1.2.8 (ma31p): 8. Innenpolitik

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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8. Innenpolitik

a) Republikschutzgesetz, Nationalfeiertag und Flaggenstreit

Die erste Belastungsprobe der Regierungskoalition im Bereich der Innenpolitik ergab sich aus dem Umstand, daß das nach der Ermordung Rathenaus erlassene Gesetz zum Schutz der Republik im Juli 1927 ablief. Bereits wenige Wochen nach der Konstituierung des vierten Kabinetts Marx, am 18. März, verlangte der preußische Ministerpräsident Braun in einem – auch in der Presse veröffentlichten – Schreiben an den Reichskanzler die Verlängerung des Republikschutzgesetzes mit der Begründung, daß es als Handhabe zur Bekämpfung republikfeindlicher Bestrebungen und Organisationen weiterhin unentbehrlich sei; ganz besonderen Wert legten Braun und die preußische Regierung auf die Beibehaltung des § 23, des sogenannten „Kaiserparagraphen“, der die Reichsregierung ermächtigte, dem früheren Kaiser die Rückkehr nach Deutschland zu untersagen216. Kurz darauf stellte Preußen im Reichsrat den Antrag, zwei wichtige Strafbestimmungen des Republikschutzgesetzes in den Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs aufzunehmen. Obwohl die Reichsregierung um die Zurückstellung des Antrags bat, wurde er von der Mehrheit der Ländervertretung angenommen217.

216

Dok. Nr. 204; siehe dazu auch Dok. Nr. 189.

217

Dok. Nr. 213, P. 3; 219, P. 2; 220, P. 4; 227, P. 1.

Diese Initiativen der preußischen Regierung berührten einen höchst sensiblen Punkt der Regierungskoalition im Reich, hatten doch die Deutschnationalen das Republikschutzgesetz seit jeher als „Ausnahmegesetz gegen rechts“ erbittert bekämpft, wiederholt seine Aufhebung gefordert und besonders den § 23 als Diskriminierung des ehemaligen Kaisers entschieden abgelehnt. Andererseits hatte sich die DNVP bei ihrem Eintritt in das Reichskabinett förmlich zum Schutz der republikanischen Staatsform und ihrer Symbole verpflichtet und stellte mit Justizminister[LXXXVI] Hergt und Innenminister v. Keudell die hierfür zuständigen Ressortminister. Angesichts dieses Dilemmas kam der Haltung des Zentrums eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Schon mit Rücksicht auf den republikanischen Flügel der Partei durfte sich die Zentrumsführung in einer derart zentralen verfassungspolitischen Frage keinesfalls dem Verdacht der Nachgiebigkeit gegenüber dem deutschnationalen Koalitionspartner aussetzen. Außerdem mußte damit gerechnet werden, daß nicht nur Preußen und einige andere Länder, sondern auch die sozialdemokratische und die demokratische Opposition im Reichstag auf der Beibehaltung des Republikschutzgesetzes bestehen würden. Hierzu aber war, wegen seines verfassungsändernden Charakters, die Zustimmung der Deutschnationalen erforderlich.

Als die Beratungen des Kabinetts und der Regierungsparteien Anfang Mai in ihr entscheidendes Stadium eintraten, setzte sich Marx nachdrücklich dafür ein, die Geltungsdauer des Republikschutzgesetzes für eine Übergangsfrist von zwei Jahren in unveränderter Fassung zu verlängern. Dadurch sollte eine koalitionsgefährdende Auseinandersetzung über strittige Einzelvorschriften des Gesetzes vermieden und die endgültige Entscheidung bis nach den nächsten Reichstagswahlen hinausgeschoben werden. Hindenburg war bereits grundsätzlich für den Plan einer Verlängerung gewonnen worden; zwar hatte der Reichspräsident in einer Unterredung mit Braun eingewandt, daß er „in eine üble Lage kommen müsse“, wenn er durch seine Unterschrift unter ein Verlängerungsgesetz mit dem anstößigen § 23 „den vormaligen Kaiser erneut verbanne“, doch hatte er sich schließlich von der Unvermeidlichkeit einer pauschalen Prolongierung überzeugen lassen218. Den Deutschnationalen fiel es dagegen außerordentlich schwer, sich aus ihrer seit Jahren praktizierten schroffen Opposition gegen das „Ausnahmegesetz“ zu lösen. Wie Graf Westarp in den interfraktionellen Besprechungen mitteilte, wollte die deutschnationale Fraktion der vom Zentrum für notwendig gehaltenen Verlängerung allenfalls unter der Bedingung zustimmen, daß ihr bestimmte Konzessionen gewährt würden. In erster Linie wünschte die DNVP die Aufhebung des Staatsgerichtshofs zum Schutz der Republik sowie die Streichung des Kaiserparagraphen. Hinsichtlich des Staatsgerichtshofs, der sich auch bei der Linken mißliebig gemacht hatte, konnte die DNVP dank der vermittelnden Haltung von Scholz und Leicht einen Teilerfolg erzielen: Man einigte sich darauf, daß die noch bestehenden Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs auf einen Senat des Reichsgerichts und später auf das projektierte Reichsverwaltungsgericht übertragen werden sollten. Dagegen stieß die deutschnationale Forderung nach Beseitigung des Kaiserparagraphen auf den einhelligen Widerspruch der übrigen Regierungsparteien. Da die DNVP es nicht auf den Bruch der Koalition und den Verlust ihrer Regierungsbeteiligung ankommen lassen wollte, lenkte sie schließlich ein und erklärte sich am 13. Mai mit der Einbringung eines gemeinsamen Initiativantrags der Regierungsparteien einverstanden, der die zweijährige Verlängerung des Republikschutzgesetzes einschließlich seines § 23 vorsah. Wenige Tage später wurde die Verlängerung mit den Stimmen der Koalition, der SPD und der DDP im Reichstag beschlossen. Von den Oppositionsparteien wurde die unerwartete Zustimmung der Deutschnationalen als opportunistische Taktik und als Kapitulation vor dem Zentrum teils verspottet, teils[LXXXVII] kritisiert, so daß Graf Westarp sich zu der Erklärung veranlaßt sah, daß an der grundsätzlichen Gegnerschaft seiner Partei gegen die Ausnahmebestimmungen des Gesetzes sich nichts geändert habe219. Diese in erster Linie zur Beschwichtigung des rechten DNVP-Flügels bestimmte Erklärung konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Führung und die Fraktionsmehrheit der DNVP monarchistische Prinzipientreue faktisch der Koalitionsräson untergeordnet hatten. Reichskanzler Marx fand das Verhalten der Deutschnationalen „wert aller Anerkennung“, und der Vorsitzende der DDP, Koch-Weser, vertraute seinem Tagebuch das aufschlußreiche Urteil an, daß die Deutschnationalen in der Regierung eine „größere Elastizität als die Sozialdemokraten“ zeigten220.

218

Dok. Nr. 214; 220, Anm. 7.

219

Dok. Nr. 227, P. 1; 230; 231, Ministerbesprechung, P. 5; 232; 233, P. 1; 234; 235. – Siehe dazu auch Dok. Nr. 240, Anm. 10 und 11.

220

v. Hehl, Wilhelm Marx, S. 418; Nachl. Koch -Weser, Nr. 36, S. 161–163; Haungs, Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung, S. 217.

