1.2 (bru2p): Nr. 254 Aufzeichnung des Ministerialdirektors v. Hagenow über eine Unterredung des Reichskanzlers mit dem Sächsischen Ministerpräsidenten am 3. März 1931

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[923] Nr. 254
Aufzeichnung des Ministerialdirektors v. Hagenow über eine Unterredung des Reichskanzlers mit dem Sächsischen Ministerpräsidenten am 3. März 1931

R 43 I /1808 , Bl. 131–133

Im Laufe des heutigen Vormittags empfing der Herr Reichskanzler in Gegenwart des Unterzeichneten den Sächsischen Ministerpräsidenten Schieck, den Sächsischen Gesandten Dr. Gradnauer und den Leiter der Sächsischen Staatskanzlei, Ministerialdirektor Dr. Schettler.

Herr Ministerpräsident SchieckSchieck brachte die Wünsche der Sächsischen Regierung nach Ausdehnung der Osthilfe auf die Kreishauptmannschaft Bautzen sowie auf die Amtshauptmannschaften Dippoldiswalde und Pirna zur Sprache und begründete sie in der gleichen Weise wie in dem Schreiben vom 21. Februar d. Js.1 […]. Er führte u. a. aus, daß Sachsen 10% von der Industrieumlage aufbringe, und daß man es deshalb nicht verstehe, warum nicht Sachsen bereits aus diesem Grunde in irgendeiner Form bei der Osthilfe Berücksichtigung fände, zumal die angrenzenden preußischen Gebiete mit der Osthilfe bedacht seien. Außerdem seien die sächsischen Grundbesitze am stärksten von allen anderen Grundbesitzen verschuldet, so daß auch schon von diesem Gesichtspunkt aus gesehen eine Berücksichtigung Sachsens erforderlich sei. Für die Entschuldungsaktion kämen keine großen Geldmittel in Betracht, da die zu berücksichtigende Fläche etwa 600 000 ha betrage. Im übrigen sei die politische Lage in Sachsen aufs äußerste gespannt. Wenn nicht in irgendeiner Form den Wünschen der Sächsischen Regierung Rechnung getragen werde, würden sich für die Regierung politische Schwierigkeiten ergeben, da dann das Landvolk im Parlament nicht mehr für die Regierung eintreten werde. Die Landvolkpartei werde sich dann vielmehr für den Antrag auf Neuwahlen entscheiden2. Eine Neuwahl hätte zur Folge, daß die Nationalsozialisten verstärkt in das Parlament einziehen würden. Die Sächsische Regierung könne für sich wohl mit Recht in Anspruch nehmen, daß sie alles getan habe, um die Reichsregierung zu unterstützen. Sie könne deshalb auch den Wunsch aussprechen, daß die Reichsregierung sie jetzt nicht in dieser Notlage im Stiche lasse. Ein Antrag im Reichsrat auf Einbeziehung der sächsischen Gebiete (Kreishauptmannschaft Bautzen und Amtshauptmannschaft Pirna und Dippoldiswalde) würde nur dann[924] Erfolg haben, wenn die Reichsregierung in dieser Frage die Initiative ergreifen und den Antrag warm befürworte.

1

In diesem Schreiben hatte der Sächs. MinPräs. dem RK die Bedenken gegen den OsthilfeGesEntw. vorgetragen, in dem Sachsen nchit berücksichtigt worden sei, obwohl der Freistaat durch die Grenze mit der Tschechoslowakei wirtschaftlich gefährdet sei. Dagegen seien die an Sachsen angrenzenden pr. Provinzen in die Osthilfe einbezogen worden. Schieck hatte den RK darauf hingewiesen, daß ein Ausschluß Sachsens aus der Osthilfe zu tiefster Erbitterung in allen Bevölkerungskreisen und zu politischer Radikalisierung führen müsse, „die wohl auch der Reichsregierung nicht erwünscht sein könnte“. Schieck hatte den RK abschließend um eine Besprechung gebeten (R 43 I /1807 , Bl. 417–420).

2

Nach dem Ausgang der sächs. LT-Wahlen vom 22.6.30 war die Reg. Schieck am 10. 7. zurückgetreten. Sie blieb jedoch geschäftsführend, weil die mehrfachen Wahlen des MinPräs. ergebnislos geblieben waren, und der LT am 7.10.30 die KPD- und NSDAP-Anträge auf Auflösung des LT mit großer Mehrheit abgelehnt hatte (Schultheß 1930, S. 167 und 200).

