1.105.1 (ma12p): Politische Lage.

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Politische Lage.

Der Reichskanzler verliest einen an ihn gerichteten Brief des Reichsernährungsministers Grafen Kanitz1 und bemerkt dazu, schon die Erklärung des Zentrumsvorstandes in Hannover hätte erkennen lassen, daß eine Erweiterung des Kabinetts nach zwei Seiten ernsthaft in Frage käme2. Ob[1091] er, der Reichskanzler, im Kabinett eine entsprechende Erklärung abgegeben habe, könne er nicht mehr mit Bestimmtheit sagen.

1

Dok. Nr. 316.

2

Gemeint ist anscheinend eine Entschließung des Parteivorstandes des Zentrums, die am 31. 8. in Hannover gefaßt wurde und in der es u. a. hieß: „Die Zentrumspartei hat getreu den Überlieferungen Windthorsts im Hinblick auf die Not unseres Volkes und Landes sich stets bemüht, alle politischen Kräfte zur staatlichen Verantwortung heranzuziehen, die positiv mitzuarbeiten gewillt sind. Die Politik der Partei wird auch in Zukunft von diesem bewährten Wege nicht abweichen. Das Ziel der dt. Zentrumspartei bleibt nach wie vor die Schaffung einer wahren Volksgemeinschaft, in der alle nationalen, sozialen und kulturellen Kräfte des dt. Volkes zur fruchtbaren Auswirkung gelangen können.“ Vgl. Georg Schreiber, Zentrum und deutsche Politik, 1924, S. 16, 42.

Die Äußerung im „Vorwärts“, wonach die Zustimmung der Sozialdemokraten zu einer Erweiterung nach beiden Seiten nicht ernst gemeint sei3, zerschlage viel. Die Sozialdemokraten würden sich dazu äußern müssen.

3

Gemeint ist wohl der Artikel „Bürgerblock oder Auflösung?“ im Vorwärts vom 5. 10.

Der Reichsminister des Auswärtigen Im August hätte eine ganze Reihe von Herren mit den Deutschnationalen verhandelt4. Er persönlich habe nur über eine abzugebende Regierungserklärung, nicht über eine Umbildung der Regierung verhandelt5. Die Deutschnationalen hätten aber gewußt, daß er als Parteivorsitzender von den Verhandlungen der Deutschen Volkspartei Kenntnis gehabt hätte.

4

Vgl. Dok. Nr. 316, Anm. 1.

5

Vgl. die Mitteilungen des RAM in der Kabinettssitzung vom 28. 8. (Dok. Nr. 289, P. 1).

Der Reichsminister des Innern Das Kabinett sei seines Erachtens in keiner Weise gebunden. Der Reichskanzler habe auch keine entsprechenden Verhandlungen geführt, wohl aber mehrere Kabinettsmitglieder persönlich. Er selbst habe im wesentlichen die sachlichen Gründe für eine Kabinettserweiterung betont und in der Frage der Umbildung von einer Erweiterung nach rechts gesprochen, dabei aber deutlich erklärt, daß die Außenpolitik des Kabinetts Marx fortgesetzt werden müßte. Insofern habe Graf Kanitz recht. Er habe den Eindruck, daß die Stimmung jetzt durch den Versuch nach beiden Seiten getrübt sei. Er habe damals über seine Besprechungen dem Kanzler berichtet und ihm gesagt, der Kanzler sei nicht gezwungen, sein Placet zu geben. Es würde aber von entscheidender Wirkung sein, wenn er erklärte, daß er Verhandlungen über eine Erweiterung nach rechts nicht billige. Der Reichskanzler habe ihm dann zu erkennen gegeben, daß er am liebsten eine Erweiterung nach beiden Seiten sehen würde.

Während es sich bei den Verhandlungen im Mai ausschließlich um eine Erweiterung nach rechts gehandelt habe, würde nunmehr die Erweiterung nach beiden Seiten stark betont. Er könne diese Entwicklung nur sehr schwer mitmachen und fürchte, daß man in eine Sackgasse geraten sei. Die Richtlinien6 würden seines Erachtens die Parteien nicht näher bringen.