Nachdem die schwierige Entscheidung über die Verlängerung des Republikschutzgesetzes getroffen war, stellten die Sozialdemokraten und die Demokraten im Juni 1927 den Antrag, den 11. August, den Tag der Verabschiedung der republikanischen Reichsverfassung, zum Nationalfeiertag zu erklären und aus diesem Anlaß die öffentlichen Gebäude in den Reichsfarben zu beflaggen sowie in allen Schulen für Lehrer und Schüler verbindliche Feiern zu veranstalten. Nach den Erfahrungen, die man in den vergangenen Jahren mit ähnlichen Gesetzesinitiativen gemacht hatte, bestand angesichts der Uneinigkeit der Parteien in Fragen der nationalen Symbolik keine Aussicht, daß dieser Antrag im Reichstag eine Mehrheit finden würde. Die ablehnende Haltung der Deutschnationalen kam exemplarisch in einem Schreiben des der DNVP angehörenden württembergischen Staatspräsidenten Bazille zum Ausdruck: „Nationaler Festtag kann nur ein Tag sein, von dem das Volk im ganzen überzeugt ist, daß dieser Tag etwas Großes in seinem Leben bedeutet. Das kann nun aber niemand von dem Verfassungstag behaupten“221. Aber auch von der BVP und der DVP wurde der SPD-DDP-Antrag abgelehnt, während das Zentrum ihn nur mit Einschränkungen billigte. Innenminister v. Keudell behandelte die Angelegenheit infolgedessen dilatorisch. Schließlich kamen die Koalitionsparteien überein, die Erörterung des Oppositionsantrages mit der Beratung eines Antrags der Zentrumsfraktion zu verbinden, der mit der Regelung des Verfassungstages zugleich auch die reichsgesetzliche Sanktionierung bestimmter kirchlicher Feiertage verlangte. Im Rechtsausschuß des Reichstags, dem die komplexe Feiertagsproblematik überwiesen wurde, mußten die Verhandlungen sehr bald ergebnislos abgebrochen werden, da die Parteien auf ihren unterschiedlichen Standpunkten beharrten222. Auch blieben alle Bemühungen vergeblich, einen Konsens über den Standort des seit längerem geplanten Reichsehrenmals sowie über einen reichseinheitlichen Termin für den Volkstrauertag herbeizuführen223.

221

Dok. Nr. 255.

222

Dok. Nr. 249, P. 1 u. 2255; 256, P. 6; 259, P. 7; 262, P. 2; 264, P. 3; 267, P. 2. Vgl. Jasper, Der Schutz der Republik, S. 230 ff., 238 f.

223

Dok. Nr. 62, P. 2; 186, P. 6; 242, P. 6; 377, P. 3.

Während der Kontroverse über den Verfassungstag nahm auch der die Nation spaltende Flaggenstreit wieder an Heftigkeit zu. Symptomatisch hierfür war der Konflikt zwischen einigen prominenten Berliner Hotels und der preußischen Regierung.[LXXXVIII] Diese untersagte den preußischen Beamten die Teilnahme an Veranstaltungen in denjenigen Hotels, die sich geweigert hatten, am Verfassungstag die schwarz-rot-goldene Flagge zu hissen. Der preußische Ministerpräsident erblickte in dem Verhalten der Hotels eine Mißachtung der bestehenden Staatsform, die eine republikanische Regierung nicht dulden dürfe. Das Reichskabinett schloß sich der preußischen „Boykott“-Maßnahme nicht an, erreichte aber in einer auf Initiative des Reichskanzlers eingeleiteten Vermittlungsaktion, daß die Hotels sich bereit erklärten, beim bevorstehenden 80. Geburtstag des Reichspräsidenten und an nationalen Gedenktagen die „Reichsflaggen“, d. h. sowohl die schwarz-rot-goldene wie auch die schwarz-weiß-rote Flagge zu zeigen224. In die gleiche Richtung wies ein bedeutsamer, im Kabinett allerdings nicht vorberatener Erlaß des Reichswehrministers Geßler vom 15. August 1927, demzufolge auf militärischen Dienstgebäuden neben der schwarz-weiß-roten Kriegsflagge künftig auch die schwarz-rot-goldene Nationalflagge aufgezogen werden sollte und der den Reichswehrangehörigen verbot, ihre Privatwohnungen nur mit Schwarz-Weiß-Rot zu beflaggen225. Diese auf einen versöhnenden Ausgleich zwischen den Anhängern des „alten“ und des „neuen“ Deutschland abzielende Kompromißlösung entsprach der offiziellen Linie der amtierenden Reichsregierung, wie sie in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung des Reichskanzlers zum Ausdruck gekommen war226, indes stellte sie weder die entschiedenen Republikaner noch die nationalistische Rechte zufrieden. Die Republikaner bestanden auf dem eindeutigen Vorrang von Schwarz-Rot-Gold, während die antirepublikanischen Kräfte den Geßlerschen Flaggenerlaß als eine Geste schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber der Linken kritisierten227. In dem auch in der Stabilisierungsphase der Republik fortdauernden, emotionsgeladenen Streit um die staatlichen Symbole trat der fehlende demokratische Grundkonsens besonders sinnfällig in Erscheinung.

224

Dok. Nr. 289, P. 2; 299; 458, P. 5.

225

Flaggenerlaß Geßlers mit Begleitschreiben an Hindenburg in R 43 I /686 , Bl. 291–295; Abdruck des Flaggenerlasses u. a. in: Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, in: Jb. des öff. Rechts, Bd. 17, S. 7 f.

226

Dok. Nr. 177, Anm. 3; RT-Bd. 391, S. 8791 .

227

Vgl. Politisches Jahrbuch 1927/28, S. 109 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 615 ff.

b) Das Problem der Reichsreform und die Länderkonferenz

In der mittleren Periode der Weimarer Republik, insbesondere seit dem Jahre 1926, lebte die Diskussion über eine Reform des Reich-Länder-Verhältnisses wieder auf228. Politiker, Gelehrte und Verwaltungspraktiker traten mit einer Fülle von Reformvorschlägen in unitarischer, föderalistischer oder vermittelnder Absicht an die Öffentlichkeit, und auch die Wirtschaftsverbände und die politischen Parteien engagierten sich in zunehmendem Maße in dieser Frage, wobei die vorwiegend unitarisch orientierten Parteien wie die DDP und die SPD zunächst die größere Aktivität entfalteten. Die markantesten Ansatzpunkte der reformerischen Kritik bildeten der Dualismus zwischen dem Reich und Preußen, die höchst unzweckmäßige[LXXXIX] Territorialgliederung des Reichs in Länder von extrem unterschiedlicher Größe, Struktur und Leistungsfähigkeit (Preußen, Schaumburg-Lippe), die Vielzahl von Ex- und Enklaven sowie die unbefriedigende Regelung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung mit der Folge fortwährender Kompetenzstreitigkeiten und des vielkritisierten, effizienzmindernden „Neben-, Gegen- und Durcheinander“ von Reichs- und Länderbehörden.

228
 

Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 477 ff.; Biewer, Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik, Frankfurt 1980.

Das Kardinalproblem jeder Reichsreform bildete der Dualismus zwischen dem Reich und Preußen. Zwar bekannte sich der preußische Ministerpräsident Otto Braun in mehreren Reden während des Jahres 1927 entsprechend dem unitarischen Programm der SPD zum Einheitsstaat als dem erstrebenswerten Ziel der deutschen Verfassungsentwicklung, zugleich wandte er sich aber nachdrücklich gegen jede „Zerschlagung“ oder Auflockerung des preußischen Großstaates, weil Preußen als Bollwerk der demokratischen Republik und als Kern eines künftigen Einheitsstaates in seinem Bestand unversehrt erhalten bleiben müsse229. In der Konsequenz dieses Standpunktes hat Braun sich mit großer Entschiedenheit für die Wahrung preußischer Belange eingesetzt. Die Liste der an die Adresse der Reichsregierung gerichteten Forderungen und Beschwerden Preußens war inzwischen recht umfangreich geworden. Sie reichte von dem bereits erwähnten Verlangen nach Einräumung eines Verwaltungsratssitzes der Reichsbahn-Gesellschaft230 über verschiedene finanzielle Entschädigungsforderungen bis zur Klage über eine Benachteiligung Preußens gegenüber Bayern und den anderen süddeutschen Ländern. Die meisten dieser Gravamina waren älteren Datums und hatten bereits frühere Reichsregierungen beschäftigt, aber Braun ging nun verstärkt dazu über, den Katalog der unerledigten Streitpunkte dem preußischen Landtag und der Öffentlichkeit zu unterbreiten, wobei er „gewissen Reichsstellen“ vorwarf, sie trieben „eine bewußt antipreußische Politik“231. Zweifellos hat die parteipolitisch unterschiedliche Zusammensetzung der beiden Berliner Regierungen in der Zeit des vierten Kabinetts Marx – „Bürgerblock“ im Reich, Weimarer Koalition in Preußen – zur Verschärfung bereits bestehender Spannungen beigetragen. Auch boten politische Mißgriffe und taktische Ungeschicklichkeiten des deutschnationalen Reichsinnenministers v. Keudell dem preußischen Ministerpräsidenten Anlaß zu scharfer Reaktion232. Die Ausgleichsbemühungen des Reichskanzlers und die vermittelnde Haltung des Zentrums, das als einzige Partei beiden Regierungskoalitionen angehörte, vermochten die Konflikte wohl zu begrenzen, ganz zu vermeiden waren sie nicht, wurzelten sie doch letztlich in dem verfassungsbedingten, rivalisierenden Nebeneinander zweier Großregierungen und -parlamente.

