2.10 (feh1p): Nr. 10 Aufzeichnung der Reichskanzlei über die innere Lage. 2. Juli 1920

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   Das Kabinett Fehrenbach  Konstantin Fehrenbach Bild 183-R18733Paul Tirard und General Guillaumat Bild 102-01626AOppeln 1921 Bild 146-1985-010-10Bild 119-2303-0019

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[27] Nr. 10
Aufzeichnung der Reichskanzlei über die innere Lage. 2. Juli 19201

1

Auf dieser ungezeichneten Aufzeichnung findet sich die handschriftliche Notiz MinR Brechts: „In der Rkzlei verfaßt.“ Aus früheren Berichten des gleichen Bandes geht hervor, daß es sich hier um Aufzeichnungen handelt, die in der Rkei angefertigt und die vom AA dann zur Orientierung an alle dt. Missionen im Ausland weitergeleitet wurden (R 43 I /679 , Bl. 16).

R 43 I /679 , Bl. 32–35 Umdruck

I. Der neugebildete Reichstag hat folgende Zusammensetzung:

Deutschnationale Volkspartei

66

Deutsche Volkspartei

62

Zentrum

68

Christl. föderalistische Gruppe

21

Bayerischer Bauernbund

4

Welfen

5

Demokraten

45

Sozialdemokraten

112

Unabhängige

81

Kommunisten

2

4662

2

Es handelt sich hier um die vorläufige Sitzverteilung im RT, da die Wahlen in den Abstimmungsgebieten noch ausstanden. Von diesen 466 Abgeordneten waren 329 direkt gewählt, 44 Mandate wurden durch Verrechnung in den Wahlverbänden besetzt, 51 Abgeordnete kamen über die Reichswahllisten in den RT und 42 Abgeordnete aus den Abstimmungsgebieten verblieben aus der NatVers. im RT (Schultheß 1920, I, S. 146).

Die drei großen Regierungsparteien haben mit der Christlichen föderalistischen Gruppe, dem Bauernbund und den Welfen 205 Stimmen gegen 195 sozialistische und 66 deutschnationale Stimmen. Das Regierungsprogramm gipfelt indessen in dem Gedanken, daß die Regierung, obwohl sie gegen ihren Willen nur aus bürgerlichen Parteien zusammengesetzt sei, nicht gegen die Arbeiter, sondern mit ihnen regieren werde, auch wenn die Mehrheitssozialisten ihr nicht angehörten3. Die ehrwürdige Persönlichkeit des Reichskanzlers Fehrenbach, die Tatsache, daß außer den Demokraten auch die zum linken Flügel des Zentrums gehörenden Minister Wirth und Giesberts in der Regierung verblieben sind und daß in der Zentrumspartei große Arbeitermassen ihre Vertretung haben, bildet in der Öffentlichkeit eine Gewähr für die Durchführung[28] dieses Programms. Das von den Unabhängigen beantragte Mißtrauensvotum ist daher mit 313 Stimmen gegen 64 Stimmen abgelehnt4. Die Regierung hat also tatsächlich einen tragfähigen Boden unter den Füßen.

3

Am 28. 6. hatte RK Fehrenbach in der Regierungserklärung geäußert: „Wir sind eine sogenannte bürgerliche Regierung, aber nicht durch unseren Willen. Wir haben auch die sozialdemokratische Partei wiederholt und dringlich um Mitarbeit in der Regierung gebeten. Ich hüte mich, den ablehnenden Bescheid einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Aber das glaube ich ohne Widerspruch feststellen zu dürfen: der freiwillige Verzicht auf die Mitarbeit in der Regierung legt der betreffenden Partei Verpflichtungen auf gegenüber einer Regierung, die nicht gegen die Arbeiterschaft, sondern, wie bisher, mit ihr und für sie regieren will.“ (RT-Bd. 344, S. 15 ).

4

Am 30.6.1920 bereits hatte die USPD einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung Fehrenbach eingebracht (RT-Drucks. Nr. 58, Bd. 363 ). Dieser Antrag war am 2. 7. in namentlicher Abstimmung mit 311 zu 61 Stimmen abgelehnt worden (RT-Bd. 344, S. 181 ). Siehe dazu auch Dok. Nr. 7, P. 3.