6

S. Dok. Nr. 318.

Der Reichsverkehrsminister Für viele Politiker sei entscheidend, daß die Deutschnationalen den Wechsel nicht honoriert hätten, denn sie hätten nur in einer einzigen Abstimmung und auch nur mit der Hälfte ihrer Stimmen für die Regierung gestimmt7. Nachher habe die deutschnationale Presse wilde Artikel gebracht, was Verstimmung bei den Demokraten hervorgerufen hätte.[1092] Es herrsche vielfach die Ansicht, daß die Deutschnationalen nur in das Kabinett wollten, um die bisherige Politik zu sabotieren.

7

Gemeint ist die Schlußabstimmung im RT über das RB-Gesetz am 29. 8. (vgl. Dok. Nr. 289, Anm. 4).

Der Reichsminister des Auswärtigen Die Zeit für ein Zusammengehen von den Deutschnationalen bis zu den Sozialdemokraten sei s. E. noch nicht gekommen. Die Sozialdemokraten wollten es nicht ernsthaft, denn sie fürchteten dann an die Kommunisten stark zu verlieren. Die Sozialdemokratie wolle offensichtlich auf Neuwahlen hinauskommen. Zur Abstimmung der Deutschnationalen müsse er bemerken, daß sie den entscheidenden Punkt angenommen hätten. Die Volkspartei sehe nicht recht, wie jetzt die Dinge gefördert werden sollten. Die Deutschnationalen würden Gegenfragen stellen, und durch ein solches Frage- und Antwortspiel würde das Ansehen des Parlaments herabgesetzt, da man doch erkenne, daß die ganz große Koalition von den Parteien nicht ernst gemeint sei. Er befürchte auch einen Ansehensverlust des Kabinetts. Seine politischen Freunde wollten, daß Zentrum und Demokraten8 klare Stellung nähmen, ob sie mit den Deutschnationalen zusammengehen würden, wenn die Kombination mit den Sozialdemokraten scheitere. Im übrigen wisse er, daß die Deutschnationalen mit dem Radikalismus in ihrer Partei endgültig aufräumen wollten. Führe diese Absicht zu ihrer Spaltung, so sei es gut.

8

Statt „Demokraten“ steht im Protokoll „Sozialdemokraten“, jedoch ist „Sozial“ hschr. eingeklammert und mit einem Fragezeichen versehen. Sinngemäß muß es „Demokraten“ heißen.

Jetzt müsse man die Stellung der Fraktionen abwarten. Er bitte aber den Kanzler, die Sozialdemokraten zu fragen, wie sie sich zu dem genannten Vorwärts-Artikel stellten.

Zur Kölner Zone müsse er sagen, die linke Presse lege Herriot Gründe für die Nichträumung ja geradezu in den Mund.

Eine Vertagung der Umbildung bis zum 10. Januar sei nur möglich, wenn die Deutschnationalen ihr zustimmten. Seines Erachtens würde eine so begründete Verschiebung die Lage für uns außenpolitisch eher verschlechtern. Er bitte den Kanzler, den Versuch zu machen, auf der Grundlage der aufgestellten Richtlinien die Deutschnationalen ins Kabinett zu nehmen.

Der Reichskanzler stimmte den Ausführungen grundsätzlich zu. Die Deutschnationalen machten es aber dem Zentrum sehr schwer, beispielsweise im oberschlesischen Wahlkampf9.

9

Gemeint ist offenbar der Wahlkampf anläßlich der Nachwahlen zum RT im Wahlkreis 9 (Oppeln) am 21. 9. Die Nachwahl war notwendig geworden, da das Wahlprüfungsgericht die RT-Wahl vom 4. 5. in diesem Wahlkreis für ungültig erklärt hatte.

Die Sozialdemokraten werde er wegen des Vorwärts-Artikels fragen. Im übrigen wolle er allen Fraktionen eine kurze Frist zur Äußerung zu den Richtlinien setzen und zu der Frage, ob sie mit der ganz großen Koalition einverstanden seien.

Der Reichsminister des Innern Selbst wenn die Sozialdemokraten ihre Bereitschaft für die ganz große Koalition erklärten, so wollten sie es innerlich doch nicht. Eine praktische Politik würde in dieser Koalition auch unmöglich[1093] sein; er erinnere nur an die Frage der Wirtschaft, der Arbeitszeit, der Schule usw.

Der Reichskanzler Wenn beide Parteien seine Frage bejahten, so würde er den Versuch durchführen.

Hierauf wurde die Besprechung geschlossen; der Reichswirtschaftsminister wird eine Ergänzung der Richtlinien über die wirtschaftlichen Gesichtspunkte formulieren10.

10

S. Dok. Nr. 318, Anm. 7.

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