229

Otto Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem?, Berlin 1927; Schulze, Otto Braun, S. 584 ff. – Zur Haltung der sächsischen SPD bzw. der sächsischen Landesregierung in der Frage „Einheitsstaat“ oder „Föderativstaat“ vgl. Dok. Nr. 346.

230

S. XXVIII.

231

Dok. Nr. 192; 194; 225; 322, P. 7, bes. Anm. 8.

232

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Entlassung des bewährten, republikanisch gesinnten MinDir. Brecht durch Keudell (Dok. Nr. 221; Schulze, Otto Braun, S. 522 f.), die Attacke Keudells gegen den preußischen Reichsratsbevollmächtigten Badt (Dok. Nr. 284, S. 889; Schulze, a. a. O., S. 527 ff.) und das Sympathietelegramm Keudells an die Deutsche Studentenschaft (Schulze, S. 531 ff.; Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 1016 f.).

[XC] Die Hochburg eines prononcierten Föderalismus war seit jeher Bayern. Die Denkschriften der bayerischen Staatsregierung von 1924 über die „Revision der Weimarer Reichsverfassung“ und von 1926 über die „fortschreitende Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit der Länder“ zielten programmatisch auf einen stärkeren Ausbau der föderalen Komponente des Weimarer Verfassungskompromisses233. Dementsprechend kamen die schärfsten Proteste gegen einheitsstaatliche und zentralistische Bestrebungen, gegen jede direkte oder indirekte Beeinträchtigung der Länderrechte in aller Regel aus München. Aber auch Preußen und die anderen lebenskräftigen Länder fanden sich mit Bayern ungeachtet aller sonstigen Differenzen gelegentlich in einer gemeinsamen Abwehrfront zusammen, wenn es darum ging, die ihnen verbliebenen Zuständigkeiten des deutschen Staatenföderalismus gegen expansive Tendenzen der Reichsverwaltung und -gesetzgebung zu verteidigen. Im Bereich der Verwaltung waren die Länder hierin zuletzt auch verhältnismäßig erfolgreich. So hatten sich die Verkehrsminister verschiedener Reichsregierungen vergebens darum bemüht, die Zustimmung der Länder zur Übertragung der Reichswasserstraßenverwaltung in der mittleren und unteren Instanz auf reichseigene Behörden zu erlangen. Auch konnte wegen der Opposition der auf Bewahrung ihrer Polizeihoheit bedachten Landesregierungen weder das im Reichskriminalpolizeigesetz von 1922 geplante Reichskriminalpolizeiamt noch eine in ganz bescheidenem Zuschnitt gehaltene Reichskriminalpolizeistelle errichtet werden. Und schließlich waren auch die bisherigen Versuche, das in der Weimarer Verfassung vorgesehene Reichsverwaltungsgericht als oberste Instanz für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zu schaffen, am hinhaltenden Widerstand der mit eigenen Oberverwaltungsgerichten ausgestatteten Länder gescheitert234. Der einzige, freilich bedeutsame administrative Machtzuwachs des Reichs ergab sich aus der Gründung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als einer aus der Verwaltungssphäre der Länder und Kommunen herausgelösten Sonderverwaltung.

233

Zu den bayer. Denkschriften siehe diese Edition, Die Kabinette Marx I/II, S. XVI u. Dok. Nr. 63, P. 1; Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 336, dort bes. Anm. 7; Die Kabinette Marx III/IV, Dok. Nr. 3, P. 1. Menges, Reichsreform und Finanzpolitik, S. 28 ff.

234

Reichswasserstraßenverwaltung: Dok. Nr. 44, P. 2; 114, P. 3; 119, P. 2 e; 192, P. 7; 279, P. 1; 393, P. 5. Reichskriminalpolizeistelle: Dok. Nr. 89, P. 1. Reichsverwaltungsgericht: Dok. Nr. 192, P. 10.

Ein Symptom der labilen Verfassungsverhältnisse und ein bevorzugtes Thema der Reichsreformdiskussion war das ungelöste Finanzproblem, wie es in den chronischen Auseinandersetzungen über den Finanzausgleich und eine möglichst gerechte Lastenverteilung zutage trat. Nachdem die Länder durch die Erzbergersche Finanzreform zu „Kostgängern“ des Reichs geworden waren, hatte sich das Schwergewicht finanzpolitischer Entscheidungen nach der Markstabilisierung unter dem Druck der Reparationsverpflichtungen weiter zugunsten der Reichszentralgewalt verschoben. Zwar wiesen die Steuerüberweisungen des Reichs an die Länder seit 1925 eine jährlich steigende Tendenz auf, doch wuchsen die Ausgaben und der Finanzbedarf der Länder noch stärker an. Hatten die Vorberatungen über das im April 1927 verabschiedete Finanzausgleichsprovisorium bereits Anlaß zu heftigen Kontroversen geboten, die mit unitarischen bzw. föderalistischen Parolen ausgefochten wurden, so spitzten sich die Verhältnisse im Sommer und Herbst 1927[XCI] weiter zu. Das vom Reichskabinett vorgelegte Rahmengesetz über die Vereinheitlichung der Realsteuern wurde, wie bereits dargelegt, von der Mehrzahl der Länder als eine Attacke auf die Reste ihrer Finanzautonomie gewertet, und die vom Reich geplante beträchtliche Erhöhung der Beamtengehälter drohte die Etats der Länder, insbesondere der leistungsschwachen und der kleineren, mit einem zusätzlichen Dauerdefizit zu belasten235.

235

Vgl. oben S. LXX f., LXXV f.

Unter diesen Umständen stellte sich die Frage, ob und wie lange noch die kleineren deutschen Gliedstaaten in der Lage sein würden, angesichts der wachsenden finanziellen Lasten ihre Eigenstaatlichkeit zu behaupten. In Hessen war bereits 1926 als letzter Ausweg aus den bedrohlich zunehmenden Haushaltsschwierigkeiten die Preisgabe der staatlichen Selbständigkeit und die Umbildung des Landes in eine „Reichsprovinz“ oder ein „Reichsland“ erörtert worden. Um der hessischen Regierung die Balancierung des Etats zu erleichtern, hatte sich das Reichskabinett zur Gewährung von Kassenvorschüssen bereit erklärt, während Hessen in eine Überprüfung seiner Finanzgebarung und Staatsverwaltung durch Reichskommissare einwilligte. Als trotz der inzwischen eingeleiteten Sanierungsaktion im Jahre 1927 die Finanzlage Hessens sich weiter verschlechterte, erhielten die Zweifel an der Lebensfähigkeit des Landes neue Nahrung236. Nach in Berlin vorliegenden Informationen wurde auch in anderen mittel- und norddeutschen Territorien als ultima ratio entweder der Anschluß an Preußen oder die unmittelbare Unterstellung unter die Reichsgewalt erwogen. Im August teilte Stresemann seinen Ministerkollegen mit, er habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß „bei mehreren kleinen deutschen Bundestaaten der Wunsch“ bestehe, „ihre Selbständigkeit aufzugeben und in irgendeiner Form Reichsland zu werden“. Der Außenminister regte die baldige Einleitung von Verhandlungen mit den betreffenden Ländern an, doch Postminister Schätzel warnte vor übereilten Schritten in dieser heiklen Frage237. Auch das Reichsministerium des Innern, das in einem inoffiziellen Exposé die staatsrechtliche und organisatorische Problematik der – in der Weimarer Verfassung ja nicht vorgesehenen – Bildung von Reichsländern beleuchtete, hielt es für ratsam, die weitere Entwicklung abzuwarten und die Initiative den Ländern zu überlassen238.

236

Dok. Nr. 32; 66; 68, P. 1; 334, Ministerbesprechung, P. 1 (dort S. 1054 f.).

237

Dok. Nr. 285 (S. 889 f.).

238

Dok. Nr. 305.

