2.84.1 (ma11p): 1. Entschädigung der chemischen Industrie durch das Reich für Reparationslieferungen (Rundschreiben des Herrn Reichsministers für Wiederaufbau vom 15.1.24 und des Herrn Reichsministers der Finanzen vom 21. Januar 1924:

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1. Entschädigung der chemischen Industrie durch das Reich für Reparationslieferungen (Rundschreiben des Herrn Reichsministers für Wiederaufbau vom 15.1.24 und des Herrn Reichsministers der Finanzen vom 21. Januar 19241:

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Im Rundschreiben vom 15. 1. an die RM hatte das RMinWiederaufbau (i. V. Müller) mitgeteilt: Die chemische Industrie des besetzten Gebiets habe erneut die Hilfe des Reichs erbeten bei der Durchführung von Reparationslieferungen von Farben und pharmazeutischen Produkten. Die Lieferverpflichtungen ergäben sich 1) aus einem Abkommen mit der Irko vom 10.11.23 über Nachlieferungen für 1923 an Frankreich, Belgien und Italien; 2) aus einer Vereinbarung mit der engl. Reg., ebenfalls über Nachlieferungen für 1923; 3) aus einer Vereinbarung mit der Repko über die Wiederaufnahme der Lieferungen aus der laufenden Produktion vom Dez. 1923. Hierfür wünsche die chemische Industrie vom Reich Barentschädigungen, oder, wenn das Reich hierzu nicht in der Lage sei, Anrechnung der Leistungen auf Reichssteuern. Nach Ansicht des RMinWiederaufbau komme eine Entschädigung für die unter 2) und 3) angegebenen Lieferverträge nicht in Betracht, da sie nicht unter dem Druck der Besatzungsmächte zustandegekommen seien. Anders lägen die Verhältnisse beim Abkommen mit der Irko. Hier sei ein Entgegenkommen der RReg. zu befürworten, um die chemische Industrie vor Beschlagnahmungen und schweren wirtschaftlichen Schäden zu bewahren.

In seiner Stellungnahme vom 21. 1. lehnte RFM Luther eine Entschädigung oder Steueranrechnung für Reparationsleistungen der chemischen Industrie ab. „Gewährt das Reich den Industrien, gegen welche die reparationspolitische Erpressungspolitik Frankreichs gerichtet ist, in irgendeiner Form einen Ausgleich für die ihnen aufgezwungenen Belastungen, so verhilft es damit der Pfänderpolitik Frankreichs zum finanziellen Erfolg, während das Lebensinteresse des Reichs es gerade erfordert, auf die Feststellung der Leistungsfähigkeit des Reichs als der Voraussetzung für die Auflage von Reparationsleistungen zu bestehen.“ Spätestens im Frühjahr 1924 würden die Franzosen vor der Tatsache stehen, „daß ihre bisherige Reparationspolitik die Industrie des besetzten Gebietes, von der sie diejenigen Reparationslieferungen glaubten erpressen zu können, zu denen das Reich aus eigener Kraft nicht mehr imstande war, völlig leistungsunfähig gemacht hat. Diese Entwicklung wird, vor allem wenn sie im Zusammenhang mit der Gestaltung der politischen Verhältnisse im besetzten Gebiet betrachtet wird, gewiß den Gegenstand ernster Sorge bilden müssen. Es darf aber dabei nicht aus dem Auge verloren werden, daß durch eine solche Entwicklung die Fehlerhaftigkeit der frz. Pfänderpolitik als Mittel zur Lösung des Reparationsproblems vor aller Welt dargetan würde. Was das für Frankreich in einem Augenblick, in dem der frz. Franken so bedenkliche Anzeichen der Schwäche zeigt, bedeutet, liegt ohne weiteres auf der Hand. In dieser Tatsache liegt der stärkste Druck, der überhaupt denkbar ist, um die Franzosen zu einer Änderung ihrer bisherigen Haltung gegenüber Deutschland in der Reparationsfrage zu veranlassen. […] Ich bin daher der Ansicht, daß ganz abgesehen von finanziellen Gründen, die eine Entschädigung oder Unterstützung der Industrien des besetzten Gebietes für geleistete Reparationslieferungen jetzt oder in absehbarer Zeit unmöglich machen, vor allem aus politischen Gründen dahin gestrebt werden muß, daß sich der Druck auf Frankreich, der sich aus der baldigen Erschöpfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der rheinischen Industrie für Reparationszwecke ergibt, verstärkt werden muß.“ (R 43 I /454 , Bl. 4 f., 40-42).

Staatssekretär Dr. Müller trug den Sachverhalt vor. Er bat, durch entgegenkommende Haltung in der Frage der Stundung von Steuern die Lage der chemischen Industrie im besetzten Gebiet zu erleichtern.

[309] Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß die chemische Industrie sich keinesfalls in einer besonders schwierigen Lage befinde. Ein Entgegenkommen sei nicht am Platze. Wenn man der chemischen Industrie in weitem Umfange Steuern stunde, so bedeute das in Wirklichkeit eine Zahlung von Reparationen.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte sich im wesentlichen mit dem Standpunkt des Staatssekretärs Müller einverstanden.

Der Reichsminister des Auswärtigen war der Auffassung, daß der Zeitpunkt nicht geeignet sei, für Ansprüche der chemischen Industrie einzutreten.

Der Reichskanzler bat zu erwägen, ob das Reichsfinanzministerium die Finanzämter anweisen solle, jedes einzelne Stundungsgesuch der chemischen Industrie genau zu prüfen.

Der Reichsminister der Finanzen bat um Vertagung der Angelegenheit, da er sich erst über die Einzelheiten des Stundungsverfahrens im besetzten Gebiet informieren müsse.

Demgemäß beschloß das Kabinett Vertagung2.

2

Die Angelegenheit wird im Kabinett nicht mehr behandelt. Später gibt der RFM seinen ablehnenden Standpunkt jedoch auf und gewährt der chemischen Industrie, ähnlich wie dem Ruhrkohlenbergbau, finanzielle Beihilfen zur Abdeckung von Reparationslieferungen und Beschlagnahmeschäden. (Vorgänge hierzu in R 43 I /192 , 193. Vgl. auch die Denkschrift des RFM vom 16.2.25 „Die Reparationslasten und Schäden der Privatwirtschaft des Ruhr- und Rheingebiets und ihre Erstattung durch das Reich“, RT-Drucks. Nr. 568 , S. 8, 23 f.).

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