2.53.1 (bru1p): 1. Politische Lage.

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1. Politische Lage.

Der Reichskanzler legte dar, daß bei Festhalten der Reichsregierung an den bisherigen Deckungsvorschlägen eine Überwindung der gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht möglich sein werde und daß es daher notwendig sein werde, daß die Reichsregierung dem Reichsrat gegenüber auf die Weiterverfolgung[220] dieser Vorlagen verzichte. Ohne einen solchen Verzicht sei insbesondere auch für die Lösung der personellen Fragen, die durch den Rücktritt des Reichsministers Dr. Moldenhauer entstanden seien, keine geeignete Grundlage zu finden. Er sei der Meinung, daß die Reichsregierung nur mit einem Ermächtigungsgesetz weiterkommen könne. Sie müsse daher auf ein solches Ermächtigungsgesetz hinarbeiten. Die Ermächtigung müsse in ziemlich allgemein gehaltener Form darauf abzielen, die notwendigen Maßnahmen treffen zu können:

1.

zur dauernden Sanierung des Reichshaushaltsplans,

2.

zur Behebung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Notlage,

3.

zur Senkung der Preise und der Produktionskosten.

Seine Aussprache mit dem Vizekanzler Dietrich habe zu dem Ergebnis geführt, daß dieser unter gewissen Voraussetzungen zur Übernahme des Reichsfinanzministeriums bereit sei. Reichsminister Dietrich werde die Voraussetzungen, die er vor Übernahme seines Amts erfüllt zu sehen wünsche, dem Kabinett selbst auseinandersetzen. Schwierig sei das Verhältnis zur Deutschen Volkspartei. Den Pressenachrichten zufolge habe die Deutsche Volkspartei sich durch ihre Beschlüsse in ultimativer Form gegen jede Mitwirkung bei einem Notopfer der Beamten und Festbesoldeten ausgesprochen1. Er sehe einstweilen noch nicht, wie er bei der Deutschen Volkspartei die sachlichen Voraussetzungen zu einer weiteren Mitarbeit im Kabinett, insbesondere zur Übernahme des Postens des Reichsfinanzministeriums, schaffen könne. Die Deutsche Volkspartei fordere Aufhebung des § 163 des Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung, in dem die unbeschränkte Darlehnspflicht gegenüber der Reichsanstalt begründet sei2. Ferner fordere sie die Einführung einer Kopfsteuer für die Gemeinden und schließlich eine gesetzliche Sicherung für die Durchführung der Lohnsenkung.

1

Unter der Schlagzeile „Scharfe Stellungnahme der Deutschen Volkspartei“ meldeten die MNN Nr. 169 vom 24.6.30, daß der DVP-Vorsitzende Scholz von seiner Fraktion beauftragt worden sei, dem RK mitzuteilen, daß die volksparteiliche Fraktion hinsichtlich der Behandlung der Finanzfragen auf ihrer letzten Entschließung beharre (Ablehnung des Notopfers usw.) und daß sie von der Behandlung dieser Forderung ihr gesamtes Verhalten gegenüber dem Kabinett abhängig mache.

2

RGBl. 1929 I, S. 185 .

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte, daß die Beschlüsse der Deutschen Volkspartei in der Presse entstellt wiedergegeben seien. Von einem Ultimatum seiner Fraktion sei keine Rede. Bei den Beschlüssen sei besonderer Wert auf das Fortbestehen von Verhandlungsmöglichkeiten gelegt worden. Der Führer der Fraktion, Dr. Scholz, sei beauftragt worden, sich mit dem Reichskanzler über die Gesamtlage nochmals auszusprechen, um die sachlichen Voraussetzungen für eine Weiterarbeit in der Regierung zu klären. Dr. Scholz sei dem Gedanken eines Ermächtigungsgesetzes sehr zugänglich. Die Fraktion werde ihre Zustimmung zu einem solchen Gesetz jedoch weitgehend von einer sachlichen Einigung über ihre Forderungen abhängig machen3. In der[221] vom Reichskanzler vorgeschlagenen Form bedürfe das Ermächtigungsgesetz zu seiner Annahme einer 2/3-Mehrheit. Es sei daher zu überlegen, ob man das Gesetz nicht in seinen Einzelheiten so spezialisieren könne, daß es einer 2/3-Mehrheit nicht bedürfe. Im übrigen bitte er, von entscheidenden Beschlüssen einstweilen abzusehen, da er wegen der unaufschiebbaren Beratungen des Haushaltsausschusses über den Etat des Auswärtigen Amts jetzt nicht mehr weiter anwesend sein könne.