II. Die zwangsläufige Kontinuität der Geschäfte und des Geistes, in dem sie geführt werden müssen, hat sich bereits gezeigt. Die ausführliche Regierungserklärung5 deckt sich im wesentlichen mit den Erklärungen der früheren Regierungen und bot so auch für die Mehrheitssozialisten keine Angriffsfläche. Die lange Dauer der Krisis hat immerhin den Erfolg gehabt, daß auch die weitesten Kreise des Volkes die Schwierigkeit einer Lösung gesehen und begriffen haben, daß schließlich eine andere Lösung als die gewählte nicht möglich war.

5

Zu der Regierungserklärung RK Fehrenbachs s. RT-Bd. 344, S. 9  f.

Trotz mancher Bedenken bringt die gewordene Lösung zweifellos auch Vorteile mit sich:

1. Die demokratische Verfassung ist im Grunde dadurch fester verankert worden, daß sie der Bevölkerung nicht mehr einseitig als eine Verfassung zugunsten einer sozialdemokratischen Regierung erscheint. Die Tatsache, daß in legaler Weise auch die bisher von der Regierung ausgeschlossenen Teile in die Regierung eintreten und die Sozialdemokraten – wenn auch nur vorübergehend – austreten könnten, hat offensichtlich viele mit der Verfassung versöhnt. Die Minister aus den Reihen der Deutschen Volkspartei haben in der feierlichen Antrittssitzung den Eid auf die Verfassung geleistet. Die Partei arbeitet auf dem Boden der Verfassung positiv mit. Die herabziehenden Angriffe auf die Person des Reichspräsidenten haben nachgelassen und einer vielseitig bekundeten Achtung Platz gemacht.

2. Die starken Meinungsverschiedenheiten innerhalb der bürgerlichen Parteien werden zunächst unter ihnen selbst und nicht im Klassenkampf mit den Arbeitern ausgetragen. Die zwangsläufige Kontinuität wird zweifellos in der positiven Zusammenarbeit die Meinungsverschiedenheiten, die im Wahlkampf übersteigert waren, mildern. Dies wird nicht im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, sondern, entsprechend dem Leitgedanken des Programms, in möglichster Fühlung mit ihnen geschehen.

3. Auch der sehr gehässige Kampf der sozialistischen Parteien untereinander wird sich wohl zunächst mildern. Erfahrungsgemäß werden manche Maßnahmen bürgerlicher Regierungsmitglieder in den Arbeiterkreisen weniger scharf bekämpft als solche sozialistischer Minister, weil der Kampf dann mit einer Auseinandersetzung über das sozialistische Programm verbunden ist und der Minister als Verräter am sozialistischen Programm dargestellt wird.

4. Endlich ist es im demokratischen Sinne als Vorteil zu buchen, daß eine Reihe außerhalb der Nationalversammlung hervorgetretener Persönlichkeiten, die – ob mit Recht oder Unrecht – in der Öffentlichkeit vielfach als die „eigentlichen geistigen Kräfte“ im Gegensatz zur Nationalversammlung, „der Schwatzbude“,[29] gepriesen werden, jetzt parlamentarisch eingegliedert sind (Stinnes, Hergt, Helfferich; bei den Unabhängigen: Däumig, der Chefredakteur der „Freiheit“, Breitscheid und der frühere Volksbeauftragte Dittmann, auch Ledebour u. a.). Andere namhafte Publizisten, wie Georg Bernhard, gehören dem Reichswirtschaftsrat an.

Wie lange freilich eine positive Regierungsarbeit ohne Beteiligung der SPD an der Regierung möglich ist und ob die SPD auf die Dauer von schroffer Opposition fernzuhalten ist, bleibt eine offene Frage. Es wird das wesentlich von der Regierungskunst des gegenwärtigen Kabinetts und vor allem von den Ereignissen der äußeren Politik abhängen6.

6

Zum Eintritt der SPD in die Regierung s. Dok. Nr. 67, P. 3.

III. In der äußeren Politik wird sich zunächst ebenfalls die Kontinuität zeigen. Der Grundsatz loyaler Erfüllung des Friedensvertrages ist im Programm in klarer, eindeutiger Weise ausgesprochen7. Wenn im Ausland aus dem Eintritt der Deutschen Volkspartei wegen der Vergangenheit einiger ihrer Führer usw. auf einen Wechsel in der ausländischen Politik oder auf eine Erstarkung des Militarismus geschlossen wird, so ist dem strikt entgegenzutreten. Demokraten und Zentrum, die die Mehrheit im Kabinett haben, würden jedem Versuch solcher Änderung, wenn er wirklich in Frage käme, entgegentreten. Gerade auf diesem Gebiet würde jeder Wechsel in der Politik die Regierung sprengen und die alte Koalition wiederherstellen, wenn nicht einen weiteren Ruck nach links zur Folge haben. Insofern mag das neue Kabinett letzten Endes auch zu einer Entgiftung der internationalen Atmosphäre beitragen.

