1.39.1 (lut2p): [Verabschiedung der DNVP-Minister; Besetzung der freigewordenen Ministerposten]

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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RTF

[Verabschiedung der DNVP-Minister; Besetzung der freigewordenen Ministerposten]

Einleitend machte der Reichskanzler Mitteilung von dem ihm gestern abend übergebenen Abschiedsgesuch der drei deutschnationalen Minister Schiele, v. Schlieben und Neuhaus1a. Er fügte hinzu, daß er die Tatsache menschlich außerordentlich beklage, da es wohl kaum ein Kabinett gegeben habe, in dem eine solche innige Einvernahme geherrscht habe. Aber auch außenpolitisch sei diese Entwicklung zweifellos sehr bedauerlich.

1a

Der Fraktionsvorstand der DNVP hatte sich am späten Nachmittag des 25. 10. einstimmig gegen das Verbleiben in der Regierungskoalition ausgesprochen und beschlossen: „In Verfolg des Beschlusses der Reichstagsfraktion vom 21. Oktober [s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 203] und des Parteivorstandes und der Landesverbandsvorsitzenden vom 23. Oktober [s. Anm. 5 zu Dok. Nr. 205] billigt die Fraktion den Entschluß der Herren Minister Schiele, Neuhaus und v. Schlieben, noch heute um ihre Entlassung nachzusuchen.“ („Tägliche Rundschau“ vom 26. 10.).

[804] Reichsminister Schiele führte aus, daß das Bedauern in gleich hohem Maße auch auf seiner und seiner beiden Kollegen Seite läge. Das, was zu dem ersten Beschluß der Reichstagsfraktion2 aus dem Lande dazugekommen sei, sei gleichsam eine Sturmflut gewesen, die die Deiche durchbrochen habe. Diese Sturmfluten seien schließlich in einem Polder aufgefangen worden, und das äußere Zeichen hierfür sei, daß er und seine beiden Kollegen die Schlußfolgerungen hieraus zu ziehen hätten. Seine und seiner beiden Kollegen sachliche Ziele seien deshalb aber die gleichen geblieben. Er sei nach wie vor nicht davon überzeugt, daß eine ruhige abwartende Haltung nicht zu einer gemeinsamen Linie in der großen Frage des Ja oder Nein bezüglich Locarno geführt hätte. Daß bei seinen politischen Freunden eine andere Auffassung die vorherrschende geworden sei, sei eine Tatsache, die er aufs aufrichtigste bedauere. Bei dem Scheiden aus dem Reichskabinett bitte er, sich von der Überzeugung weiter durchdrungen zu halten, daß die Deutschnationale Partei keineswegs nur negieren wolle. Er bitte daher, dem Kabinett einheimstellen zu dürfen, keine Beschlüsse zu fassen, die größten Staub aufwirbeln würden und die Deutschnationalen in die Negation drängen müßten. Die Dinge möchten so pfleglich behandelt werden, daß auf Grund ruhiger Erwägung schließlich doch noch ein gemeinsames Handeln möglich werde. Er möchte daher von einer Auflösung des Reichstags und einem neuen Wahlkampf abraten.

2

S. Anm. 2 zu Dok. Nr. 203.

Nachdem der Reichskanzler den drei deutschnationalen Kabinettsmitgliedern den verbindlichsten Dank sämtlicher Ministerkollegen ausgedrückt und als gemeinsame Überzeugung aller Anwesenden ausgesprochen hatte, daß das Handeln der drei scheidenden Kollegen ebenso wie das des ganzen Kabinetts stets nur von der Sorge um das Wohl des Vaterlandes diktiert gewesen sei, verabschiedeten sich die Herren Reichsminister Schiele, v. Schlieben und Neuhaus.