3

Das Protokoll über die DVP-Fraktionssitzung vom 23.6.30 faßt die Diskussion über die Verhandlungen zur Ernennung eines neuen RFM und die Deckung des Defizits folgendermaßen zusammen:

Dr. Scholz berichtet über die Verhandlungen des Reichskanzlers mit Höpker Aschoff und über die weiteren Schritte zur Umbildung des Kab. Was Br. will, ist nicht mit Sicherheit rauszubekommen. Es entstehe die Frage: Wie kann man aus der Sachlage hinauskommen? Dr. Sch. denkt an ein Ermächtigungsgesetz. Erforderlich sind Kautelen. Austritt muß ins Auge gefaßt werden. Man könnte auch die Frage an Br. richten, wie er zum Notopfer stehe. Da würden sich Wege trennen. Das Notopfer ist nicht die ultima ratio; es gibt noch andere Mittel (Kopfsteuer, Besteuerung der öff. Hand). Also zunächst: Was will der Kanzler? Hierzu: […] Dr. Curtius (ist in Einzelheiten anderer Meinung als die Vorredner. Reg. hat Vorschläge nach gewissenhafter Überlegung gemacht. Defizit ist da, nicht errechnet. Es muß gedeckt werden. Daran hält Brüning bis heute fest. Notopfer im Rahmen der Lohn- und Preissenkung. Eine Besoldungskürzung ist notwendig. Die Besold. Ord. von 1927 ging zu weit. Ein anderer Weg ist nicht gangbar) […] Dr. Scholz stellt fest, daß es Meinung der Fraktion ist es müsse das Fin.-Min. die Politik der Fraktion vertreten. Es muß ein Programm vorliegen, dem die Fraktion zustimmen kann. Eine Kommission soll ein Deckungsprogramm aufstellen (Arbeitslosenvers.Reform, Krankenkassenreform, Kopfsteuer, Besteuerung der öff. Betriebe)“ (R 45 II /67 , S. 246).

Der Reichskanzler erwiderte, daß die gegenwärtige Sitzung nur einer ersten Aussprache über die Lage dienen solle, daß eine Beschlußfassung noch nicht in Frage komme.

Staatssekretär Dr. Joël bestätigte die Auffassung des Reichsministers des Auswärtigen, daß das Ermächtigungsgesetz in der vom Reichskanzler vorgeschlagenen Form zu seiner Annahme einer 2/3-Mehrheit bedürfe.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte, daß er schweren Herzens bereit sein werde, das Amt des Reichsministers der Finanzen zu übernehmen, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt seien4. Diese Voraussetzungen seien folgende:

4

Vgl. Saldern, Hermann Dietrich, S. 100.

1. Die Vorlagen über die Reform der Arbeitslosenversicherung einschließlich der Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung um 1% sowie die Novelle zum Versorgungsgesetz müssen auf dem gesetzmäßigen Wege verabschiedet werden.

2. Im Reichshaushaltsplan müssen Abstriche in einer Gesamthöhe von 100 Millionen RM vorgenommen werden, und zwar über den Betrag von 35 Millionen hinaus, der durch die Verringerung des Defizits 1929 frei geworden ist. Diese Abstriche von 100 Millionen RM sollen nicht vor der Verabschiedung des Etats, sondern nachträglich durch interne Verfügung des Reichsfinanzministeriums vorgenommen werden in der Weise, daß den Ressorts der Betrag von 100 Millionen nicht zur Verfügung gestellt wird.

3. Zur Deckung des Defizits schlage er ein Notopfer der Beamten in Höhe von 3% des Gehalts vor. Darüber hinaus einen Zuschlag von 5% zur Einkommensteuer bei Jahreseinkommen über 8400 RM. Schließlich sei eine verstärkte steuerliche Belastung der Ledigen notwendig.

[222] Mit diesen Vorschlägen hoffe er das gegenwärtige Defizit abzudecken. Zu regeln bleibe noch die Frage, in welcher Weise im Laufe des Jahres entstehende neue Defizite abgedeckt werden sollen. Hier denke er an ein einfaches und radikales Mittel, nämlich an eine 1%ige Kürzung aller Etatspositionen, mit Ausnahme der Reparationslasten und der Zinstilgungsposten, für je 100 Millionen neues Defizit. Endlich müsse auch die Möglichkeit für die Einführung einer Gemeindegetränkesteuer und einer Verzehrsteuer für den Verzehr in öffentlichen Lokalen ins Auge gefaßt werden.

Das Reichskabinett erörterte diese Vorschläge in eingehender Aussprache. Beschlüsse wurden nicht gefaßt, zumal, da der Reichsminister des Auswärtigen und der Reichsernährungsminister die Beratung wegen der Notwendigkeit ihrer Anwesenheit im Reichstag die Sitzung bald verlassen mußten.

Der Reichskanzler schloß die Beratung mit dem Bemerken, daß er im Laufe des Tages nochmals mit dem Führer der Deutschen Volkspartei, Dr. Scholz, und mit dem Vizekanzler Dietrich über die Lage sprechen wolle und daß er im Kabinett für den Abend zu einer erneuten Beratung zusammenbitten werde5.

5

S. Dok. Nr. 54.

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