2.38.1 (bru1p): 1. Bericht über die Genfer Tagung.

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1. Bericht über die Genfer Tagung.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte zunächst aus, daß er seine erste Teilnahme als Außenminister an den Genfer Verhandlungen1 dazu benutzt hätte, sich ein allgemeines Bild von den Völkerbundsarbeiten zu schaffen. Es sei ihm hierbei aufgefallen, daß die personelle Vertretung Deutschlands im Völkerbundssekretariat doch noch recht unbefriedigend sei. Andererseits habe er von den zahlreichen Aufgaben und Arbeiten des Völkerbunds, die in der Presse nicht so im Vordergrund ständen, weil sie nicht in erster[147] Linie politisches Interesse erregten, einen sehr starken Eindruck gewonnen. Er glaube, daß in der deutschen Presse die Bedeutung der humanitären Arbeiten des Völkerbunds doch unterschätzt werde.

1

Die 59. Tagung des VB-Rats fand vom 12.–15.5.30 in Genf statt: Schultheß 1930, S. 439. Ein Bericht des Vortr.LegR v. Weizsäcker über die Tagung befindet sich in R 43 I /495 , Bl. 105–108. Vgl. auch Curtius, Sechs Jahre Minister, S. 153 f.

Die Tagesordnung habe sich diesmal ohne sensationelle Debatten abgewickelt. Bemerkenswert sei das Unterbleiben eines polnischen Vorstoßes gegen die deutsche Zollgesetzgebung. Es erkläre sich wohl daraus, daß die polnische Vertretung sich diesmal in Genf gerade auf wirtschaftlichem Gebiet etwas unsicher gefühlt habe.

Für Deutschland seien naturgemäß wieder die Beschwerden der deutschen Minderheiten in Polen von besonderem Interesse gewesen. Von den vier vorliegenden Beschwerden sei die eine wegen ihrer geringfügigen Bedeutung im allgemeinen Einvernehmen an die lokalen Instanzen verwiesen worden. Eine zweite Beschwerde betraf die Einschulungsfrage, wobei es sich um die Formalitäten der Anmeldung schulpflichtiger Kinder zum deutschen Unterricht gehandelt habe. Durch einen Erlaß der polnischen Regierung, der von Minister Zaleski authentisch interpretiert worden sei, sei nunmehr der Zwang zum persönlichen Erscheinen der Eltern beseitigt, die Anmeldung könne durch Formulare erfolgen, die auch durch Vertreter abgeholt und wieder abgegeben werden könnten2. Verhindert solle nur werden, daß dieses Geschäft für die Eltern der schulpflichtigen Kinder durch den deutschen Volksbund vorgenommen werde. Die Minderheiten schienen sich mit diesem Kompromiß abzufinden. Im September werde dieser Punkt nochmals zur Beratung kommen, nachdem Erfahrungen über die Frühjahrseinschulung gesammelt seien. Auch eine dritte Beschwerde, die ein Prozeßagent eingereicht habe, wegen Entziehung seiner Lizenz bei den Gerichten, sei vertagt worden. Es finde zunächst eine Enquête durch die polnischen Behörden statt. Viertens habe eine Beschwerde von der polnischen Knappschaft entlassener Ärzte vorgelegen. Die für die Entscheidung wichtige Frage, ob die Knappschaft als private oder öffentliche Einrichtung anzusehen sei, soll bis zum September durch ein Juristenkomitee geprüft werden.

2

Der RAM hatte bereits das Ergebnis der Unterredung mit dem poln. Außenminister Zaleski nach Berlin berichtet: Telegramm Del. Nr. 6 vom 13.5.30 in R 43 I /124 , Bl. 245–246.

Im ganzen könne man wohl annehmen, daß die deutsche Minderheit mit den Ergebnissen der Ratstagung einigermaßen zufrieden sei. Es werde wünschenswert sein, daß in den kommenden Jahren die kleineren Einzelbeschwerden möglichst durch unmittelbare Verhandlungen erledigt werden könnten, und daß man den Völkerbund nur mehr mit grundsätzlichen Fragen befasse. Im September werde Gelegenheit sein, eine dieser grundsätzlichen Fragen, nämlich die Auswirkungen der polnischen Agrarreform auf die deutsche Minderheit zur Verhandlung zu bringen. Im ganzen könne man doch wohl sagen, daß das abgeschlossene Liquidationsabkommen das deutsch-polnische Verhältnis günstig beeinflusse3.