Der Reichskanzler erwiderte, daß er an und für sich bei den schwierigen Verhältnissen in Sachsen keine Bedenken tragen würde, die genannten Gebiete in die Osthilfe einzubeziehen, sofern die finanzielle Lage eine solche Erweiterung zulasse. Er könne keine Garantie übernehmen, ob und wann die Finanzlage die Einbeziehung ertragen könne. Jedenfalls wolle er sich die Angelegenheit überlegen.

Im Anschluß hieran brachte der Sächsische Ministerpräsident die schlechte Lage der sächsischen Gemeinden zur Sprache, die sich vor allen Dingen aus dem großen Kreise der Wohlfahrtsunterstützten erkläre3. Aus dem Reichsfinanzministerium sei der Sächsischen Regierung vor längerer Zeit mitgeteilt worden, daß das Reich Sachsen nicht im Stich lassen werde. Jetzt erfahre die Sächsische Regierung, daß der Reichsfinanzminister keine Mittel zur Verfügung stellen könne. Eine Unterstützung der großen Städte komme nicht in Betracht, da diese Städte sich werden aus eigener Kraft helfen können. Gefährdet seien aber die kleinen Städte. Da die örtliche Industrie dieser Städte ganz oder teilweise vernichtet sei, seien diese Städte nicht in der Lage, aus eigener Kraft zu helfen. Für Ultimo März würden etwa 5–6 Millionen gebraucht werden, um die finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden. Die Sächsische Regierung sei am Ende. Sie wisse keinen Ausweg aus dieser Lage. Ministerpräsident Schieck wies dabei darauf hin, daß z. B. die Stadt Pirna beantragt habe, Konkurs über sie zu eröffnen, und ferner in Anregung gebracht habe, ein Gesetz zu erlassen, wonach die Beamten der Stadt Pirna nur die Hälfte der Gehälter erhielten. Man müsse, um ein richtiges Bild über die Notlage zu bekommen, berücksichtigen, daß ⅓ der gesamten Bevölkerung arbeitslos sei.

3

Der Sächs. MinPräs. hatte dem RK eine Aufstellung über die Arbeitslosigkeit in Sachsen überreicht. Danach überstieg Ende 1930 die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger der ALV in Sachsen den Reichsdurchschnitt um 151,3%, die Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen lag am 31.12.30 in Sachsen um 139,7% höher als im Reich. Die Aufstellung befindet sich als Anlage zu der vorliegenden Aufzeichnung in R 43 I /1808 , Bl. 134.

Der Reichskanzler erwiderte, daß die Reichsregierung bereit sei, zur Überwindung der Notlage der Gemeinden Ende März Hilfe zu gewähren. Es hätten darüber schon entsprechende Verhandlungen stattgefunden4. Schwierigkeit bereite die Tatsache, daß das Reichsfinanzministerium kein Geld frei habe, um die Wünsche berücksichtigen zu können. In den nächsten drei Monaten werde eine Kassen-Überbrückung von 425 Millionen gebraucht, nämlich 100 Millionen für die Arbeitslosenversicherung, 250 Millionen für fällige Schatzanweisungen und 80 Millionen Reste, z. B. aus Mindereinnahmen usw.

4

Vgl. Dok. Nr. 253.

Der Sächsische Ministerpräsident machte geltend, daß März der schlimmste Monat sei. Einzelne sächsische Gemeinden gingen schon dazu über, ihre Girokassen anzugreifen. Das müsse unter allen Umständen verhindert werden.

Der Reichskanzler antwortete, daß ein Betrag von 5 Millionen gar nicht in Frage komme. Da die Einnahmen des Reichs schlecht flössen, wisse er nicht,[925] woher ein solcher Betrag genommen werden könne. Die Möglichkeit, Kredit zu bekommen, bestehe nicht.

Ministerpräsident SchieckSchieck betonte noch, daß die Gemeinden bereits zur äußersten Sparsamkeit veranlaßt seien, und daß die Gehälter der Kommunalbeamten in allen Punkten der Reichsbesoldung angepaßt seien.

Der Reichskanzler bemerkte, daß die Reichsregierung die Frage der Notlage der Gemeinden sehr ernst nehme und alles daransetzen werde, um diese Notlage zu überwinden. Sachsen habe bei diesen Besprechungen bereits schon eine Hauptrolle gespielt. Die Besprechungen würden in den nächsten Tagen fortgesetzt werden.

Am Schluß der Besprechung sprach Ministerpräsident SchieckSchieck die Bitte aus, die Wünsche der sächsischen Wirtschaftsführer, die am Freitag zu einer Besprechung nach Berlin kämen, nach Möglichkeit zu berücksichtigen5.

5

S. dazu Dok. Nr. 224, Anm. 13.

H[a]g[enow]

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