Den Ausgangspunkt für eine amtliche Beratung der Reichsreformfrage auf höchster Ebene bildete die Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder am 3. Oktober 1927, in der die Regierungschefs Gelegenheit erhielten, ihre Beschwerden über die Politik des Reichs vorzutragen239. Hierbei beklagte sich vor allem der bayerische Ministerpräsident Held über die unzumutbare Belastung der Länderfinanzen durch die Besoldungserhöhung und über die Schmälerung der Länderstaatlichkeit durch das Steuervereinheitlichungsgesetz. Marx verteidigte das Vorgehen des Reichs als durchaus verfassungskonform; wenn sich dennoch in letzter Zeit schwere Unzuträglichkeiten mit den Ländern ergeben hätten, so müsse gefragt werden, ob nicht die rechtliche Struktur der Beziehungen zwischen Reich und Ländern korrekturbedürftig sei. Die Besprechung endete damit, daß eine Sonderkonferenz[XCII] mit den Landesregierungen in Aussicht genommen wurde, auf der dieses Problem eingehend erörtert werden sollte.

239

Dok. Nr. 307.

Einen starken Impuls erhielt die in den folgenden Monaten anhaltende Reformdiskussion durch das Memorandum des Reparationsagenten vom 20. Oktober240; mit seiner Kritik an der Ausgabenfreudigkeit der öffentlichen Hände, an der Besoldungserhöhung und dem Finanzausgleich verband Parker Gilbert die Mahnung an die Reichsregierung, die wiederholt angekündigte Verwaltungsreform endlich in Angriff zu nehmen und für eine wirksame Begrenzung und Kontrolle der öffentlichen Ausgaben zu sorgen. Diese von den großen Wirtschaftsverbänden nachdrücklich unterstützte Forderung des Reparationsagenten gab offenbar den Anstoß, daß das Kabinett in seiner Sitzung vom 25. November die Thematik der geplanten „Länderkonferenz“ über die Reichsreform erweiterte: Neben dem staatsrechtlichen Aspekt des Reich-Länder-Verhältnisses sollten auch Maßnahmen zur Gewährleistung sparsamster Finanzwirtschaft sowie zur Reorganisation der Verwaltung in Reich und Ländern behandelt werden241. Zuvor hatte das Kabinett bereits die Einsetzung einer aus dem Reichssparkommissar, dem Reichsinnenminister und dem Reichsfinanzminister bestehenden Kommission beschlossen, die Vorarbeiten für eine kostensparende Verwaltungsvereinfachung leisten sollte und der alsbald auch die Vorbereitung der Länderkonferenz übertragen wurde242. Diese Kommission ließ indes zunächst jede Aktivität vermissen. Reichssparkommissar Saemisch begründete dies in einem Vortrag beim Reichskanzler mit dem mangelnden Interesse der Minister Keudell und Köhler an der Lösung der anstehenden Probleme und wies auf die Gefahr hin, daß die preußische Regierung die Führung in der Reformdebatte übernehmen und die auf Schaffung eines preußischen „Groß-Norddeutschland“ gerichteten Bestrebungen fördern könnte243.

240

Siehe oben S. LXXXIII.

241

Dok. Nr. 353, P. 3.

242

Dok. Nr. 322, P. 4.

243

Dok. Nr. 378.

Schließlich wurde in einer Reihe von Chef- und Ministerbesprechungen der Versuch unternommen, die Auffassung der Reichsregierung zu den auf der Länderkonferenz zu erörternden Themen zu klären. Als interne Diskussionsgrundlage dienten zunächst von Staatssekretär Popitz vorgelegte „Richtlinien“. Wenngleich es sich hierbei lediglich um einen stichwortartigen Katalog teils hypothetischer, teils vordringlicher Reformmaßnahmen handelte, so war doch ihre unitarische, auf eine Ausweitung der Reichszuständigkeiten hinzielende Gesamttendenz unverkennbar. Die Richtlinien umfaßten unter anderem die Bildung von Reichsländern, die Übertragung einzelner Länderaufgaben und ganzer Länderverwaltungszweige auf das Reich, die Straffung des reichseigenen Verwaltungsapparats sowie die verstärkte Einflußnahme des Reichs auf die Verwaltungsreformen und das Finanzgebaren der Länder. Die Popitzschen Vorschläge fanden jedoch nur zum Teil die Billigung des Kabinetts. Je näher der Beginn der Länderkonferenz heranrückte, desto bescheidener wurden die Reformerwartungen der Reichsregierung und desto stärker fielen die Bedenken derjenigen Minister ins Gewicht, die wie Hergt, Keudell und Schätzel davor warnten, durch überzogene unitarische Postulate den offenen Widerspruch[XCIII] namentlich der entschieden föderalistisch eingestellten süddeutschen Länder zu provozieren. Curtius’ Anregung, das Kabinett möge den „dezentralisierten Einheitsstaat“ als Endziel der Reform auf der Konferenz in den Vordergrund stellen, blieb daher ohne positive Resonanz. Im Verlauf der diffusen Diskussion wurde der Reichsland-Gedanke als undurchführbar fallengelassen, desgleichen das Projekt einer „Verreichlichung“ der gesamten Länderjustizverwaltung. Doch wollte das Kabinett wenigstens den leistungsschwachen Ländern die Möglichkeit eröffnen, größere Verwaltungsbereiche wie vor allem die Justiz auf das Reich zu überführen; außerdem wurde die Rationalisierung der Behördenorganisation sowie die Begründung eines Reichsverwaltungsgerichts als notwendig erachtet. Da man sich indes im Detail nicht zu einigen vermochte, verzichtete das Kabinett schließlich darauf, der Konferenz ein eigenes festumrissenes Programm zu unterbreiten244.

244

Dok. Nr. 380; 387; 390, P. 2; 391; 392; 393.

Auf der Länderkonferenz, die unter dem Vorsitz des Reichskanzlers vom 16. bis 18. Januar 1928 in der Reichskanzlei tagte, trat in den Referaten und Diskussionsbeiträgen der Länderministerpräsidenten und -minister die ganze Breite, aber auch die kaum überbrückbare Gegensätzlichkeit föderalistischer und unitarischer Anschauungen über Ziele und Wege der Reichsreform in Erscheinung. Der Beitrag der Reichregierung bestand hauptsächlich in der Vorbereitung eines Schlußkommuniqués, das in Form einer gemeinsamen Entschließung von Reich und Ländern die auseinanderstrebenden Tendenzen auf einer mittleren Linie zusammenzuführen versuchte. Bei der Überarbeitung des Entschließungsentwurfs durch eine gemischte Unterkommission bemühten die Ländervertreter sich nicht ohne Erfolg, den Text in ihrem Sinne abzuändern. Der Passus, in dem von der Notwendigkeit einer „Stärkung der Reichsgewalt“ die Rede war, mußte auf Verlangen Bayerns und Württembergs durch die vage Formel ersetzt werden, daß eine „starke Reichsgewalt“ erforderlich sei. Die Resolution enthielt eine Reihe allgemein gehaltener Absichtserklärungen und Empfehlungen etwa über das Aufgehen kleinerer Länder in Nachbarländern, den Abschluß von Ländervereinbarungen über Exklavenbereinigung und Rechtsangleichung, das Zusammenwirken von Reich und Ländern bei der zweckmäßigeren Gestaltung der Verwaltungsstrukturen. Der wesentliche Punkt der Resolution betraf die Einsetzung eines Ausschusses, der die strittig gebliebene Gesamtlösung des Reich-Länder-Problems durch die Erstattung von Gutachten vorbereiten sollte. Einige Länder wünschten den Ausschuß in den Reichsrat zu verlegen und damit in eigene Regie zu nehmen. Eine energische Intervention des Wirtschaftsministers Curtius bewirkte, daß eine Kompromißlösung zustande kam, wonach der „Verfassungsausschuß“ paritätisch aus Delegierten des Reichskabinetts und der Länderregierungen zu bilden war245. Um die Ernsthaftigkeit ihrer Reformbereitschaft zu demonstrieren, hat die Reichsregierung die von ihr zu bestellenden Ausschußmitglieder sehr bald nominiert und den Verfassungsausschuß bereits am 5. Mai, noch vor den Reichstagswahlen, zu seiner konstituierenden Sitzung einberufen und so für den beschleunigten Fortgang der amtlichen Reformberatungen gesorgt246.

