2.24 (bau1p): Nr. 23 Reichswirtschaftsminister Wissell an den Reichspräsidenten. 12. Juli 1919

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[102] Nr. 23
Reichswirtschaftsminister Wissell an den Reichspräsidenten. 12. Juli 1919

R 43 I /926 , Bl. 21–25 Abschrift1

1

Vom Büro des RPräs. dem RMinPräs. am 13. 7. mit der Bitte um Vorlage einer gegengezeichneten Entlassungsurkunde übersandt (R 43 I /926 , Bl. 20). – Ein von Wissell gezeichneter Entw. des Gesuchs befindet sich im Nachl. Wissell , XIV/10616–10618; Vorentwürfe von UStS von Moellendorff und GehRegR Trendelenburg, ebd., IV/3391 und 3392.

[Betrifft: Rücktrittsgesuch des Reichswirtschaftsministers.]

Herr Präsident!

Das Kabinett hat aus Anlaß der Beantwortung der Interpellation Arnstadt und Genossen und Heinze und Genossen2 zu den unter [den] Begriff „Planwirtschaft“ zu stellenden Fragekomplexen Stellung genommen3. Die Entscheidung ist gegen mich gefallen. Ich habe am gleichen Tage dem Vorstand der sozialdemokratischen Fraktion der deutschen Nationalversammlung davon Kenntnis gegeben. Ich wurde sofort gebeten, irgendwelche Entschließungen nicht früher zu treffen, bis die Fraktion selbst zu den Fragen habe Stellung nehmen können4. Das ist am 10. und 11. Juli geschehen. Das Ergebnis ist kein solches, daß ich mit meiner Überzeugung vereinbaren könnte, noch weiter das Reichswirtschaftsministerium zu leiten5. Ich bitte daher, mich von dem Amte als Reichswirtschaftsminister entbinden zu wollen.

2

Vgl. Dok. Nr. 19 a und b.

3

Einzelheiten s. Dok. Nr. 20, TOP 4 nebst Anlage.

4

Vgl. Prot. SPD-NatVers.-Fraktion vom 9.7.19.

5

In der SPD-Fraktionssitzung vom 10. 7. legte RMinPräs. Bauer nach einem Referat Wissells dar, daß die von ihm geführte RReg. „eine weitgehende Vollsozialisierung einzelner Industriezweige beabsichtige“. Die Parteigenossen im RKab. seien also keineswegs Gegner einer Sozialisierungspolitik. Sie wollten nicht die Privatwirtschaft stärken, sondern handelten in ihren Bestrebungen mehr im Sinne des sozialdemokr. Parteiprogramms und im Dienste der Arbeiterschaft, als dies Wissell mit seinen Vorschlägen vermöge. Gegen diese Vorschläge führte RIM David auch an, daß sie nicht nur in ein wirtschaftliches, sondern auch in ein politisches Chaos führten, da auf ihrem Boden keine Mehrheitsreg. zu bilden sei. Nachdem andere Redner für Wissell Stellung bezogen hatten, ging von der Fraktion die Initiative zu einem Vermittlungsversuch bei Wissell aus, „da allerseits großer Wert auf sein Verbleiben im Amt“ gelegt wurde. Als Wissell auf der Annahme seines Antwortentw. zu der Interpellation Arnstadt und Genossen bestand, war sich die SPD-Fraktion am 11. 7. in ihrer Abendsitzung darüber einig, daß angesichts der Art und Weise, wie Wissell seine Sache vertrete, eine Einigung mit ihm „nicht mehr gut möglich“ sei (Prot. der SPD-NatVers.-Fraktion vom 10. und 11.7.19).

Die von mir seit der Übernahme des Reichswirtschaftsministeriums verfolgte Wirtschaftspolitik ist von Anbeginn einheitlich bis zum letzten Augenblick gewesen. Ehe ich noch überhaupt das Wirtschaftsministerium – wie ich nicht in Erinnerung zurückzurufen brauche auf das Drängen meiner Fraktion – in Berlin übernommen habe, bin ich von Vertretern der deutschen Presse nach den Grundsätzen der von mir beabsichtigten Wirtschaftspolitik gefragt worden. Ich habe darauf eine schriftliche Antwort erteilt, und sie ist unter dem 15. Februar durch die Presse gegangen6. Ich dachte, daß es einer planvollen Zusammenfassung aller Kräfte, einer Einordnung der verschiedenen Wirtschaftsverfahren[103] in die Gesamtwirtschaft Deutschlands bedürfe, um aus dem Zusammenbruch heraus zu neuem Leben zu gelangen. Von diesem, meiner Überzeugung entsprechenden Grundgedanken bin ich bei der Amtsführung ausgegangen. Ich habe aus diesem, meinem Grundgedanken nie ein Hehl gemacht. Ich habe die Richtlinien der für richtig gehaltenen Wirtschaftspolitik im Wirtschaftsausschuß der Nationalversammlung am 5. März zum Vortrag gebracht7. Ich habe diesen Grundgedanken vertreten bei der parlamentarischen Beratung des Sozialisierungsgesetzes und bei der Erörterung der Handwerker-Interpellation8. Ich habe sie vertreten in einer Rede vor den Hamburger Kaufleuten Ende April und vor den Berliner Industriellen und Kaufleuten Anfang Juni9. Irgendwelche Kritik ist mir von meinen eigenen Parteigenossen, abgesehen von gelegentlichen Randbemerkungen, nicht entgegengetreten. Ich mußte umsomehr glauben, daß meine Parteigenossen hinter mir stünden, als noch auf dem sozialdemokratischen Parteitag der jetzige Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei erklärt hat, daß die Partei geschlossen hinter meiner „Planwirtschaft“ stünde, und selbst der Parteitag einen Antrag annahm, der diesen meinen Grundgedanken durchaus gerecht wurde10. Die Auffassung hat sich recht schnell bei meinen Parteifreunden gewandelt. Ich muß die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen.