Nachdem die drei Herren den Saal verlassen hatten, stellte der Reichskanzler die Frage der alsbaldigen Auflösung des Reichstags zur Erörterung. Er äußerte sich dahin, daß er in einem etwaigen Wahlkampf sowohl innen- wie außenpolitisch nur Unheil ersehe. Er sei im Gegenteil der Meinung, die Reichsregierung müsse an dem Ziel eines positiven Ergebnisses, insbesondere in der Frage der Rückwirkungen des Werks von Locarno, unbedingt festhalten und müsse das Ergebnis der diesbezüglichen Verhandlungen mit Frankreich und England abwarten. Die Entscheidung komme dann erst zum 1. Dezember in Frage.

Die anwesenden Reichsminister äußerten sich durchweg zustimmend zu dieser Auffassung des Herrn Reichskanzlers, und es wurde beschlossen, durch den anwesenden Ministerialdirektor Kiep in der eben im Gange befindlichen Pressekonferenz die Presse entsprechend zu orientieren.

Sodann stellte der Reichskanzler die Frage der Besetzung der drei freigewordenen Ministerposten zur Erörterung und machte dem Kabinett Mitteilung von dem Inhalt der Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pünder über dessen heutige Rücksprache mit dem Staatssekretär Weismann vom Preußischen[805] Staatsministerium3. Allseitig wurde es begrüßt, daß nach dieser Mitteilung der Preußische Ministerpräsident Braun in völliger Übereinstimmung mit dem ganzen Preußischen Staatsministerium bestrebt sei, die Sozialdemokratische Partei und die Demokratische Partei bei günstiger Erledigung der Rückwirkungen zu einem positiven Votum hinsichtlich des Vertrags von Locarno zu bringen. Um die ruhige Entwicklung sowohl im Innern Deutschlands als auch in Frankreich und England nicht zu stören, wurde es allseitig als zweckmäßig anerkannt, bei der Besetzung der drei Ministerposten keinerlei politische Schritte zu tun, sondern sich nur von rein sachlichen Erwägungen leiten zu lassen.

3

Es handelt sich um eine telefonische Unterredung, bei der Weismann u. a. ausführte: Das PrStMin. und insbesondere MinPräs. Braun ständen fest hinter der Locarno-Politik der RReg. und hätten den dringenden Wunsch, daß diese Politik mit aller Energie fortgesetzt werde. Preußen rate jedoch dringend von der Ausschreibung von Neuwahlen ab, da hierdurch „innenpolitisch nichts erreicht, außenpolitisch aber Schaden eintreten würde. Denn unter der Wirkung von deutschnationalen Schlagwörtern und Phrasen würden die Deutschnationalen zweifellos wieder ihre alte Stärke erreichen, während außenpolitisch insbesondere Frankreich vorzeitig gezeigt werde, daß Deutschland innerlich mit dem Ergebnis von Locarno zufrieden sei und daher für Frankreich eine Übereilung in der Frage der Rückwirkungen nicht erforderlich sei.“ Weismann wies sodann auf Bemühungen des PrMinPräs. hin, die Sozialdemokraten und Deutschen Demokraten für seinen Standpunkt zu gewinnen, und fuhr dann fort: Voraussetzung für den Erfolg dieser Bemühungen sei aber, „daß die freiwerdenden Ministerposten […] nicht etwa interimistisch von den bisherigen Inhabern verwaltet würden. Notwendig sei vielmehr, […] daß für diese drei Stellen parteilose Herren, vielleicht fachlich geschulte Beamte gewählt würden. Ferner müsse den Sozialdemokraten und Demokraten nicht gleich die Aussicht verschlossen werden, nach günstiger Erledigung des Werkes von Locarno im Reichstage an einem Kabinett der großen Koalition beteiligt zu werden.“ (Aufzeichnung Pünders vom 26. 10. in R 43 I /429 , Bl. 57 f.).

Der Reichskanzler bezeichnete es an sich als staatsrechtlich möglich, die zurücktretenden Minister als Reichskommissare und Verwalter der bisher von ihnen innegehabten Ressorts wieder zu bestellen4. Eine solche Bestellung habe zum mindesten den Schein einer politischen Entscheidung in sich. In Betracht käme daher lediglich, die drei Ressorts durch die Staatssekretäre oder aber durch andere Reichsminister nebenamtlich verwalten zu lassen.