245

Dok. Nr. 394398.

246

Dok. Nr. 401, P. 2; 403, P. 2; 419, P. 1; 433, P. 1; 458, P. 3; 467, P. 2.

[XCIV] Dagegen endete ein Versuch des Reichskanzlers, die von ihm auf der Länderkonferenz angebotene Verreichlichung der Justiz leistungsschwacher Länder voranzutreiben, im Falle Hessens mit einem glatten Mißerfolg. Das durch eine Fehlinformation ausgelöste Ersuchen des Kanzlers, die hessische Zentrumspartei möge sich für die Überleitung der Justizverwaltung Hessens auf das Reich einsetzen, wurde von dem Vorsitzenden der hessischen Zentrumsfraktion entrüstet zurückgewiesen: Der Verzicht auf die Justizhoheit würde die Eigenstaatlichkeit Hessens untergraben, dem Reich nicht den erhofften Nutzen bringen und überdies das Zentrum mit dem Odium des Verrats am föderalistischen Gedanken belasten247. Diese eindeutige Absage aus Darmstadt bedeutete für die Verfechter einer forcierten Unitarisierungspolitik in den Reichsministerien eine herbe Enttäuschung. Das einzige Land, das im Frühjahr 1928 die Überleitung seiner Justiz auf das Reich mitsamt den finanziellen Lasten beantragte, war Mecklenburg-Schwerin. Im Hinblick auf den nahe bevorstehenden Regierungswechsel hielten die Beamten der zuständigen Berliner Ressorts es für geboten, die Entscheidung über den Antrag der nächsten Reichsregierung zu überlassen248. Das Kabinett Müller II hat dann die Übernahme der Justizverwaltung Mecklenburg-Schwerins als unzweckmäßig verworfen und statt dessen Verhandlungen über einen Anschluß des Landes an Preußen empfohlen249. Mit Ausnahme von Waldeck, das sich 1928 mit Preußen vereinigte250, zogen jedoch die finanzschwachen nord- und mitteldeutschen Länder die Bewahrung ihrer Eigenstaatlichkeit einem Aufgehen in Preußen vor. Auch die Arbeit des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz führte nicht zu politisch praktikablen Lösungen in der Neugliederungs- und Kompetenzfrage; die von dem Ausschuß im Juni 1930 verabschiedeten Reichsreformvorschläge erwiesen sich angesichts des Beharrungsvermögens und der Interessengegensätze der Partikularstaaten als undurchführbar.

247

Dok. Nr. 464; 469.

248

Dok. Nr. 464, Anm. 6.

249

Diese Edition, Das Kabinett Müller II, S. XXXVIII f.

250

Dok. Nr. 305, Anm. 11.

c) Das Scheitern des Reichsschulgesetzes und das Ende des Kabinetts

Die Verabschiedung eines Reichsvolksschulgesetzes gemäß Artikel 146 Absatz 2 der Weimarer Verfassung bildete ein zentrales innenpolitisches Vorhaben des Kabinetts Marx IV251. Sowohl die von den Koalitionsparteien vereinbarten Richtlinien wie auch die Regierungserklärung des Kanzlers hatten die Vorlage eines Schulgesetzes in Aussicht gestellt252. Es sollte die „grundsätzliche Gleichstellung“ der im Weimarer Schulkompromiß verankerten Schulformen – Simultanschule, Konfessionsschule und weltliche Schule – gewährleisten, die Gewissensfreiheit und das Elternrecht wahren und die Erteilung des Religionsunterrichts nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften regeln. Der damit stichwortartig[XCV] angedeutete Inhalt des geplanten Gesetzentwurfs, insbesondere das Prinzip der Parität der drei Schultypen, entsprach dem schulpolitischen Programm des Zentrums, der Deutschnationalen und der BVP, wurde jedoch nicht vorbehaltlos von der DVP akzeptiert253, ohne deren Zustimmung das Gesetz nicht zustande kommen konnte. Bereits während der Koalitionsverhandlungen war in der volksparteilichen Presse vor der Gefahr eines schul- und kirchenpolitischen Zusammenwirkens zwischen dem Zentrum und den Deutschnationalen sowie vor der Restauration eines „schwarzblauen Blocks“ gewarnt worden254. Wenngleich die DVP die das Kabinett tragende Mitte-Rechts-Koalition vornehmlich aus wirtschafts- und sozialpolitischen Motiven gewollt und an ihrem Zustandekommen aktiv mitgewirkt hatte, so war sie doch von Anfang an sichtlich darum bemüht, auf dem Feld der Schul- und Kulturpolitik ihre Eigenständigkeit als liberale Partei zu wahren. In diesem Sinne hat Stresemann bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich gemacht, daß die Koalitionstreue der Volkspartei in Frage gestellt werden könnte, falls ihr „kulturell Unerträgliches“ zugemutet werde255. Erhebliches Aufsehen erregte eine Rede Stresemanns auf einer DVP-Tagung Anfang April 1927, in der der Minister zur Schulfrage und insbesondere zum Problem eines Reichskonkordats256 in einer Form Stellung nahm, die vom Zentrum als Abweichung von der Linie der offiziellen Kulturpolitik aufgefaßt wurde, so daß Stresemann sich nachträglich zu einer Klarstellung seiner Äußerungen genötigt sah257.

251

Hierzu und zu den früheren Entwürfen eines Reichsschulgesetzes vgl. Grünthal, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer Republik; Wittwer, Die sozialdemokratische Schulpolitik in der Weimarer Republik; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 937 ff.; v. Hehl, Wilhelm Marx, S. 428 ff.

252

Dok. Nr. 177, Anm. 3; RT-Bd. 391, S. 8791 .

253

Vgl. die Rede des DVP-Fraktionsvorsitzenden Scholz bei der Debatte über die Regierungserklärung: RT-Bd. 391, S. 8813  f.

254

Vgl. Politisches Jahrbuch 1927/28, S. 100 ff.

255

Zitat nach Stürmer, Koalition und Opposition, S. 231.

256

Nachdem die preußische Regierung mit Nuntius Pacelli Verhandlungen über ein Landeskonkordat angeknüpft hatte, war im Sommer 1926 von Reichskanzler Marx und den zuständigen Reichsressorts das Projekt eines Reichskonkordats erneut aufgegriffen worden. Der preußische Ministerpräsident Braun wandte sich gegen gleichzeitige Konkordatsverhandlungen des Reichs und Preußens, erklärte sich aber auf Wunsch des Reichskanzlers mit der Abhaltung gemeinsamer informatorischer Ressortbesprechungen einverstanden. Diese Besprechungen, die „Richtlinien für ein Reichskonkordat“ zum Gegenstand hatten, wurden Anfang April 1927 abgebrochen, in erster Linie wohl deshalb, weil inzwischen die Beratungen über das Reichsschulgesetz in Gang gekommen waren. Siehe Dok. Nr. 61; 88; 98; 129. Vgl. dazu Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, S. 32 ff.

257

Dok. Nr. 218, P. 4.

Nachdem der federführende Innenminister v. Keudell im Kontakt mit den Schulexperten der Regierungsfraktionen eine vorläufige Fassung des Schulgesetzentwurfs erstellt hatte, galten die ersten Ministerbesprechungen im Juni 1927 der Frage, wie die Vorlage taktisch am zweckmäßigsten zu behandeln sei. Aus Furcht vor Indiskretionen hielt man eine strikte Geheimhaltung des Entwurfs bis zur endgültigen Beschlußfassung des Kabinetts für geboten und sah infolgedessen von der sonst üblichen Vorinformation der Unterrichtsverwaltungen der Länder ab. Dringend erwünscht schien eine möglichst rasche Beratung in den parlamentarischen Körperschaften. Aus diesem Grunde wurde der Plan erörtert, das Schulgesetz als Regierungsvorlage beim Reichsrat und gleichzeitig als Initiativantrag der Koalitionsparteien im Reichstag einzubringen. Diese Absicht ist jedoch sehr bald aufgegeben worden, nicht nur weil ein derartiges Verfahren verfassungspolitisch ungewöhnlich war und als Brüskierung des Reichsrats hätte aufgefaßt werden können,[XCVI] sondern auch weil die DVP-Fraktion zu erkennen gab, daß sie sich noch nicht auf alle Einzelheiten der Vorlage festzulegen wünsche258.