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Gemeint ist die dt.-poln. Übereinkunft vom 31.10.29: RGBl. 1930 II, S. 549 .

Bezüglich des Handelsvertrags4 habe Minister Zaleski erklärt, der Sejm werde Ende Mai zusammentreten, es sei aber fraglich, ob er normal arbeiten[148] könne. Außerdem seien die sachlichen Bedenken gegen den Handelsvertrag wegen der neuen deutschen Zölle gestiegen.

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Zum dt.-poln. Handelsvertrag s. Dok. Nr. 20, P. 2.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete, daß er gegen diese Bedenken Stellung genommen habe mit dem Erfolg, daß Zaleski über die Genfer Unterhaltung dem polnischen Kabinett Vortrag halten wolle. Auch in Berlin werde demnächst Gelegenheit sein, bei den Verhandlungen über die polnische Note wegen der Aus- und Einfuhrverbote zu Rücksprachen über den Handelsvertrag zu kommen.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete sodann über seine Besprechungen mit dem französischen Außenminister Briand. Es habe sich als notwendig erwiesen, den deutschen Standpunkt zur Räumungsfrage sehr ernsthaft zum Ausdruck zu bringen, denn Briand habe zunächst noch Vorschläge für Zurücklassung von „Abwicklungskommandos“ pro Regiment über den 30. Juni hinaus gemacht. Als Ergebnis der Aussprache in Genf habe Herr Briand dann aber den Ministerpräsidenten Tardieu veranlaßt, nach weiteren Verhandlungen in Paris mit dem deutschen Botschafter die bekannte Zusage zu machen, daß spätestens am 30. 6. abends die amtliche französische Mitteilung über Vollendung der Räumung gemacht werden würde5.

5

Am 16.5.30 hatte Botschafter v. Hoesch aus Paris berichtet, daß er gegenüber dem frz. MinPräs. Tardieu die „Abgabe einer Erklärung über Einhaltung Räumungsfrist“ verlangt habe. „Schließlich verstand sich Ministerpräsident zu folgender Erklärung: Sofort nach Inkraftsetzung Youngplans werde Räumungsbefehl ergehen. Räumung werde so durchgeführt werden, daß Rückzug Truppen bis 30. Juni vollendet sei“ (Telegramm Nr. 506 vom 16.5.30 in R 43 I /201 , Bl. 45–46). Das offizielle Kommuniqué der frz. Reg. über die Räumung des Rheinlands wurde vom WTB Nr. 986 am 18.5.30 veröffentlicht: R 43 I /201 , Bl. 50.

Hinsichtlich des Bahnschutzes im Saargebiet habe Briand auf Anfrage erklärt, daß dieser selbstverständlich anschließend an die Räumung der dritten Zone zurückgezogen würde.

Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte, daß es sich nicht empfehlen werde, vorläufig auf diese Angelegenheit, die wirklich als ganz zwangsläufig angesehen werden müsse, zurückzukommen.

Wenig erfreulich seien die Verhandlungen über die Flugplatzanlagen in der dritten Zone gewesen, die nach Meinung der französischen Militärbehörden auf Grund des Art. 2026 des Friedensvertrages Eigentum der französischen Militärverwaltung seien und auf Deutschlands Kosten zerstört werden müßten. Nach deutscher Rechtsauffassung gehörten auch diese Fluganlagen unter das Abkommen vom 10. Januar 19307, wonach derartige Anlagen innerhalb von einer Frist von 3 Jahren entweder zerstört oder umgebaut werden müßten. Die Franzosen andererseits nähmen die Flugplätze aus diesem Abkommen als besondere Kategorie heraus. Deutscherseits sei ein Kompromißvorschlag gemacht worden, der auf Erhaltung der Fluganlagen von Lachen-Speyersdorf für Flugzeuge und von Griesheim für Luftschiffe hinziele. Im Falle einer Nichteinigung[149] schlage Deutschland schiedsgerichtliche Entscheidung vor. Ohne Zweifel werde die Botschafterkonferenz das deutsche Kompromiß ablehnen. Deutschland werde dann einen Schiedsspruch beantragen. Die französische Militärverwaltung sei aber gegen dies Verfahren und werde voraussichtlich die Zerstörungen selbst einleiten. Deutschland werde seinerseits ein Diktat der Botschafterkonferenz nicht ausführen und sich nicht an diesen Arbeiten beteiligen8.

