1.146 (ma12p): Nr. 358 August Thyssen-Hütte an den Reichskanzler. Hamborn, 20. November 1924

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[1185] Nr. 358
August Thyssen-Hütte an den Reichskanzler. Hamborn, 20. November 1924

R 43 I /2058 , Bl. 303-309

[Zur Wiedereinführung des Achtstundentages]

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

 

Der Herr Reichsarbeitsminister beabsichtigt, wie allgemein bekannt geworden ist, durch Ausführungsbestimmungen zu § 7 der Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 19231 in den Kokereien und in einem Teil der Hüttenbetriebe die achtstündige Arbeitszeit wieder einzuführen. Er hat den Reichswirtschaftsrat beauftragt, ihm ein Gutachten vorzulegen, aus dem hervorgeht, für welche Betriebe und für welche Arbeiterkategorien diese Maßnahme durchgeführt werden soll2. Der sozialpolitische Ausschuß des Reichswirtschaftsrates hat daraufhin am 4. November die Kokerei Bruckhausen der Gewerkschaft Friedrich Thyssen und die Hochöfen sowie die Stahl- und Walzwerke der August Thyssen-Hütte besichtigt und in mehrstündigen Verhandlungen unter Hinzuziehung von Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer das Problem des Achtstundentages einer eingehenden Erörterung unterzogen. Wir glauben, daß die Gründe, die bei dieser Gelegenheit von Arbeitgeberseite für die Notwendigkeit des zweigeteilten Arbeitstages angeführt worden sind, alle Mitglieder des Ausschusses von der Unmöglichkeit überzeugt haben, den Achtstundentag auch nur in einzelnen Betrieben wieder einzuführen. Da aber leider damit zu rechnen ist, daß bei einem Teil der Mitglieder des Ausschusses die wirtschaftliche Einsicht[1186] hinter politischen Rücksichtnahmen zurücktreten wird, möchten wir Ihnen in Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung dieser Frage für die künftige Gestaltung des deutschen Wirtschaftslebens kurz die wichtigsten Tatsachen vorführen, durch die die Beibehaltung des Zweischichtensystems in den Kokereien und in den sämtlichen Hüttenbetrieben gebieterisch verlangt wird.

1

Statt „21. Dezember 1923“ in der Vorlage irrtümlich „17. Dezember 1923“.

