2.90.1 (ma11p): 1. Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 3). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx I und II, Band 1 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

Extras:

 

Text

RTF

1. Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes.

Der Reichskanzler machte davon Mitteilung, daß er beabsichtige, in der Frage des Ermächtigungsgesetzes am Freitag [8. 2.] mit den Parteien Fühlung zu nehmen.

[323] Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte aus, daß nach seiner Auffassung ein Regieren mit dem Reichstag unmöglich sei. Das gelte sowohl von dem jetzigen Reichstag als auch von dem neu zu bildenden Reichstag, der wohl noch arbeitsunfähiger sein werde als der jetzige. Man müsse sich mit dem Gedanken vertraut machen, ohne Reichstag die Geschäfte weiter zu führen. Ihm sei der Gedanke einer Reichstagswahl in diesem Jahre unsympathisch; am liebsten wäre es ihm, wenn man einen Weg fände, die Reichstagswahl in diesem Jahre zu verhindern. Im Volk sei so viel Zündstoff angehäuft, sowohl von rechts als auch von links, daß eine Wahlagitation die schlimmsten Folgen zeitigen könne. In der Landwirtschaft sei es bereits zu Steuerstreiks und ähnlichen Dingen gekommen. In München sei eine starke rechtsradikale Agitation am Werke. Diese Bestrebungen würden dieses Mal in weit stärkerem Maße von der Landwirtschaft, insbesondere des Ostens, unterstützt als seinerzeit beim Hitlerputsch. In Süddeutschland, insbesondere in Baden und Württemberg, sei die kommunistische Agitation bedeutend gewachsen. Die Reichswehr, auf die man sich heute noch stützen könne, würde vielleicht in absehbarer Zeit nicht mehr als zuverlässig gelten können. Aus allen diesen Gründen glaube er, daß man auch den Ausnahmezustand nicht aufheben könne, ohne schweren Gefahren entgegenzugehen.

Der Reichswehrminister berichtete über eine Unterhaltung mit dem Reichstagsabgeordneten Koch. Dieser habe erklärt, er halte es für ausgeschlossen, daß eine Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes vom Reichstag zugestanden werde. Der Wunsch der bürgerlichen Parteien ginge nach seiner Ansicht dahin, die Reichstagswahl möglichst hinauszuschieben.

Was den Ausnahmezustand anlange, so sei er, der Reichswehrminister, der Auffassung, daß, sobald der Reichstag zusammentrete3, die Aufhebung verlangt werden würde. Er habe Berichte aus München bekommen, wonach die Agitation der Rechtsradikalen im Wachsen sei. Diese Agitation sei auch innerhalb der Reichswehr tätig. Hinzu komme, daß aus Moskau zur Zeit ein sehr scharfer Wind wehe.

3

Der RT hatte sich am 8.12.23 nach Annahme des Ermächtigungsgesetzes vertagt.

Der Reichsminister der Justiz erklärte, daß nach seinen Informationen bei Zusammentritt des Reichstags mit einem Mißtrauensvotum der Deutschnationalen zu rechnen sei. Die Linksparteien hätten, soweit er erfahren habe, die Absicht, einen Konflikt nach Möglichkeit zu vermeiden; es sei aber klar, daß diese Absicht sich sehr schnell ändern könne und daß die Führer gezwungen werden würden, sich dem Mißtrauen gegen die Regierung anzuschließen. Die innerpolitische Lage sei ernst. Er habe insbesondere vom Oberreichsanwalt4 Nachricht, daß in Baden und Württemberg die linksradikale Bewegung sehr stark sei. Die Landwirtschaft und die Beamten seien finanziell sehr schlecht gestellt und daher einer radikalen Stimmung leicht zugänglich. Man müsse auf einen Kampf mit dem Reichstag gefaßt sein. Die größten Schwierigkeiten würden sich erst im Sommer und im Herbst zeigen, und er glaube auch, daß der neue Reichstag nicht derart sein werde, daß man mit ihm regieren könne.

4

Ebermayer.

[324] Der Reichskanzler betonte, daß nach seiner Auffassung eine Kabinettskrise zur Zeit von den schlimmsten Folgen begleitet sein würde.

