1.22.1 (ma12p): 1. Die im Reichstag abzugebende Erklärung auf die Interpellation über die Not der Landwirtschaft.

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1. Die im Reichstag abzugebende Erklärung auf die Interpellation über die Not der Landwirtschaft1.

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Vgl. hierzu Dok. Nr. 228, P. 1.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er mit dem Abgeordneten Hilferding in Vertretung des Fraktionsvorsitzenden Müller-Franken gesprochen habe. Die Sozialdemokratische Fraktion habe die Frage der Agrarzölle zunächst nur im engsten Kreise behandelt, so daß die Stellung der Fraktion noch nicht zu ersehen sei. Hilferding habe aber gleichwohl schon jetzt zum Ausdruck gebracht, daß diese Zölle für die Sozialdemokratie nur sehr schwer zu ertragen sein würden. Er habe angeregt, sie vielleicht dadurch etwas leichter tragbar zu machen, daß man in der Formulierung äußerst vorsichtig sei. Er (Reichskanzler) habe in Aussicht gestellt, über die Angelegenheit nochmals mit Müller-Franken und Hilferding vor der Erklärung im Reichstag zu sprechen.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft begründete nochmals ausführlich seinen Standpunkt. Der Landbund sei bereit, sich für die Zölle innerhalb der Deutschnationalen Fraktion einzusetzen2. Es habe dieserhalb innerhalb der Deutschnationalen Fraktion bereits heftige Auseinandersetzungen gegeben. Die Deutschnationale Fraktion, mit Ausnahme der Landbundvertreter, stehe auf dem Standpunkt, daß diese Angelegenheit ihr zur Erledigung vorbehalten bleiben müsse. Die Sozialdemokratie würde die Zölle hinnehmen müssen. Die Ankündigung werde möglichst ungefährlich gehalten werden. Der Vorschlag, zunächst nur Ausfuhrerleichterungen vorzunehmen, sei nicht ausreichend. Der weitere Vorschlag, den Gesetzentwurf wohl anzukündigen, ihn aber noch nicht einzubringen, sei unmöglich.

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Vgl. das Schreiben des Reichslandbundes an die RReg. vom 21. 6. (Dok. Nr. 230).

Der Reichskanzler bat den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, sich in der Frage der Einbringung des Gesetzentwurfs noch nicht festzulegen, vielleicht sei es doch möglich, noch einen anderen Ausweg zu finden. Sein Wunsch ginge dahin, jetzt alles zu vermeiden, was die Lage des Kabinetts erschwere. Den Standpunkt der Sozialdemokratie gegenüber den Agrarzöllen dürfe man nicht optimistisch ansehen. Müller-Franken habe sich auch schon ganz anders ihm gegenüber geäußert als Hilferding. Wenn von den extremen Parteien mit Bezug auf die Agrarzölle ein Mißtrauensvotum eingebracht werde, sei die Stellungnahme der SPD nicht abzusehen.

[744] Der Reichsminister des Auswärtigen stellte die Frage, ob die taktische Lage des Kabinetts dadurch gebessert werde, daß der Gesetzentwurf zwar angekündigt, aber nicht eingebracht werde. Er glaubte, daß die Kommunisten in jedem Falle einen Mißtrauensantrag stellen würden. Zweitens fragte er, ob damit zu rechnen sei, daß die Deutschnationale Fraktion, falls der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft seinen Weg jetzt ginge, einem evtl. eingebrachten Mißtrauensvotum nicht zustimmen würde.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft stimmte in der Beurteilung der ersten Frage mit dem Reichsminister des Auswärtigen überein. Bezüglich der zweiten Frage glaubte er, der Reichslandbund werde es erreichen, daß mindestens die Hälfte der Deutschnationalen einem Mißtrauensvotum nicht zustimmten.