258

Dok. Nr. 246, P. 3; 256, P. 7; 259, P. 5; 261.

Die Protokollierung der eingehenden Spezialdebatten des Kabinetts über den Keudellschen Schulgesetzentwurf ist – vermutlich aus Geheimhaltungsgründen – verhältnismäßig summarisch und größtenteils wenig aussagekräftig259. Doch läßt sich daraus entnehmen, daß die beiden volksparteilichen Minister Stresemann und Curtius von ihrer liberalen Grundposition aus gegen zwei wesentliche Bestimmungen der Vorlage Bedenken erhoben. Sie betrafen die Mitwirkung der Kirchen bei der Erteilung des Religionsunterrichts sowie die Regelung der Schulverhältnisse in den traditionellen Simultanschulgebieten Baden, Hessen und Nassau. In dem letzteren Punkt kam es bei der Verabschiedung des Entwurfs in der Ministerbesprechung vom 13. Juli zum Dissens. Die Mehrheit des Kabinetts stimmte der von Keudell vorgeschlagenen Fassung des § 20 zu, wonach das Schulgesetz in den südwestdeutschen Simultanschulgebieten nach einer Schonfrist von fünf Jahren zur Durchführung gelangen sollte, so daß nach Ablauf dieser Frist in den genannten Ländern auch öffentliche Konfessionsschulen beantragt und eingerichtet werden konnten. Stresemann und Curtius, die für einen weiterreichenden Schutz der Simultanschulgebiete eintraten, widersprachen der vorgesehenen Lösung. Sie ließen zwar den Gesetzentwurf passieren, bestanden aber darauf, daß ihre abweichende Auffassung in der amtlichen Pressemitteilung über den Kabinettsbeschluß bekanntgegeben wurde. Außerdem gaben sie zu Protokoll, daß die DVP-Fraktion sich ihre Stellungnahme zu dem gesamten Entwurf vorbehalte260. Der Kanzler und das Kabinett nahmen diesen schwerwiegenden Vorbehalt einer Koalitionspartei hin, offenbar in der Hoffnung, es werde sich in den weiteren Verhandlungen ein allseits befriedigender Kompromiß herbeiführen lassen.

259

Dok. Nr. 266; 267, P. 3; 269, P. 2; 270; 273, P. 2; 274; 276, P. 1; 279, P. 7.

260

Dok. Nr. 276, P. 1.

Zunächst drängte Marx den preußischen Ministerpräsidenten, im Interesse einer zügigen Abwicklung des parlamentarischen Verfahrens für eine schleunige Stellungnahme der preußischen Regierung zu sorgen. Die Vorlage des Reichskabinetts, die auf dem Prinzip der Gleichberechtigung von Simultan-, Konfessions- und weltlicher Schule beruhte, ist sodann in den Ausschüssen des Reichsrats unter der Führung Preußens erheblich umgestaltet worden, und zwar im Sinne einer deutlichen Akzentuierung der Vorzugsstellung der Gemeinschaftsschule; auch sollte das Reich den Ländern die bei der Durchführung des Schulgesetzes entstehenden Kosten voll erstatten. Dieser Gegenentwurf der Reichsratsausschüsse wurde jedoch bei der Schlußabstimmung im Plenum des Reichsrats am 14. Oktober mit knapper Mehrheit aus verschiedenen, teilweise gegensätzlichen Motiven abgelehnt; einem Teil der Ländervertreter ging der Reichsratsentwurf in der Bevorzugung der Gemeinschaftsschule nicht weit genug, ein anderer Teil fand die Rechte der Konfessionsschule übermäßig verkürzt. Nachdem sich der Reichsrat auf diese Weise selbst ausgeschaltet hatte, beschloß das Kabinett, seinen Entwurf in der ursprünglichen[XCVII] Fassung dem Reichstag zuzuleiten, der ihn an den Bildungsausschuß überwies261.

261

Dok. Nr. 285, P. 2; 292, P. 1; 316, P. 1; 318, P. 3.

In den Ende Oktober 1927 einsetzenden Beratungen des Bildungsausschusses wurde der Entwurf von seiten der Oppositionsparteien als verfassungswidrig kritisiert und mit einer Fülle von Abänderungsanträgen überschüttet. Aber auch die Volkspartei brachte – unter Berufung auf ihre bisherigen Vorbehalte und in Anlehnung an die preußischen Reichsratsvorschläge – eine Reihe von Änderungsanträgen ein, die vornehmlich das Ziel verfolgten, den Vorrang der Simultanschule als Regelschule zu sichern, das kirchliche Mitspracherecht in Fragen des Religionsunterrichts einzuschränken und die Bildung von Zwergschulen durch eine restriktive Definition des „geordneten Schulbetriebs“ zu erschweren.

Die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten, die wegen der volksparteilichen Anträge zwischen der DVP und ihren Koalitionspartnern aufbrachen, konnten in interfraktionellen Besprechungen nur zum Teil überbrückt werden. Einige DVP-Anträge zu wesentlichen Bestimmungen der Vorlage gelangten im Bildungsausschuß mit Unterstützung der oppositionellen Linksparteien und Demokraten gegen das Votum der übrigen Regierungsfraktionen zur Annahme. In seiner Verärgerung über das partielle Einschwenken der DVP in das Lager der Opposition drohte der Zentrumsfraktionsvorsitzende v. Guérard bereits am 15. Dezember, das Zentrum werde seine Minister aus dem Kabinett zurückziehen, falls das Schulgesetz nicht in einer für seine Partei tragbaren Form zustande käme262. Diese Drohung blieb jedoch völlig wirkungslos und trug eher zur Versteifung des volksparteilichen Widerstandes bei. Auffallend war die Passivität der Reichsregierung angesichts der fortdauernden Koalitionsquerelen während der nur mühsam vorankommenden Ausschußberatungen. Erst in ihrem letzten Stadium beschäftigte sich das Kabinett mit dem Stand der Verhandlungen, aber auch jetzt faßte es nur einen Beschluß über die Beteiligung des Reichs an den bei der Durchführung des Gesetzes entstehenden Kosten263. Die Entscheidung über die zentralen Kontroverspunkte des Entwurfs blieb den zerstrittenen Koalitionsfraktionen und ihren Vertretern im Bildungsausschuß überlassen, deren Kompromißbereitschaft durch die frühzeitige öffentliche Festlegung auf divergierende schulpolitische Postulate sowie durch das Profilierungsbedürfnis der Parteien im Hinblick auf die 1928 fälligen Reichstagswahlen enge Grenzen gezogen waren. Am 27. Januar 1928 endete die erste Lesung des Schulgesetzes im Bildungsausschuß des Reichstags mit einem Eklat: Zu dem besonders umstrittenen § 20 der Regierungsvorlage wurde – wiederum mit Hilfe der Vertreter der Opposition (SPD, KPD, DDP) – ein volksparteilicher Änderungsantrag angenommen, demzufolge in sämtlichen Simultanschulländern der Status quo dauernd aufrechterhalten bleiben, die Beantragung von Konfessionsschulen also ausgeschlossen werden sollte264. Damit war das Grundkonzept der Regierungsvorlage endgültig durchbrochen, und der Gesetzentwurf hatte mit den zuvor im Ausschuß beschlossenen Modifizierungen eine Fassung erhalten, die den Befürwortern[XCVIII] der Bekenntnisschule, der DNVP, der BVP und vor allem dem Zentrum unannehmbar schien.

262

Dok. Nr. 401, Anm. 1.

263

Dok. Nr. 401, P. 1; 402, P. 1.

264

Dok. Nr. 402, Anm. 3.