Der Reichsarbeitsminister erklärte, man könne unmöglich, wenn das Ermächtigungsgesetz nicht verlängert werde, die Reichstagswahl hinauszögern. Ein sachliches Arbeiten sei mit dem Reichstag unmöglich. Die Regierung könne mit einer Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes nicht rechnen, da ihre letzten Maßnahmen eine schwere Belastung des Volkes darstellten.

Der Reichskanzler hält nach wie vor einen Versuch einer Verständigung mit dem Reichstag für erforderlich.

Der Reichsminister der Finanzen ist der Auffassung, daß die Regierung sich auf keinen Fall von dem Reichstag über den Haufen rennen lassen dürfe; man müsse mit dem Herrn Reichspräsidenten dahin Fühlung nehmen, daß er für den Fall, daß der Regierung im Reichstag Schwierigkeiten entständen, das Auflösungsdekret zur Verfügung stelle.

Der Reichsverkehrsminister trat für Aufhebung des Ausnahmezustandes ein. Ferner müßten die laufenden Notverordnungen noch von dem Fünfzehnerausschuß erledigt werden.

Der Reichsminister des Auswärtigen betonte, daß es nach seiner Ansicht nicht richtig sei, jetzt von der Regierungsseite aus den Ausnahmezustand aufzuheben, sondern, wenn weiterhin Gründe für die Aufrechterhaltung beständen, so müßte er bestehen bleiben. Wenn dann der Reichstag die Aufhebung verlange, trage er für die eintretenden Folgen die Verantwortung. Er glaube nicht, daß, wenn man den Parteien klar mache, wie die innerpolitische Lage zur Zeit sei, sie an der Aufhebung des Ausnahmezustandes festhalten würden. Die Sozialdemokraten brächten in ihrer Presse Nachrichten von gewaltsamen Umsturzversuchen der Kommunisten. Sie würden daher zugeben müssen, daß es ein anderes Mittel, gegen diese Versuche vorzugehen, nicht gäbe, als den Ausnahmezustand beizubehalten.

Was das Ermächtigungsgesetz anlange, so müsse man vom Reichstag die Verlängerung verlangen. Auch hier sei es fraglich, ob die Sozialdemokraten sich diesem Verlangen widersetzen würden. Erhielte die Regierung das Ermächtigungsgesetz nicht, so müsse der Reichstag aufgelöst werden und eine ganz kurze Frist für die Neuwahl, etwa von 14 Tagen, festgesetzt werden.

Der Reichsminister des Innern glaubt, daß der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft die Lage etwas zu ernst geschildert habe. Richtig sei, daß von rechts und links gewaltig gehetzt werde. Auch er habe Nachricht darüber, daß es in Baden den Kommunisten gelungen sei, großen Anhang zu gewinnen. Das Schlimme sei, daß das Reich keine Exekutive habe; bei dem jetzigen Stand der Dinge könnte der Ausnahmezustand nicht entbehrt werden. Falls der Reichstag anderer Auffassung sei, müsse der Reichspräsident zur Auflösung schreiten. Selbstverständlich müsse zunächst mit den Parteien über die Frage des Ermächtigungsgesetzes verhandelt werden. Die Wahlfrist für einen neuen Reichstag könne auf 14 Tage bis 3 Wochen bemessen werden. Was das besetzte Gebiet anlange, so glaube er, daß man den Vertretern des besetzten Gebietes die Ermächtigung geben könne, mit der Rheinlandkommission wegen der Abhaltung von Wahlversammlungen pp. in Verhandlungen zu treten.

[325] Der Reichswirtschaftsminister erklärte, er hätte vor 3 Wochen eine Neuwahl für möglich gehalten, jetzt sei die Lage viel ernster. Auch die Zukunft sei bedrohlich; man dürfe sich vom Reichstag den Ausnahmezustand nicht aufheben lassen.

Der Reichskanzler hält eine besondere Besprechung über die Notwendigkeit des Ausnahmezustandes in den nächsten Tagen für erforderlich. Am Freitag dieser Woche [8. 2.] wolle er über das Ermächtigungsgesetz mit den Parteien verhandeln und bat die Minister, daran teilzunehmen5.

5

Eine Aufzeichnung über diese Besprechung in R 43 I nicht ermittelt.

Extras (Fußzeile):