6

Art. 202 VV regelte die Auslieferung des gesamten dt. militärischen Luftfahrzeugmaterials an die all. und assoz. Hauptmächte.

7

In dem Protokoll vom 10.1.30 über Entwaffnungsfragen waren zwischen der all. Botschafterkonferenz und der dt. Botschaft in Paris die Abberufung der Militärexperten zum 31.1.30 und die Modalitäten für die entmilitarisierte Rheinlandzone vereinbart worden (Telegramm Nr. 35 vom 10.1.30 in R 43 I /422 , Bl. 203–205).

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Das frz. Oberkommando in Dtld hatte im Dezember 1929 erklärt, es wolle die Anlagen des Flugplatzes Lachen-Speyersdorf verschrotten. Auf dt. Einspruch war dies nicht geschehen. Dafür hatte das frz. Oberkommando im März 1930 die dt. Behörden aufgefordert, die Versteigerung der Anlagen vorzunehmen und den Erlös an Frankreich abzuführen. Diese Forderung war abgelehnt worden (Aufzeichnung des ORegR Planck vom 18.3.30 in R 43 I /422 , Bl. 278). In den Verhandlungen hatte die frz. Reg. den Standpunkt vertreten, daß die Flugplatzeinrichtung frz. Eigentum sei (Hoeschs Telegramm Nr. 405 vom 17.4.30 in R 43 I /422 , Bl. 288–294). In einer Note vom 13.5.30 hatte die all. Botschafterkonferenz die Zerstörung der Flugplätze Griesheim und Lachen-Speyersdorf gefordert (Hoeschs Telegramm Nr. 495 vom 13.5.30 in R 43 I /422 , Bl. 302). In der Unterredung mit Briand in Genf hatte der RAM als Kompromiß eine teilweise Zerstörung der beiden Flugplätze vorgeschlagen (Telegramm Del. Nr. 20 vom 15.5.30 in R 43 I /422 , Bl. 333–337). Am 16. 5. hatte Hoesch nach einer Unterredung mit Tardieu berichtet: „Nach dieser Unterredung und nach Erschöpfung aller sonstigen Möglichkeiten habe ich nun kaum mehr Hoffnung, daß es noch gelingen kann, in Flugplatzfrage ein Nachgeben zu erreichen, es sei denn, daß Briand sich auf Grund Unterredung mit Reichsminister so stark dafür einsetzen würde, daß er Tardieu schließlich doch umstimmt“ (Telegramm Nr. 507 vom 16.5.30 in R 43 I /422 , Bl. 339–340).

Hinsichtlich des Saargebiets habe die Aussprache mit Briand ergeben, daß auch die französische Regierung eine Lösung anstrebe, die im September vom Völkerbund sanktioniert werden könne. Am 30. Juni werde es zweifellos noch nicht soweit sein9.

9

Vgl. zu den Saarverhandlungen Dok. Nr. 10.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete, er habe eindeutig gegen den Vorschlag der Gemischten Gesellschaften Stellung genommen und die Rückgabe aller Gruben an den Preußischen Fiskus als unbedingt notwendig bezeichnet. Nur auf dem Wege der Pachtverträge könne Deutschland entgegenkommen10.

10

Der RAM hatte in seiner Unterredung mit Briand gefordert, „daß Saarverhandlungen so beschleunigt würden, daß sie möglichst noch bis zum 30. Juni, jedenfalls aber rechtzeitig vor der Septembertagung des Völkerbundes beendigt würden. Deutschland müsse noch darauf bestehen, daß der Völkerbund in seiner diesjährigen Tagung die deutsch-französischen Vereinbarungen bestätige und die nach dem Vertrag von Versailles formelle Regelung treffe. Briand erklärte mir, er glaube zwar nicht, daß die Verhandlungen bis zum 30. Juni beendigt sein könnten, dagegen werde auch die Französische Regierung alles daran setzen, um die Verhandlungen so rechtzeitig zum Abschluß zu bringen, daß der Völkerbund bei seiner diesjährigen Tagung den formalen Abschlußstrich ziehen könne.