Anfang Februar bemühte sich der Reichskanzler trotz seiner Erkrankung, in einer Reihe von Besprechungen mit den Ministern Stresemann, Curtius und Brauns eine Verständigung zwischen der Volkspartei und dem Zentrum herbeizuführen. Marx’ Vermittlungsversuche blieben jedoch erfolglos, da die DVP-Fraktion inzwischen beschlossen hatte, an ihrem vom Zentrum als verfassungswidrig bekämpften Standpunkt hinsichtlich der Simultanschulländer (§ 20) unbedingt festzuhalten. Eine Anregung Stresemanns, die Schulfrage einstweilen auf sich beruhen zu lassen, wurde dagegen vom Zentrum zurückgewiesen; eine Gruppe führender Parlamentarier der Zentrumsfraktion mit Guérard an der Spitze drängte auf eine schnelle und definitive Entscheidung über das Schulgesetz, wobei für den Fall einer Nichteinigung bereits die Konsequenz einer Auflösung der Koalition und des Reichstags ins Auge gefaßt wurde265. In dieser verfahrenen, undurchsichtigen Situation, in welcher der direktionslose Streit der Parteien um schulpolitische Grundsatzfragen die Arbeit des Kabinetts und des Reichstags lahmzulegen drohte, ohne daß einer der politisch Verantwortlichen über ein konsensfähiges Konzept zu verfügen schien, wie überhaupt weiterregiert werden sollte, griff gleichsam von der Warte des überparteilichen Hüters des Gemeinwohls der Reichspräsident ein. In einem Schreiben vom 9. Februar teilte er Marx seine Auffassung mit, daß eine Regierungskrise und eine Parlamentsauflösung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da der Reichstag über den Etat und andere dringliche Vorhaben zu beschließen habe, eine „schwere Schädigung vaterländischer Interessen“ zur Folge haben würde; Hindenburg appellierte daher an die Koalitionsfraktionen, ihre Differenzen in der Schulfrage zurückzustellen und zuallererst für die Erhaltung einer arbeitsfähigen Regierung und die Lösung der anstehenden parlamentarischen Aufgaben einzutreten266. Wie der weitere Gang der Ereignisse zeigen sollte, blieb die Intervention Hindenburgs nicht ohne Wirkung, doch nahmen die Regierungsparteien, offenbar auf Initiative des Zentrums, zunächst ihre aussichtslosen Verhandlungen über das Schulgesetz am 10. Februar wieder auf. Die Beratungen des interfraktionellen Ausschusses waren von vornherein durch den von Guérard erhobenen Vorwurf belastet, die Minister der DVP hätten den schulpolitischen Teil der Koalitionsrichtlinien verletzt. Im Verlauf der Erörterungen stellte sich sehr bald heraus, daß weder über den Simultanschulländer-Paragraphen, zu dem Innenminister v. Keudell neue Kompromißvorschläge vorgelegt hatte, noch über die anderen strittigen Fragen des Schulgesetzentwurfs zwischen der DVP und ihren Koalitionspartnern eine Einigung erzielt werden konnte. Am 15. Februar wurde das endgültige Scheitern des Schulgesetzes förmlich festgestellt. Das Zentrum nahm diese Feststellung zum Anlaß, um durch Guérard erklären zu lassen, daß es die Koalition als aufgelöst betrachte, jedoch zur Erledigung des Etats und anderer noch näher zu bezeichnender Aufgaben bereit sei, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß der Reichstag zum 1. April aufgelöst[XCIX] werde. Die Deutschnationalen hätten einen späteren Termin vorgezogen, vermochten sich aber nicht durchzusetzen267.

265

Dok. Nr. 417, Anm. 1; Stresemann, Vermächtnis, III, S. 274 f.; Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, I, S. 484 f.; Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok. Nr. 237–241; Grünthal, Reichsschulgesetz, S. 238 ff.

266

Dok. Nr. 416.

267

Dok. Nr. 417; 420; 421.

Die Aufkündigung der Koalition etwa ein dreiviertel Jahr vor dem natürlichen Ablauf der Legislaturperiode kam nicht überraschend. Sie war nicht nur durch den schulpolitischen Gegensatz zwischen dem Zentrum und der DVP bedingt, vielmehr das Ergebnis eines seit längerem zu beobachtenden, in verschiedenen Politikbereichen sich vollziehenden Zerfalls- und Distanzierungsprozesses im Lager der Koalitionsparteien. Dieser Vorgang stand in einem engen Zusammenhang mit der schweren innerparteilichen Krise des Zentrums, die in den heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Gewerkschafts- und dem Beamtenflügel der Partei anläßlich der Beratungen über die Besoldungsreform einen Höhepunkt erreichte, aber auch nach der Verabschiedung des Besoldungsgesetzes weiterschwelte. Im Verlauf der Streitigkeiten wurde selbst der auf Vermittlung bedachte Marx von führenden Gewerkschaftsvertretern in polemischer Weise angegriffen, so daß seine Autorität als Parteivorsitzender, indirekt auch als Reichskanzler, Schaden litt. Überlagert und verschärft wurde dieser vorwiegend sozial- und interessenpolitisch motivierte Konflikt durch den namentlich von Joseph Wirth angefachten politischen Richtungsstreit innerhalb des Zentrums. Die fortgesetzten, in aller Öffentlichkeit vorgetragenen Angriffe Wirths gegen die Rechtsbindung des Zentrums und gegen die „Bürgerblock“-Regierung, deren Bildung der linke Flügel nur widerwillig hingenommen hatte, verstärkten das Unbehagen in weiten Kreisen der Partei über das Regierungsbündnis mit den Deutschnationalen. Unter solchen Umständen bot das Scheitern der Schulgesetzverhandlungen den auf einen raschen Bruch hindrängenden Kräften in der Partei- und Fraktionsführung die erwünschte Gelegenheit, die zunehmend als Belastung empfundene Koalition zu lösen und die zerstrittene Zentrumspartei mit einer einigenden „Schulkampfparole“ in den Wahlkampf zu führen268. Andererseits hatte sich auch die einen dezidiert kulturliberalen Kurs steuernde Führung der DVP auf ein vorzeitiges Ende der Koalition und auf vorgezogene Neuwahlen eingestellt269. Unter außenpolitischen Gesichtspunkten scheint Stresemann verhältnismäßig früh damit gerechnet zu haben, daß die entscheidenden Verhandlungen über die Gesamträumung des besetzten Rheinlandes im Sommer bzw. Herbst 1928 von einer neuen Reichsregierung geführt werden würden, der die Deutschnationalen, die Hauptverlierer der bisherigen Landtagswahlen, sehr wahrscheinlich nicht mehr angehören würden270.

268

So Köhler in seinen „Lebenserinnerungen“, S. 264 ff.; ganz ähnlich auch Stresemann in Briefen an Weismann vom 18.2.27 (nicht: 15. 2.) sowie an Löbe vom selben Tage, in: Stresemann, Vermächtnis, III, S. 274 ff. Zum Zusammenhang von Zentrumskrise und Koalitionsauflösung siehe auch: Becker, Joseph Wirth und die Krise des Zentrums während des IV. Kabinettes Marx; Stürmer, Koalition und Opposition, S. 235 ff., 241 ff.; v. Hehl, Wilhelm Marx, S. 434 ff., 443 ff.

269

Bereits am 23.1.1928, also noch vor den abschließenden Schulgesetzverhandlungen im Bildungsausschuß des Reichstags, berichtete die der DVP nahestehende „Tägliche Rundschau“, RWiM Curtius habe auf einer Veranstaltung des Landesverbandes Baden der DVP am 22. 1. seine vertraulichen Ausführungen über aktuelle politische Fragen mit der Aufforderung geschlossen, „bei den kommenden Wahlen, die etwa im Mai zu erwarten sein würden [!], für die Politik der DVP einzutreten.“

270

Vgl. Dok. Nr. 381, P. 2; dazu Stürmer, Koalition und Opposition, S. 230. – Bemerkenswert ist, daß RSparkom. Saemisch bereits am 17.12.1927 – also zwei Monate vor der Auflösung der Koalition und fünf Monate vor der Neuwahl des Reichstags – dem Reichskanzler vorschlug, schon jetzt den Versuch zu machen, „die Führer der kommenden Regierungsparteien – große Koalition [!] – über die Frage der Verfassungs- und der Verwaltungsreform zu unterrichten“: Dok. Nr. 378, S. 1215.