4

Vgl. die Anregung Schieles bei seiner Unterredung mit Luther am 25. 10. (Dok. Nr. 207).

Der Reichskanzler und alle anwesenden Reichsminister waren sich darüber einig, daß der erste Weg praktisch schwer gangbar sei: im Reichsfinanzministerium befänden sich zwei koordinierte Staatssekretäre5, der Staatssekretär des Reichswirtschaftsministeriums Trendelenburg müsse im Hinblick auf die Handelsvertragsverhandlungen möglichste Bewegungsfreiheit behalten, und im Innenministerium sei es wegen seiner starken politischen Einstellung unerwünscht, es auf längere Wochen durch den beamteten Staatssekretär6 verwalten zu lassen.

5

Die Staatssekretäre Fischer und Popitz.

6

Zweigert.

Der Reichskanzler machte darauf den Vorschlag, das Reichsfinanzministerium durch ihn, das Reichswirtschaftsministerium durch den Reichsminister Krohne und das Reichsinnenministerium durch den Reichsminister Geßler nebenamtlich verwalten zu lassen. Er fügte hinzu, daß für diese nebenamtliche[806] Verwaltung gerade zwecks Vermeidung irgendeines politischen Scheins nur die beamteten Minister, nicht dagegen die Vertrauensmänner7 in Frage kämen. Außer ihm und den beiden in seinem Vorschlag genannten Reichsministern kämen also lediglich noch die Reichsminister Frenken und Graf v. Kanitz in Frage. Ersterer führe aber bereits nebenamtlich ein zweites Ministerium (das Rheinministerium), und bei den starken wechselseitigen Beziehungen des Ernährungsministeriums und des Wirtschaftsministeriums sei es gerade im Interesse des Ernährungsministeriums seiner Meinung nach nicht erwünscht, daß der Ernährungsminister vorübergehend gleichzeitig das Wirtschaftsministerium führe.

7

Vertrauensmänner der in der Koalition verbliebenen Parteien sind: Stresemann für die DVP, Brauns für das Zentrum und Stingl für die BVP. Die weiterhin der Koalition angehörende WV ist im Kabinett nicht vertreten.

Die Reichsminister Graf v. Kanitz und Dr. Frenken traten diesen Auffassungen des Reichskanzlers durchaus bei.

Nachdem durch diese Erörterung eine lose Verständigung getroffen war, schlug der Reichskanzler vor, zwecks endgültiger Beschlußfassung einen neuen Ministerrat auf heute 6 Uhr abends einzuberufen. Er werde die Zwischenzeit benutzen, um dem Herrn Reichspräsidenten über die im Kabinett zutage getretene Auffassung Vortrag zu halten und sodann in den Nachmittagsstunden mit den Parteiführern sämtlicher Parteien des Reichstags kurz Fühlung zu nehmen8.

8

Hierüber berichtet Luther eingehend im oben vereinbarten Ministerrat (s. Dok. Nr. 209).

Das Reichskabinett erklärte sich einmütig mit diesem Vorschlag des Reichskanzlers einverstanden.

 

Im Hinblick darauf, daß Herren der Bayerischen Volkspartei augenblicklich in Berlin nicht anwesend sind, machte Reichsminister Stingl dem Reichskanzler davon Mitteilung, daß er durch den bayerischen Staatsrat Schmelzle heute morgen telefonisch namens des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Held die Vollmacht erhalten habe, nach eigenem Ermessen zu handeln. Diese Vollmacht habe allerdings nur der Bayerische Ministerpräsident Held persönlich ausgesprochen; da er aber gleichzeitig Führer der Bayerischen Volkspartei sei, umfasse dies gleichzeitig auch eine Vollmacht der Partei.

Ende der Besprechung 1 Uhr 30 Min.

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