6

Abgedruckt bei Rudolf Wissell: Praktische Wirtschaftspolitik. S. 18 f.

7

Ebd., S. 19 ff.

8

Ebd., S. 28 ff. und 45 ff.

9

Ebd., S. 53 ff. und 77 ff.

10

Auf dem vom 10.–14. 6. in Weimar stattfindenden SPD-Parteitag war es zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen den Ministern Wissell, David und Schmidt über die Wirtschaftspolitik der RReg. gekommen. Der Parteivorsitzende Hermann Müller hatte dazu erklärt, daß die SPD selbstverständlich für die Gemeinwirtschaft eintrete; ob aber gerade Wissells Pläne die richtigen seien, bedürfe noch einer Klärung. Zum Ablauf des SPD-Parteitages und seinen wirtschaftspolitischen Ergebnissen s. das „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD in Weimar 1919“, Berlin 1919, S. 363 ff.

Einen organisatorischen Aufbau des Wirtschaftslebens Deutschlands hielt ich nur möglich, wenn dieser Aufbau in einem Geiste von den Wirtschaftern erfolgte, der die allgemeinen Interessen über die Einzelinteressen stellt und der alle Teile des schaffenden Volkes, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Industrie und Landwirtschaft zu gemeinsamer Arbeit in treuer Pflichterfüllung der Gesamtheit gegenüber zusammenbringt. Ich habe von den Pflichten, die der einzelne zu erfüllen hat gesprochen und diese sozialen Pflichten der Gesamtheit gegenüber in klarer Weise im Eingang des Sozialisierungsgesetzes besonders scharf betont11.

11

Siehe dazu § 1 des Sozialisierungsgesetzes vom 23.3.19: „Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert. Die Arbeitskraft als höchstes wirtschaftliches Gut steht unter dem besonderen Schutze des Reichs. Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. Das Nähere wird durch besondere Reichsgesetze bestimmt“ (RGBl. S. 341 ).

Ich wußte, daß es noch immer unpopulär ist, von Pflichten zu sprechen und aus Pflichten, die wir erkennen, die Folgerung zu ziehen, das zu tun, was uns die Pflicht aufgibt. Mein Mahnruf zur Pflichtgebundenheit hat nicht überall[104] die Wirkung gehabt, die ich im Interesse unseres gesamten Volkes gewünscht hatte. Ich hatte geglaubt, daß die furchtbare Lage, in der sich Deutschland befindet, im Volk und in allen seinen Führern die sittliche Kraft erwachsen lassen würde, um in ernstester Arbeit an sich und der Gesamtheit in treuem und einträchtigen Zusammenstehen aller Teile des Volks den Weg zu einem neuen Leben zu suchen und zu finden. Hierin habe ich mich weniger beim wirtschaftenden Volk als bei den politischen Führern getäuscht gesehen. Ich halte es für ausgeschlossen, daß zur Zeit mein Programm, die Pflicht des einzelnen gegenüber der Gesamtheit, von mir gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften durchgeführt werden kann. Um deswillen halte ich es für ausgeschlossen, weil doch auch noch heute zu wenige Neigung zeigen, für länger als für einige Wochen hinaus zu denken und Entschließungen zu fassen. Nichts hat mich so sehr erschüttert, als die Tatsache, daß man meinen Plan, den Plan eines Mannes, dem tiefstes Eindringen in die Probleme der Zeit und vollste Aufrichtigkeit oberstes Bedürfnis ist, so kurzer Hand hat abgetan. Ich bin in klarer Erkenntnis der gegenwärtigen Not und der Wege, die allein aus ihr heraus führen können, der Parteipolitik vorangeeilt. Die gegenwärtigen Politiker lehnen mich ab, weil sie das Problem, das Deutschland lösen muß, noch nicht begriffen und innerlich noch nicht fertig sind mit dem Problem der sozialen Revolution, in der wir uns noch immer befinden.