[C] Unmittelbar nach dem Bruch der Koalition am 15. Februar 1928 beschloß das Kabinett in Übereinstimmung mit dem Reichspräsidenten, nicht zu demissionieren, sondern im Amt zu bleiben, um das ins Auge gefaßte „Arbeitsnotprogramm“, d. h. die bis zur vorgezogenen Reichstagsauflösung zu verabschiedenden Gesetze und Maßnahmen mit ungeschmälerter verfassungsrechtlicher Autorität über die parlamentarischen Hürden bringen zu können271. Zu den interfraktionellen Besprechungen über das Notprogramm zog das Kabinett neben den bisherigen Regierungsparteien anfangs auch die Sozialdemokraten und die Demokraten hinzu. Die um „loyale Mitarbeit“ gebetenen Vertreter der Opposition ließen sich naturgemäß das Recht auf Kritik an den Regierungsvorlagen nicht nehmen, erklärten sich aber bereit, durch Verzicht auf Obstruktion und Agitationsanträge zur beschleunigten Abwicklung des Programms beizutragen. Ihnen war es durchaus recht, wenn vor allem der Etat noch unter der Verantwortung der bisherigen Regierung erledigt wurde. Der SPD kam es hauptsächlich auf die Zusicherung eines möglichst frühen Auflösungs- und Wahltermins an, und eine solche Zusage wurde auch von seiten der Reichsregierung im Einvernehmen mit dem Reichspräsidenten gegeben. Das Arbeitsnotprogramm sollte, um das Herausbrechen einzelner Teile durch die Parteien zu verhindern, nach dem Willen der Reichsregierung als ein einheitliches Ganzes behandelt werden. Es umfaßte ein Sozialprogramm mit Reichszuschüssen zu den Invalidenrenten und zur Kleinrentnerfürsorge, das Liquidationsschädengesetz272, Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft273, den Nachtragsetat 1927, den Etat 1928 sowie einen durch das Notprogramm erforderlich gewordenen Ergänzungsetat. Bei den Verhandlungen über die Ausgestaltung des Notprogramms versuchten die Vertreter der vormaligen Koalitionsfraktionen, ein Maximum an Zugeständnissen für ihnen nahestehende Wählerschichten zu erreichen. Nachdem einer dringenden Forderung des Zentrums entsprechend der größere Teil der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel für die Finanzierung des Sozialprogramms reserviert worden war, bemühte sich die DNVP nicht ohne Erfolg um eine Aufstockung der für die Landwirtschaft bestimmten Beträge. Am 27. Februar trug Vizekanzler Hergt in Vertretung des erkrankten Kanzlers dem Reichstag das Notprogramm vor. Nach seiner Beratung und Verabschiedung wurde der Reichstag wie vorgesehen am 31. März aufgelöst. Als Termin für die Neuwahlen wurde der 20. Mai festgesetzt274.

271

Dok. Nr. 422.

272

Siehe oben S. LXXII f.

273

Zum landwirtschaftlichen Notprogramm siehe oben S. LXIII.

274

Dok. Nr. 423432; 433, P. 2 u. 4; 434436; 453, P. 1 u. 2; 454, P. 2; 455.

Zu Beginn des Jahres 1928 hatten Vertreter der Koalitions- wie der Oppositionsparteien zum Teil in gemeinsamen Besprechungen unter Assistenz des Reichsinnenministeriums die Möglichkeiten einer Wahlrechtsänderung erörtert, durch die die Wahlbeteiligung von Splitterparteien erschwert werden sollte. Dabei stellte sich heraus, daß die meisten parteien stärkere Eingriffe in den bestehenden Rechtszustand scheuten; die Korrekturen, auf die man sich allenfalls hätte einigen können,[CI] waren minimal und hätten den gewünschten Zweck kaum erreicht, so daß die Beratungen ergebnislos abgebrochen wurden. Für eine gesetzgeberische Initiative in der Frage der Wahlreform war es so kurz vor dem Ende der Legislaturperiode ohnehin zu spät275.

275

Dok. Nr. 385, P. 2; 404; 406; 412, P. 4; 440, P. 7. Ein noch während der Amtszeit des Kabinetts Marx III vom Reichsinnenministerium erstellter Entwurf zur Reform des Reichstagswahlrechts war den gesetzgebenden Körperschaften nicht übermittelt worden: Dok. Nr. 106, P. 1.

Auch nach der Reichstagsauflösung betrachtete sich das Kabinett als „eine für alle verfassungsmäßigen Aufgaben voll verantwortliche Reichsregierung“276. Unter den gegebenen Umständen schien es allerdings geboten, daß sich das Kabinett in seiner Amtsführung bis zur Regierungsneubildung parteipolitische Zurückhaltung auferlegte. Besonderes Aufsehen mußte deshalb der Versuch des Innenministers Keudell erregen, mitten im Wahlkampf ein Verbot des Wehrverbandes der KPD, des Roten Frontkämpferbundes, herbeizuführen. Der Kanzler und die noch in Berlin anwesenden Minister, die Keudell am 14. April von seiner Absicht in Kenntnis setzte, stimmten mit ihm zwar in der Verurteilung des „staatsumstürzlerischen Gebarens“ des Roten Frontkämpferbundes überein, hielten den Zeitpunkt eines Verbots jedoch für „denkbar unglücklich gewählt“. Indes berief sich Keudell auf seine alleinige Ressortzuständigkeit und ließ sich trotz guten Zuredens nicht von seinem offensichtlich durch deutschnationale Wahlkampfinteressen bestimmten Vorhaben abbringen. Wie nicht anders zu erwarten, weigerten sich fast alle Landesregierungen, dem auf das Republikschutzgesetz gestützten Verbotsersuchen des Reichsinnenministers nachzukommen und legten beim Reichsgericht Einspruch ein. Die Niederlage Keudells war vollkommen, als das Gericht bereits Anfang Mai die Einwände der Länder als berechtigt anerkannte277.

276

Dok. Nr. 458, P. 2.

277

Dok. Nr. 460462.

Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 erlitten die Deutschnationalen einen schweren Rückschlag, die Zahl ihrer Mandate ging drastisch von 103 auf 73 zurück. Aber auch die übrigen Parteien der bisherigen Koalition, das Zentrum, die DVP und die BVP mußten empfindliche Verluste hinnehmen. Sie hatten sich in der Regierungsverantwortung mit ihrem Zwang zum ideologischen und interessenpolitischen Kompromiß verschlissen. Die unbezweifelbaren, von einer guten Konjunktur begünstigten Erfolge, die das vierte Kabinett Marx bei seinen Bemühungen um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und um die Beseitigung der Kriegs- und Inflationsfolgen aufzuweisen hatte, blieben einerseits hinter den hochgeschraubten, divergierenden Forderungen der Interessenten zurück, und andererseits wurden sie überdeckt durch die innere Schwäche der Koalition, den fast permanenten Streit der Regierungsparteien, der über die schwere innerparteiliche Krise des Zentrums zum Bruch des Regierungsbündnisses geführt und das Experiment der Mitte-Rechts-Koalition in den Augen vieler Wähler diskreditiert hatte. Von den Stimmenverlusten der DNVP und der traditionellen bürgerlichen Mittelparteien profitierten in erster Linie die aufkommenden Interessenparteien wie die Wirtschaftspartei und die Bauern- und Landvolkpartei. Mit ihnen auf der Gewinnerseite standen die beiden Linksparteien. Als eindeutiger Sieger aber ging die SPD aus der Wahl hervor. Sie hatte aus ihrer harten innenpolitischen Opposition gegen den[CII] „Bürgerblock“ Nutzen ziehen können und errang fast ein Drittel aller Reichstagsmandate. Vom Wahlergebnis her war damit eine Regierung der Großen Koalition unter sozialdemokratischer Führung vorgezeichnet, denn nur sie verfügte über eine parlamentarische Mehrheit278.

278

Zur Reichstagswahl 1928: E. Kolb, Grundriß der Geschichte, S. 84 f., 169 f., 252 f.; Winkler, Der Schein der Normalität, S. 521 ff.

In der ersten Sitzung nach dem Wahltag beschloß das Kabinett auf ausdrücklichen Wunsch Hindenburgs, die Demission bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags hinauszuschieben. Am 12. Juni, als die Verhandlungen über die Neubildung der Reichsregierung einsetzten, trat das Kabinett Marx IV zurück und wurde routinemäßig mit der Fortführung der Geschäfte beauftragt. Seine Amtszeit endete am 29. Juni 1928 mit der Ernennung Hermann Müllers zum Reichskanzler279.

279

Dok. Nr. 471, P. 1; 473, P. 2; 476.

Günter Abramowski

Extras (Fußzeile):