1.107 (ma12p): Nr. 319 Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Reichskanzler. 8. Oktober 1924

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Nr. 319
Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Reichskanzler. 8. Oktober 1924

R 43 I /1306 , Bl. 107-109

[Stellungnahme zu den Richtlinien der RReg. betr. Regierungsumbildung]

Sehr verehrter Herr Reichskanzler!

Die uns heute morgen übermittelten Richtlinien über die von der Reichsregierung künftig zu führende Politik1 haben wir der sozialdemokratischen[1095] Reichstagsfraktion heute vorgetragen. Die Fraktion hat das Verhalten der sozialdemokratischen Unterhändler gebilligt und diese zu weiteren Besprechungen mit dem Herrn Reichskanzler bevollmächtigt2. Solche Besprechungen sind nach Auffassung der sozialdemokratischen Fraktion geboten, weil besonders über das außenpolitische Programm der Reichsregierung in Anbetracht der wichtigen nächsten Ziele der deutschen Außenpolitik absolute Klarheit herrschen muß. Aber auch in der inneren Politik muß das deutsche Volk den politischen Kurs klar erkennen können.

1

Dok. Nr. 318; s. dort auch Anm. 1.

2

Eine erste Besprechung zwischen dem RK und sozialdemokratischen Abgeordneten über die Regierungsumbildung hatte am 3. 10. stattgefunden (s. Dok. Nr. 311).

Unter voller Aufrechterhaltung unserer Bereitwilligkeit, im Rahmen des uns mündlich von dem Herrn Reichskanzler entwickelten Programms sachlich mitarbeiten zu wollen, bitten wir bei den weiteren Besprechungen um Klarstellung folgender Punkte:

In dem Absatz 1 der Richtlinien, die vom Schutze der bestehenden Verfassung vom 11. August 1919 handeln, ist das Wort „Republik“ vermieden. Als seinerzeit die große Koalition gebildet wurde, hat die Deutsche Volkspartei ausdrücklich anerkannt, daß der deutsche Wiederaufbau auf dem Boden der republikanischen Staatsform zu erfolgen habe. Der Führer der Mehrheit der deutschnationalen Reichstagsfraktion, Herr Schlange-Schöningen, hat jedoch noch vor kurzem auf der Tagung der Bismarck-Jugend in Braunschweig die Rückführung der Monarchie nach einem erfolgreichen Revanchekrieg öffentlich propagiert. Das nötigt unserer Auffassung nach dazu, daß jede Partei, die in die Reichsregierung einbezogen zu werden den Drang hat, in der Frage der Staatsform einer ganz unzweideutigen Fassung des Regierungsprogramms zustimmt.

In dem Absatz 2, der von der Außenpolitik handelt, scheint uns die schriftliche Formulierung des Kabinetts weniger präzis zu sein, als die mündliche Verhandlung vom 3. Oktober d. J.3 erwarten ließ. Die Londoner Verhandlungen haben erfreulicherwise, insbesondere wegen des Vertrauens, das sich der Herr Reichskanzler dort erwarb, die Voraussetzungen für eine fortschreitende Befriedung Europas und damit auch für die Herstellung stabiler Verhältnisse in Deutschland geschaffen. Unseres Erachtens kommt es jetzt derauf an, vor aller Welt klarzustellen, daß sich die Reichsregierung auf die Fortführung der bisherigen Außenpolitik des Kabinetts Marx festlegt. Eine Partei, die einer solchen Formulierung widerspräche, würde mit Recht den Verdacht wachrufen, daß sie die loyale Anwendung der Dawes-Gesetze nur aus taktischen Gründen zu innerpolitischen Zwecken akzeptieren, in Wahrheit aber sabotieren wolle.

3

Anm. 2.

Ferner bemerken wir, daß uns der Wortlaut des deutschen Memorandums bisher nicht bekannt ist. Wir nehmen an, daß der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund so schnell als möglich erfolgt, da festgestellt ist, daß Deutschland ein ständiger Ratssitz zugebilligt werden wird.

In der mündlichen Besprechung am 3. Oktober d. J. haben wir schon[1096] darauf hingewiesen, daß das Programm der Reichsregierung die Ratifikation des Washingtoner Abkommens über den Achtstundentag enthalten müßte. Nach der öffentlichen Erklärung, die der Herr Reichsarbeitsminister nach seiner Berner Besprechung mit den Arbeitsministern Englands, Frankreichs und Belgiens abgegeben hat, meinen wir, daß der von uns gewünschten Erklärung gar nichts mehr im Wege stehen kann. Das Vermeiden einer Stellungnahme gerade in diesem Punkte würde die Absichten der deutschen Reichsregierung leicht Mißdeutungen aussetzen, die dem Ansehen der deutschen Sozialpolitik sehr abträglich sein müßten4.

4

Der Entwurf der „Richtlinien“ hatte auch einen Satz über die Berner Besprechung der Arbeitsminister und das Washingtoner Arbeitszeitabkommen enthalten; jedoch war dieser Satz gestrichen worden; vgl. Dok. Nr. 318, Anm. 6.

Zu den Absätzen 3, 4 und 5, die die Steuer-, Wirtschafts- und Handelspolitik betreffen, bemerken wir in Kürze, daß die zum Schutze der menschlichen Arbeitskraft und der Hebung der Konsumkraft der breiten Volksmassen zu treffenden Maßnahmen vor Abfassung der Regierungserklärung genauerer Präzisierung bedürfen. Insbesondere die Kriegsinvaliden, die Kriegerwitwen und -waisen, die Sozial- und Kleinrentner, die Sparer und Erwerbslosen sind heute nicht vor dem bittersten Hunger geschützt. Ihnen muß geholfen werden, wenn sie nicht völlig der Verzweiflung anheimfallen sollen.

Wir sind der Überzeugung, daß sich unsere Wünsche im Rahmen des Programms des Herrn Reichskanzlers durchaus erfüllen lassen. Unsere Unterhändler stehen zu einer Besprechung über die von uns gewünschten präziseren Formulierungen gerne zur Verfügung.

Mit ausgezeichneter Hochachtung

ergebenst

Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Hermann Müller-Franken, M.d.R.

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