7

In der Regierungserklärung vom 28. 6. hatte es dazu geheißen: „Die Lasten, die er [der VV] dem deutschen Volke auferlegt, sind unerhört groß und in ihrer vollen Schwere kaum erkannt. Nachdem aber Deutschland den Vertrag angenommen hat, kann es für die Reichsregierung, solange sich die bisher feindlichen Staaten nicht zu Änderungen verstehen, keine andere Richtlinie in der inneren wie in der äußeren Politik geben als das Streben, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, soweit das überhaupt möglich ist.“ (RT-Bd. 344, S. 10 ).

IV. Die weitere innere Entwicklung wird außer von dem Ergebnis der Verhandlungen in Spa davon abhängen, ob es in Deutschland infolge der Ernährungsschwierigkeiten und der Teuerung oder aus politischen Gründen zu inneren Unruhen kommt.

1. Die Entwicklung der Ernährungsschwierigkeiten läßt sich nicht sicher voraussehen. Die örtlichen Kalamitäten sind zum Teil außerordentlich groß. Die Teuerungskrawalle bilden eine ständige Gefahr, da sie von kommunistischer Seite ausgenützt werden.

2. Radikale politische Gewaltvorstöße werden zur Zeit an und für sich nicht erwartet, sie können sich aber aus Lebensmittelkrawallen oder dergleichen entwickeln. Bestrebung zur Bildung von organisierten Formationen kommunistischer Arbeiter sind tatsächlich vorhanden. Marschübungen halb sportlicher Art werden unternommen. Die radikale Propaganda ist besonders im Ruhrgebiet, in Sachsen und unter den mecklenburgischen Landarbeitern zu spüren. Sie leidet aber merklich durch die Spaltung zwischen der KPD und der KAPD. Die Berliner „Rote Fahne“ brachte z. B., als die KAPD eine Feier am Grabe Rosa[30] Luxemburgs abhielt, einen seitenlangen flammenden Protest gegen diese Leichenschändung, der hinter den schweren Angriffen dieses Blattes auf die Mehrheitssozialisten nicht zurückstand. Die Zahl der kommunistischen Wähler betrug in ganz Deutschland etwa 442 000, dazu mag eine ebenso große Zahl von Angehörigen der KAPD kommen, die sich an der Wahl nicht beteiligt haben.

v. Am 30. Juni ist der vorläufige Reichswirtschaftsrat eröffnet (vgl. Artikel 165 der Verfassung). Er stellt nach seiner Zusammensetzung und seinen Aufgaben eine neue Erscheinung unter den Parlamenten der Welt dar. Bei seiner Entstehung sind 2 Tendenzen zusammen getroffen, erstens die Tendenz, die Kreise der Produzenten, Konsumenten, des Handels und der Arbeitnehmer nicht nur, wie bisher üblich, jede unter sich, sondern auch alle untereinander zu einer Arbeitsgemeinschaft zu verbinden, und zweitens die Tendenz, den Arbeitnehmern Einwirkung auf den Produktionsprozeß zu geben und ihnen Gelegenheit zu geben, den Zusammenhang ihres Tuns mit der Gesamtwirtschaft zu sehen und ihre Sachkenntnis dafür fruchtbar zu machen. Es sind möglichst gleich viel Arbeitgeber und Arbeitnehmer8 delegiert worden. Der Reichswirtschaftsrat soll den Reichstag in wirtschaftlichen Fragen entlasten. Er ist der vorweggenommene Schlußstein aus dem wirtschaftlichen Rätesystem des Artikel 165 der Verfassung. Seine Stellung liegt aber naturgemäß, wie der Reichskanzler bei der Eröffnung erklärte, „in der Bedeutung, die er sich durch seine Tätigkeit zu geben weiß, fester verankert als in Artikeln und Paragraphen des Gesetzes.“ Die allgemeine Absicht ist die, die Plenarsitzungen zugunsten von Ausschußsitzungen, in denen praktische Arbeit geleistet wird, möglichst einzuschränken.

8

In der Vorlage heißt es irrtümlich: „Unternehmer.“

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