2

S. hierzu Dok. Nr. 368, P. 1, bes. Anm. 1.

Zunächst muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß eine Erhöhung der Leistung infolge größerer körperlicher Frische bei verkürzter Arbeitszeit auf Hüttenwerken unmöglich ist, da die Produktion in Hüttenbetrieben nicht von der mehr oder weniger großen Leistung des Arbeiters, sondern ausschließlich von der Größe und Gestaltung der Öfen und sonstigen Einrichtungen abhängt. So liefert z. B. ein Hochofen von bestimmter Größe bei gleichbleibenden technischen Bedingungen täglich etwa die gleiche Menge Roheisen, ganz gleichgültig, ob die Belegschaft in 24 Stunden einmal oder zweimal wechselt. Daß diese Überlegung richtig ist, geht daraus hervor, daß in der Zeit von Ende 1918 bis Anfang 1923, in der überall in Achtstundenschicht gearbeitet wurde, auf den rheinisch-westfälischen Hüttenwerken das Ausbringen an Fertigfabrikaten je Arbeiter und Monat nur etwa 55% der Friedensleistung betrug. Es kann wohl von keiner Seite bestritten werden, daß die durch Reparationsabgaben, ungeheure Steuern und Sozialabgaben, sowie durch hohe Frachten, Materialkosten und Löhne sehr stark belastete deutsche Eisenindustrie rettungslos dem Untergang verfallen ist, wenn sie mit nur etwas mehr als der Hälfte des Friedensausbringens arbeitet. Wohl mit Rücksicht auf diese unzweifelhaft feststehende Tatsache ist man auf den Gedanken gekommen, zunächst nur den auch sonntags beschäftigten Feuerarbeitern, d. h. einem Teile der Kokerei- und Hochofenarbeiter, den Achtstundentag wiederzugeben; man glaubt, auf diese Weise eine übermäßige Mehrbelastung der Werke vermeiden zu können. Auch dieser Plan ist praktisch undurchführbar. Jeder Fachmann weiß, daß es schon aus technischen Gründen unmöglich ist, in einer Betriebsabteilung, die stets ein geschlossenes Ganzes bilden muß, den Feuerarbeitern eine andere Arbeitszeit zu geben als den nicht den Einwirkungen der Hitze ausgesetzten Leuten. Dazu kommt, daß die Einführung der verkürzten Arbeitszeit für einen Teil der Belegschaft eines Werkes dauernde Kämpfe um die Festlegung der für die Erleichterungen in Frage kommenden Kategorien herbeiführen würde. Eine solche Maßnahme müßte zur Quelle ewiger Unzufriedenheit werden, und zwar mit Recht, denn bei allen einigermaßen gut eingerichteten Werken ist die körperliche Inanspruchnahme des Feuerarbeiters, z. B. die des Schmelzers an den Hochöfen, an den Martinöfen etc., viel geringer als die des Erzfahrers oder Abladers. Gerade bei den Feuerarbeitern ist eine Ausnutzung der achtstündigen Schicht unmöglich, denn der Umfang der sogenannten natürlichen Pausen, in denen infolge der Eigenart der hüttenmännischen Prozesse der Arbeiter sich nur in Bereitschaft zu halten hat, ist sehr groß. Ein Hüttenwerk kann nicht so regelmäßig wie eine gut beschäftigte, immer dieselben einfachen Stücke herstellende Maschinenfabrik betrieben werden; kleinere Störungen an den Hochöfen, die sich auf alle Betriebe auswirken, und unvorhergesehene Stillstände in anderen Teilen des Werkes sind unvermeidlich, so daß über die vorgeschriebenen Pausen hinaus noch viele größere und kleinere Arbeitsunterbrechungen und[1187] damit Erholungsmöglichkeiten eintreten. Von den Gewerkschaftsvertretern wird immer wieder behauptet, es sei möglich, durch Verbesserung der technischen Einrichtungen so große Ersparnisse zu erzielen, daß eine längere als die achtstündige Arbeitszeit nicht mehr erforderlich sei. Demgegenüber ist festzustellen, daß die immer weiter fortschreitende Mechanisierung der Einrichtungen allerdings zu einer Verringerung der Zahl der ungelernten Arbeiter führt, daß aber gleichzeitig eine dauernde Steigerung des Bedarfs an Facharbeitern eintritt, und wir weisen ganz besonders darauf hin, daß allein der Mangel an Facharbeitern, bei denen es infolge der Nachkriegsverhältnisse an Nachwuchs fehlt, die Wiedereinführung der Achtstundenschicht ganz unmöglich macht.

Ganz entschieden müssen wir die von den Gewerkschaften und von anderen nicht genügend unterrichteten Kreisen immer wieder aufgestellte Behauptung zurückweisen, daß es unmenschlich sei, den Arbeitern eines Hüttenwerks eine längere als die achtstündige Arbeitszeit zuzumuten. Von einer schädlichen Wirkung der längeren Arbeitszeit auf die Gesundheit kann tatsächlich keine Rede sein; die zweigeteilte Schicht entspricht vielmehr den Bedürfnissen des menschlichen Körpers, denn sie gibt im Gegensatz zum Achtstundentag dem Arbeiter Gelegenheit, in der Mittagszeit, wie er es von Jugend auf gewöhnt ist, eine warme Mahlzeit einzunehmen, auszuruhen und dann wieder frisch an die Arbeit zu gehen.

Auch die Leute in den sonntags durcharbeitenden Betrieben, auf die, wie erwähnt, das Arbeitsministerium besondere Rücksicht nehmen möchte, sind nicht übermäßig stark belastet, denn bei der weitaus größten Zahl der Hochofenwerke ist das sogen. Völklinger System eingeführt, das dem Arbeiter an jedem Sonntag eine 24stündige Ruhezeit gewährt, während er bei der Achtstundenschicht an einem Sonntag 8 Stunden, am nächsten 16 Stunden arbeiten muß und erst am dritten Sonntag vollständig frei ist. In Arbeiterkreisen besteht deshalb nach unseren Erfahrungen keineswegs die Auffassung, daß die längere Arbeitszeit in den Hüttenwerken eine Ungerechtigkeit für die Betroffenen bedeute; es kann im Gegenteil keinem Zweifel unterliegen, daß eine Wiedereinführung des Achtstundentags auch nur in einzelnen Betrieben der Hüttenwerke die Bergarbeiterschaft veranlassen wird, sofort mit aller Schärfe den Kampf um die Siebenstundenschicht wieder aufzunehmen. –

