2.117.1 (ma31p): [Arbeitszeitfrage.]

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[Arbeitszeitfrage.]

Gesamteindruck: Der Wunsch der Vertreter der Gewerkschaften ging dahin, im Interesse der Behebung der Erwerbslosen-Schwierigkeiten sofort ein Notgesetz einzubringen, das den Achtstundentag als Normalarbeitstag eindeutig festlege2. Die Reichsregierung hat diesen Wünschen gegenüber daran festgehalten, daß die Arbeitszeitfrage in einem von der Reichsregierung einzubringenden Arbeitsschutzgesetz3 im ordentlichen Gesetzeswege geregelt werden müsse. Sie hat im wesentlichen nur zugesagt, die vorbereitenden Arbeiten an diesem Gesetzgebungswerk zu beschleunigen. Die Vertreter der Gewerkschaften schienen mit diesen Erklärungen der Reichsregierung wenig zufrieden.

2

Vgl. Dok. Nr. 102.

3

Siehe Dok. Nr. 105, Anm. 1.

Der Reichskanzler eröffnet die Besprechung mit kurzen Begrüßungsworten.

Herr Leipart erörtert die Bestimmungen der bisherigen Arbeitszeitverordnung4, die zu einer Verbilligung der Produktion nicht geführt hätten. Es sei irrtümlich zu glauben, daß durch eine Verlängerung der Arbeitszeit eine Steigerung der Produktion herbeigeführt werden könne. Umgekehrt müsse von der Wiederherstellung des Achtstundentages erwartet werden, daß die Produktion zum mindesten nicht verteuert würde. Die Stellungnahme der Unternehmer in diesen Fragen5 sei nicht stichhaltig. Es sei psychologisch unmöglich, daß auf der einen Seite Millionen Erwerbsloser vorhanden wären, während auf der anderen Seite zahlreiche Überstunden geleistet würden.

4

„Verordnung über die Arbeitszeit“ vom 21.12.23 (RGBl. I, S. 1249 ).

5

Siehe Dok. Nr. 102, Anm. 1.

Dem Arbeitsbeschaffungsprogramm der Reichsregierung sei bisher der gewünschte Erfolg versagt geblieben6. Die Erwerbslosenziffern hätten zwar bis[337] zu einem gewissen Grade abgenommen; dieses Abnehmen würde aber nunmehr ihr Ende erreicht haben7, es sei jedenfalls keine Folge des Arbeitsbeschaffungsprogramms der Reichsregierung. Nur die schnelle Wiederherstellung des Achtstundentages im Wege eines Initiativantrages könne hier helfen.

6

Siehe hierzu die „Denkschrift über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Reichsregierung“, die der RArbM am 19.1.27 dem RT zuleitete (RT-Bd. 413 , Durcks. Nr. 2921). Im Bericht des Volkswirtschaftlichen Ausschusses des RT vom 17.2.27 wurden die Bemühungen des RArbM um die Durchführung des Arbeitsbeschaffungsprogramms anerkannt, zugleich wurde jedoch festgestellt, daß der Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen hinter den Erwartungen zurückgeblieben sei und „daß die Erwerbslosigkeit mit den bisherigen Methoden allein auf die Dauer kaum bekämpft werden kann“ (RT-Bd. 413 , Drucks. Nr. 2993 ).

7

Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Erwerbslosenfürsorge hatte am 1.11.26 mit 1 308 293 den niedrigsten Stand des Jahres erreicht, um danach wieder anzusteigen; vgl. Statistisches Jahrbuch 1927, S. 339.