Der Reichsminister des Auswärtigen fragte schließlich, ob nicht der Ausweg, daß der Gesetzentwurf jetzt angekündigt, die Einbringung aber von der Erledigung des Sachverständigengutachtens abhängig gemacht werde, möglich wäre. Ein derartiges Verfahren stände auch in Übereinstimmung mit den Erklärungen, die der Herr Reichskanzler der SPD gegeben habe.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erwiderte, daß demgegenüber die Deutschnationalen sich auf den Standpunkt stellen würden, die Einbringung dieses Gesetzentwurfs könnten sie später selbst vornehmen. Dann wäre die taktische Lage im Augenblick nicht gebessert.

Der Reichswehrminister war der Auffassung, daß ein sachliches Bedürfnis im Augenblick für diese Maßnahme nicht anerkannt werden könne. Die Preise für Auslandsgetreide seien höher wie die für das Inlandsgetreide, und es könnten daher die Preise für Auslandsgetreide nicht für die Lage der Landwirtschaft im Augenblick verantwortlich gemacht werden. Er sei bereit, alle Maßnahmen mitzumachen, die der Landwirtschaft tatsächlich Hilfe brächten. Bei dieser Maßnahme könne er aber nichts Vorteilhaftes entdecken. Taktisch sei aber die Lage in jedem Falle für das Kabinett ungünstig. Selbst wenn von den Deutschnationalen die Hälfte gegen ein Mißtrauensvotum stimmte und die Sozialdemokraten dafür stimmten, reichten die Stimmen für die Regierung nicht aus.

Der Reichsarbeitsminister führte aus, daß er grundsätzlich für einen wirksamen Schutz der Landwirtschaft sei. Die Voraussetzung scheine ihm aber die Lösung der außenpolitischen Fragen und die Herstellung der Verwaltung in den besetzten Gebieten zu sein. Dafür werde zweifellos die Landwirtschaft Verständnis haben. Die Maßnahme, die der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft jetzt vorschlage, scheine ihm im Augenblick vom wirtschaftlichen Standpunkt aus äußerst bedenklich. Die ganze Wirtschaftspolitik der Regierung sei gegenwärtig auf Preissenkung eingestellt. Agrarzölle würden diese Tendenz schon im Augenblick ihrer Ankündigung durchkreuzen. Ferner sei für die nächsten Wochen wieder mit einer großen Arbeitslosigkeit zu rechnen. Im Zusammenhang damit würden die Löhne gedrückt werden. Demgegenüber sei es nicht zu verantworten, daß die Regierung jetzt Maßnahmen in Aussicht stelle, die die Lebenshaltung verteuerten. Auch außenpolitisch erschiene ihm eine derartige Maßnahme bedenklich. Wenn in der Sitzung vom[745] 19. Juni das Kabinett der Maßnahme grundsätzlich zugestimmt habe3, so bilde das doch bei einer so schwierigen Materie keinen Hinderungsgrund, die Fragen nochmals grundsätzlich zu erörtern und evtl. einen neuen Beschluß zu fassen. Er glaube, es müsse der Landwirtschaft genügen, wenn die Regierung jetzt erkläre, daß sie alle Maßnahmen zum Schutze der Landwirtschaft ergreifen werde, die notwendig seien, sobald erst die Voraussetzung dafür gegeben wäre.

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Dok. Nr. 228, P. 1.

Der Reichskanzler glaubte feststellen zu können, daß das Kabinett in der Frage der Stützung der Landwirtschaft einig sei. Zweifel beständen nur darüber, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen, die an sich jetzt ohne jeden praktischen Erfolg seien, im gegenwärtigen Augenblick angekündigt und in Gesetzesform eingebracht werden sollten.

Der Reichswirtschaftsminister stimmte dem Reichskanzler grundsätzlich zu und schloß sich der Empfehlung des Reichsarbeitsministers an. Eine Steigerung der Preise in der nächsten Zeit durch Maßnahmen der Regierung sei untragbar. Außenpolitisch sei zu bedenken, daß auch schon mit einer Ankündigung derartiger Maßnahmen die Vermutung geweckt werde, Deutschland beabsichtige, wiederum zum Hochschutzzoll überzugehen. Die darin liegende Gefahr müsse vermieden werden.

