsgesetzes und Heraufsetzung der Zölle nach Lage der wechselnden Notwendigkeiten würde der Landwirtschaft und den Reichsfinanzen geholfen.

F[eßler]

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