Herr Stegerwald gibt zunächst einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der deutschen Wirtschaft seit dem Kriege. Er kritisiert sodann die gegenwärtigen Verhältnisse. Sie seien gekennzeichnet durch den Wiedereintritt Deutschlands in die Weltwirtschaft einerseits und durch die nach der Inflation einsetzende Rationalisierung der Betriebe andererseits. Die Rationalisierung habe dazu geführt, daß zahlreiche Erwerbslose der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen. Trotzdem aber würden auf der anderen Seite Überschichten und Überstundenarbeit in großem Ausmaße geleistet. Die sich anbahnende Kartellierung, wie z. B. der Stahltrust8, würden unter Umständen eine noch weitere Rationalisierung der Betriebe und noch größere Erwerbslosigkeit zur Folge haben. Wie könne dem abgeholfen werden? Anweisungen an die Behörden oder Verordnungen gegen die Überstundenarbeit seien wahrscheinlich wenig ausreichend. Andere Wege müßten gesucht werden, wie man der Schwierigkeiten Herr werden könne. Dem Suchen solcher Wege diene die heutige Besprechung.

8

Vgl. Dok. Nr. 110, Anm. 7.

Herr Rößiger macht Ausführungen über den gegenwärtigen Umfang der Überarbeit. Dieser sei größer, wie es sich aus den Tarifverträgen ergebe. Die Überarbeit habe außerdem nicht den gewünschten Erfolg, da sie leicht zu einer Übermüdung des Arbeiters und damit zu einem Strecken der Arbeit führe. Sie bedeute daher nicht ohne weiteres eine Produktionsvermehrung. Es sei unmöglich, neben der Rationalisierung der Betriebe den Arbeitnehmern trotzdem noch die Überarbeit zuzumuten. Die Verbilligung der Produktion müsse auf anderem Wege wie auf dem Wege der Verlängerung der Arbeitszeit erreicht werden.

Der Reichsarbeitsminister führt aus: Er könne nicht umhin, gewisse Mißstände des Überstundenwesens anzuerkennen. Maßnahmen gegen die Überhandnahme der Mehrarbeit seien auch bereits getroffen. Erst kürzlich habe er ein Schreiben an die Länder gerichtet, die Gewerbeaufsichtsbeamten anzuweisen, bei Bewilligung von Überstunden äußerste Zurückhaltung zu üben9. In dem von der Reichsregierung vorgesehenen Arbeitsbeschaffungsprogramm sei ausdrücklich vereinbart, daß Überstunden zur Fertigstellung der hier in Angriff genommenen Arbeiten nicht geleistet werden dürften10. Auch die Schlichter seien von ihm auf die Notwendigkeiten und Bedürfnisse des Arbeitsmarktes bezüglich der Überstundenleistung hingewiesen worden. Falls das alles nicht[338] den gewünschten Erfolg verspreche, so müsse letzten Endes an eine gesetzliche Änderung der gegenwärtigen Zustände gedacht werden. Dies könne z. B. geschehen durch eine Abänderung des § 11 der Arbeitszeitverordnung11. Außerdem könnten die Bestimmungen der Nichtstrafbarkeit der freiwilligen Überschichten beseitigt werden.

9

Schreiben des RArbM an die Sozialministerien der Länder vom 24. 8. und 9.11.26 (R 43 I /2032 , Bl. 209–211).

10

Siehe die „Denkschrift über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Reichsregierung“ vom 19.1.27 (RT-Bd. 413 , Drucks. Nr. 2921 , S. 20 ff.).

11

Gemeint ist offenbar Abs. 3 in § 11 der Arbeitszeit-VO (Anm. 4), wonach die Annahme freiwilliger Mehrarbeit durch den Arbeitgeber unter bestimmten Umständen nicht strafbar ist.

Zu dem Gesamtproblem bemerke er, daß er persönlich gegen ein Verschieben der Behandlung des Arbeitsschutzgesetzes bis nach Erledigung der Wirtschaftsenquete sei12. Er habe stets in der großen Politik auf die Ratifizierung des Washingtoner Abkommens hingesteuert. Er bedaure, daß diese Bewegung in anderen Ländern, besonders in Frankreich, Italien und England rückläufig sei. Er sagt zu, daß die Reichsregierung entschlossen sei, das Arbeitsschutzgesetz so schnell wie möglich zu verabschieden. Er wendet sich gegen Erlaß eines Arbeitsnotgesetzes. Ein Zurückwerfen in den starren Achtstundentag müsse unter allen Umständen vermieden werden. Man werde daher auch beim Notgesetz über allerhand Ausnahmen nicht herumkommen. Das würde aber die endgültige Regelung lediglich noch weiter hinausschieben. Das Zweckmäßigste sei, ein endgültiges Gesetz zu schaffen, das man so schnell wie möglich einbringe.