Ich erhebe nicht den Anspruch, daß mein Plan der allein und ausschließlich richtige ist, aber irgendwelche anderen programmatischen Forderungen sind mir nicht entgegengestellt. Ja, ich habe die Überzeugung gewonnen, daß manchem politischen Führer zur Zeit eine programmatische Forderung an sich unbequem ist. Das mag eine natürliche Folge der heutigen Lage sein, aber sie ist nicht für ein Amt zu ertragen, in dem eine weit vorausschauende Politik getrieben werden muß.

Wenn ich unter diesen Umständen aus dem Kabinett ausscheide, so wird dieser Entschluß durch die Beobachtung gestärkt, daß es mir zu meiner Freude allmählich zwar gelungen ist, weite Kreise der produktiven Bevölkerung mit meinem Vorschlage zugunsten der Gemeinwirtschaft aufzurühren, daß ich aber nur im Vollbesitz von Vollmachten und politischer Rückendeckung an die Praktik des organisatorischen Aufbaues herantreten kann. Meine Absicht war es, so wie es meine Stellung mit sich brachte, zwischen dem Drängen der produktiven Wirtschafter nach Selbstverwaltung und dem Festhalten der Politiker an hergebrachten Regierungsformen zu vermitteln. Dazu gehört jedoch in den entscheidenden Monaten, die vor uns liegen, ein Mann, den das Vertrauen auf beiden Seiten stützt. Nachdem mich meine Kollegen im Kabinett und in der Partei im Stich gelassen haben, wird zwar die Bewegung der produktiven Wirtschafter stillstehen, aber an ihre Spitze mag sich besser außeramtlich ein freier Führer, als inneramtlich ein überstimmter Minister stellen. Ich jedenfalls habe keine Neigung, die große, doch kommende Reform dadurch zuzudecken, daß ich sie mit gefesselten Händen zu lenken versuche12.

12

Eine ausführliche Darstellung der über den Rahmen des RKab. hinausreichenden Bemühungen Wissells und seiner Mitarbeiter, das Gemeinwirtschaftsprogramm im Sommer 1919 durchzusetzen, gibt Michael W. Honhart: The Incomplete Revolution – The Social Democrat’s Failure to Transform the German Economy, 1918–1920 und Eckhard Biechele: Der Kampf um die Gemeinwirtschaftskonzeption des Reichswirtschaftsministeriums im Jahre 1919. Neben diesen Arbeiten bleibt die Heidelberger Dissertation von Hans Schieck: Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novembersturz 1918. Phil. Diss. Heidelberg 1958 grundlegend.

[105] Zu meinem Bedauern beabsichtigt auch mein Unterstaatssekretär13 das Wirtschaftsministerium zu verlassen. Ich habe ihn gebeten, meinem Nachfolger bei der Einführung in das Amtsgeschäft behilflich zu sein und in den nächsten Tagen das Amt selbst zu führen.

13

Wichard von Moellendorff. Über Moellendorffs wirtschaftspolitische Vorstellungen und seine Beziehungen zu Wissell s. u. a. Dieter Schmid: Wichard von Moellendorff. Ein Beitrag zur Idee der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Phil. Diss. Berlin 1969.

Damit keine wilden Gerüchte um sich greifen, habe ich das Schreiben zugleich an die Presse gegeben14. Genehmigen Sie die Äußerung ganz vorzüglicher Hochachtung.

14

Veröffentlicht u. a. in der „Vossischen Zeitung“ Nr. 352 vom 14.7.19 (Ausschnitt in: R 43 I /926 , Bl. 26). Amtlich wird der Rücktritt Wissells und die Übernahme des RWiMin. durch den gleichzeitig mit der kommissarischen Leitung des REMin. betrauten SPD-Minister Schmidt noch am 12. 7. bekanntgegeben (Vorwärts Nr. 353 vom 13.7.19); weitere Unterlagen dazu in: R 43 I /926 . Die Versuche der SPD-Fraktion, einen – heute nicht mehr zu ermittelnden – „Genossen aus der Hamburger Produktion“ als RWiM zu gewinnen, scheitern (Prot. SPD-NatVers.-Fraktion vom 14.7.19). Nach dem Ausscheiden Wissells aus dem Ministeramt gelangt ein SPD-Flugblatt unter der Schlagzeile „Sozialismus gegen Planwirtschaft“ zur Verteilung, in dem der oder die unbekannt gebliebenen Verfasser Wissell unterstellten, seine wirtschaftspolitische Konzeption führe zur Verewigung des Kapitalismus und diene nur dazu, die „Haut der Konsumenten in Riemen zu schneiden“ (Abdruck bei Rudolf Wissell: Praktische Wirtschaftspolitik. S. 135 ff.). Weitere Einzelheiten dazu bei Biechele, a.a.O. (Anm. 12), S. 206 ff.

gez. Wissell.

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