Zusammenfassend stellen wir fest, daß die gewichtigsten wirtschaftlichen und technischen Gründe zur Beibehaltung des zweigeteilten Arbeitstages in den Eisenhüttenwerken zwingen und daß eine die Gesundheit schädigende übermäßige Beanspruchung der Arbeiterschaft durch die jetzt bestehende Regelung nicht eintritt. In absehbarer Zukunft kann Deutschland der Verwirklichung der im Washingtoner Abkommen3 niedergelegten Grundsätze nicht nähertreten, ohne daß seine Eisenindustrie und damit in erster Linie auch seine Arbeiterschaft zugrunde gerichtet wird, muß vielmehr an der längeren Arbeitszeit zum mindesten solange unbeirrt durch alle inneren und äußeren Einflüsse festhalten,[1188] wie die deutsche Wirtschaft mit Reparationsabgaben belastet ist und unter den übrigen Folgen des Krieges zu leiden hat.

3

Washingtoner Abkommen von 1919 über den Achtstundentag.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Aug. Thyssen4

4

Die weiteren Unterschriften sind fortgelassen. – Mit Schreiben vom 9. 10. hatte der Zechenverband dem RK und RArbM eine Entschließung vom 8. 10. übersandt, in der es heißt: „Der Vorstand des Zechenverbandes ist heute in Essen zusammengetreten, beunruhigt durch die in das Ruhrrevier gelangten Nachrichten über eine bevorstehende Entscheidung des Reichsarbeitsministeriums in der Frage der Aufrechterhaltung des Zweischichtensystems in den absolut kontinuierlichen industriellen und bergbaulichen Betrieben. […] Die Versammelten geben ihrer einmütigen Auffassung dahin Ausdruck, daß eine Rettung aus der jetzigen Wirtschaftsnot nur denkbar ist, wenn die dt. Arbeitsleistung die der Vorkriegszeit zum mindesten erreicht. Der Zechenverband erachtet unter den heutigen Verhältnissen dieses Ziel nur dann für erreichbar, wenn das Zweischichtensystem zum mindesten im bisherigen Ausmaße aufrechterhalten bleibt, wobei der besondere Hinweis notwendig ist, daß die heutige Arbeitszeit im Ruhrbergbau sowohl über wie auch unter Tage hinter der Arbeitszeit der Vorkriegszeit zurückbleibt.“ Jede Abweichung vom bisherigen Zweischichtensystem würde „die wirtschaftlichen Grundlagen des Ruhrbergbaus und der von ihm abhängigen Industrien völlig zerrütten“, die Ruhrkohle auf dem Weltmarkt konkurrenzunfähig machen, Betriebseinstellungen und vermehrte Arbeitslosigkeit zur Folge haben (R 43 I /2127 , gefunden in R 43 I /2172 , Bl. 337-339). Daraufhin teilte der RArbM dem Zechenverband in einem Schreiben vom 14. 11. u. a. mit: „Neuerdings habe ich infolge der in zahlreichen Eingaben zum Ausdruck kommenden wachsenden Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem in den durchlaufenden Betrieben der Großeisenindustrie bestehenden Zweischichtensystem und auch im Hinblick auf die vom Ausland, besonders auf der letzten Jahrestagung des Internationalen Arbeitsamts in Genf, gegen die Verlängerung der Arbeitszeit in Deutschland gerichteten Angriffe [vgl. Dok. Nr. 236, Anm. 1] den beschleunigten Erlaß einer Ausführungsverordnung zum § 7 [der ArbeitszeitVO vom 21.12.23] für die auch sonntags uneingeschränkt betriebenen Kokereien und Hochofenanlagen in Erwägung ziehen müssen. Ich habe daher den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat gebeten, sein Gutachten hinsichtlich dieser Betriebe möglichst zu beschleunigen. […] Selbstverständlich werden vor dem Erlaß solcher Bestimmungen die wirtschaftliche Seite der Frage und die Möglichkeit einer Rückwirkung auf die Arbeitszeit in den übrigen Betrieben der Großeisenindustrie und im Bergbau im Benehmen mit den beteiligten behördlichen und privaten Stellen sorgfältigst geprüft.“ (R 43 I /2127 , gefunden in R 43 I /2172 , Bl. 316-318). Die Frage der Arbeitszeitverkürzung in Kokereien und Hochofenwerken wird in der Ministerbesprechung vom 10. 12. ausführlich behandelt (Dok. Nr. 368, P. 1).

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