Hinsichtlich des Inhalts des deutsch-französischen Vertrages habe ich, wie seinerzeit im Haag, erneut darauf hingewiesen, daß in der Grubenfrage keine sogenannte collaboration in Frage komme, sondern nur eine unbedingte Rückgabe an den preußischen Fiskus, daß Deutschland dagegen bereit wäre, entsprechend den von der Saardelegation gegebenen Anregungen hinsichtlich der Pachtverträge entgegenkommend zu verhandeln. Briand erwiderte, man werde eine Formel finden“ (Telegramm Del. Nr. 9 vom 13.5.30 in R 43 I /249 , Bl. 37–39).

Im Einvernehmen mit der in Genf anwesenden Saardelegation habe er angedeutet, daß Deutschland auch eine Volksabstimmung nicht scheue.

[150] Die Verhandlungen mit dem finnländischen Minister Procope hätten zu weiteren Beratungen in Berlin geführt, die gewisse Einigungsmöglichkeiten offen ließen11.

11

Die Verhandlungen mit dem finnischen Außenminister sollten noch offene Fragen des Zusatzabkommens zum vorläufigen dt.-finnischen Handelsvertrag vom 26.6.26 klären (GesEntw. ü. das Zustandekommen in RT-Bd. 438 , Drucks. Nr. 1490 , Gesetz vom 26.7.30 in RGBl. II, S. 993 ). Telegramm Del. Nr. 5 vom 13.5.30 über die Unterredung mit Procope in R 43 I /1092 , Bl. 124–125. Vgl. auch Dok. Nr. 91, P. 5.

Der englische Außenminister Henderson habe sich sehr offen über die englisch-französisch-italienischen Verhandlungen, die zur Zeit im Gange seien, ausgesprochen12. Er habe im übrigen erklärt, daß die englische Regierung stets auf pünktliche Einhaltung des Räumungstermins gedrängt habe.

12

Zu den engl.-frz.-ital. Verhandlungen über ein frz.-ital. Flottenabkommen s. Documents on British Foreign Policy 1919–1939, Second Series, Vol. I, S. 354–472.

Eingehende Rücksprachen seien auch mit dem italienischen Außenminister Grandi geführt worden, bei denen Herr Grandi sich lebhaft für einen lebendigeren Gedankenaustausch zwischen der deutschen und der italienischen Regierung in allen politischen Fragen ausgesprochen habe13.

13

Aus einer Aufzeichnung des StS Pünder vom 13.5.30 geht hervor, daß in diplomatischen Kreisen Gerüchte über eine dt.-ital. Annäherung unter Einbeziehung Bulgariens, Ungarns und Österreichs verbreitet worden waren. Diese Gerüchte hatten Nahrung erhalten durch den Besuch des ital. Königs auf einem dt. Kriegsschiff anläßlich eines Flottenbesuchs in Sizilien und durch die Reise des österr. Bundeskanzlers Schober nach Rom und Berlin (s. hierzu diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 453). Pünder hatte in seiner Aufzeichnung eindeutig festgestellt, „daß von einem Versuch Italiens, in Berlin für die Idee einer deutsch-italienischen Annäherung […] zu werben, keine Rede sein kann“ (R 43 I /80 , Bl. 161 bis 162).

Der Reichsminister des Auswärtigen teilte mit, daß er über diese Unterhaltung mit Grandi auch mit Briand gesprochen habe, da die Franzosen in diesem Punkte sichtlich mißtrauisch seien14.

14

„Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß noch vor wenigen Tagen der französische Außenminister Briand unseren Botschafter v. Hoesch – wenn auch nur halb im Scherz – gefragt hat, ob wir wohl demnächst einen Bündnisantrag von Italien zu erwarten hätten. Auch der Generalsekretär Berthelot hatte kurz vorher eine ähnliche Äußerung getan. Herr v. Hoesch ist diesen Gerüchten und Anfragen natürlich sofort entgegengetreten und hat hinsichtlich unserer Allgemeinpolitik stark betont, daß diese nicht auf politische Kombinationen, sondern lediglich auf das Ziel der Wiedererhebung Deutschlands ausgehe, das in Zusammenarbeit mit allen hierzu bereiten Mächten erreicht werden solle“ (Aufzeichnung des StS Pünder vom 13.5.30 in R 43 I /80 , Bl. 161).

Der Reichskanzler dankte dem Reichsminister des Auswärtigen für seine Berichterstattung und besonders für die energische Durchführung der Verhandlungen über die Räumungsfrage, die sehr wesentlich zur befriedigenden Lösung dieses Problems beigetragen habe.

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