Der Reichsminister der Finanzen Die Lage der Landwirtschaft sei schlecht. Das müsse jeder unbedingt anerkennen. Die politische Situation des Kabinetts bei Ankündigung von Agrarzöllen könne vielleicht dann erleichtert werden, wenn gleichzeitig steuerliche Erleichterungen in Aussicht gestellt würden. Nach reiflicher Überlegung sei er zu dem Ergebnis gekommen, daß es vielleicht möglich sei, die Umsatzsteuer um ½%, nämlich von 2½ auf 2% zu ermäßigen. Diese Herabsetzung der Umsatzsteuer würde allerdings einen monatlichen Einnahmeausfall von etwa 25 Millionen Mark bedeuten.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Er halte es für dringend erforderlich, daß gleichzeitig mit der Ankündigung des Gesetzentwurfs über Agrarzölle dieser auch den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt werde.

Der Reichsarbeitsminister Die Parteien seien auf einen derartigen Gesetzentwurf nicht vorbereitet. Deshalb warne er dringend davor, den Entwurf gleich einzubringen. Vielleicht sei es möglich, die Preise für inländisches Getreide auch dadurch in die Höhe zu treiben, daß man den Ankauf ausländischen Getreides allein in die Hände des Staates lege, also ein Einfuhrmonopol für Getreide schaffe. Wenn man dieses zum Weltmarktpreis gekaufte Getreide auch mindestens zum Weltmarktpreis verkaufe, dann müßten nach seiner Überzeugung auch die Preise für inländisches Getreide steigen.

Staatssekretär Hagedorn: Er halte es für ausgeschlossen, daß bei einem staatlichen Einfuhrmonopol für ausländisches Getreide die Preise für inländisches Getreide, die zur Zeit 118 M pro Tonne betrügen, während der Weltmarktpreis 150 M pro Tonne ausmache, erheblich steigen könnten.

[746] Das Bestreben der Regierung sei immer dahin gegangen, die Einfuhr für Getreide möglichst gering zu halten. Dieses Jahr werde man 500 000 Tonnen einführen. Im Inlande würden ungefähr 4 bis 5 Millionen Tonnen Getreide im Jahr produziert.

Der Reichsminister der Finanzen äußerte sich dahin, daß er von einem staatlichen Einfuhrmonopol sich nicht viel versprechen könne. Er habe diesen Gedanken seinerzeit genau nach allen Richtungen hin durchgeprüft und sei schließlich zu einem ablehnenden Ergebnis gekommen. Was die im Reichstag abzugebende Erklärung anbelange, so müsse sie möglichst allgemein gehalten werden. Das Wort „Agrarzölle“ sei tunlichst nicht in die Erklärung aufzunehmen. Auch müsse es vermieden werden, eine Herabsetzung der Umsatzsteuer in der Erklärung anzukündigen.

Der Reichskanzler vertrat die Auffassung, daß man über die im Reichstag abzugebende Erklärung sich einigen werde. Die Erklärung müsse möglichst allgemein gehalten werden, sie müsse das Wort „Schutzzölle“ vermeiden und nicht besagen, daß die Umsatzsteuer herabgesetzt werden solle. Über den Gesetzentwurf müsse das Kabinett nochmals beraten.

Der Reichskanzler schlug sodann vor, daß das Kabinett morgen (d. 27. 6.) vormittags 11 Uhr nochmals im Reichstage, und zwar im kleinen Reichsratssaal zusammenkommen solle, um über die vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft formulierte Erklärung zu beraten4.

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S. Dok. Nr. 236, P. 2.

Auf ausdrücklichen Wunsch des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft erklärte der Reichskanzler sodann, daß der Gesetzentwurf über Agrarzölle am Dienstag, den 1. Juli, im Kabinett beraten werden solle5, nachdem der Entwurf am Montag [23. 6.] den Ressorts zugegangen sei.

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Der GesEntw. über Zölle und Umsatzsteuer wird in der Kabinettssitzung vom 2. 7. beraten (Dok. Nr. 242, P. 2).

Das Kabinett war hiermit einverstanden.

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