12

Siehe Dok. Nr. 105, Anm. 12 und 13.

Herr Schweitzer geht auf die besonderen Verhältnisse der Angestellten ein. Hier sei die Notlage besonders groß, da die Arbeitslosigkeit der Angestellten meist von ungewöhnlich langer Dauer sei. Gerade die Rationalisierung infolge der Kartellbestrebungen treffe die Angestellten. Auch hier sei das Überstundenunwesen sehr bedenklich.

Herr Spliedt ist der Auffassung, daß das von der Reichsregierung geplante Arbeitsschutzgesetz nicht vor Ende des Jahres 1927 in Kraft gesetzt werden könne. Der gegenwärtige Zustand der Wirtschaft lasse befürchten, daß man es ähnlich wie in England alsbald mit einer chronischen Arbeitslosenkrise zu tun haben werde. Zudem sei ein Ansteigen der Erwerbslosenzahl nach Beendigung des englischen Bergarbeiterstreiks noch zu erwarten. Er bringt sodann Zahlenmaterial über die durch die Rationalisierung gewisser Betriebe erwerbslos gewordenen Arbeitermengen. So seien allein in einem Berliner Werk nach der Rationalisierung 12 000 Arbeiter weniger eingestellt worden. Alsdann gibt er Zahlenmaterial und Einzelheiten über Mißstände beim Überstundenwesen. Die Arbeitszeit sei entgegen dem Vorbringen der Arbeitgeber nicht ausbalanciert. An einer Stelle gäbe es Kurzarbeit, an der anderen Stelle Überarbeit. Auch hierfür bringt er Beispiele. So sei bei der Badischen Anilinfabrik die Arbeitszeit geradezu unsinnig. Er kommt zu der Schlußfolgerung, daß es unbedingt notwendig sei, den Achtstundentag so stark zu umhegen, daß niemand ausbrechen könne. Die Ausnahmen, die zugelassen würden, müßten auch wirklich Ausnahmen und nicht die Regel sein.

Der Reichskanzler weist darauf hin, daß das beste Resultat erzielt werden könne in einer gründlichen Regelung aller dieser Fragen in einem Arbeitsschutzgesetz.[339] Ein Notgesetz könne eine umfassende Abhilfe nicht bringen. Die Reichsregierung würde das Arbeitsschutzgesetz tunlichst beschleunigen.

Herr Stegerwald bezweifelt, daß das Arbeitsschutzgesetz schnell durchgebracht werden könne. Er gibt jedoch zu, daß gegen die Notlösung eine ganze Reihe von schwerwiegenden Bedenken sprächen. Er regt an, die Bestimmung des Arbeitsschutzgesetzes, die die Arbeitszeit regele, vorweg zu behandeln.

Herr Otte schließt sich diesen Ausführungen an und betont, daß auch er einen starren Achtstundentag nicht für erwünscht halte.

Der Reichsarbeitsminister macht längere Ausführungen über das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Reichsregierung, das sich erst in späterer Zeit auswirken könne. Bezüglich der von Herrn Spliedt vorgebrachten Beschwerden bemerkt er, daß Erhebungen über das Überstundenunwesen durch die Gewerbeaufsichtsbeamten bei einer ganzen Reihe von Industrien angeordnet worden seien13.

13

Das Ergebnis dieser Erhebungen wurde im RArbBl. Nr. 5 vom 10.2.27 veröffentlicht.

Der Reichswirtschaftsminister betont gegenüber den Ausführungen des Herrn Spliedt, daß es zweifellos sehr schwierig sei, genau zu klären, wie es bezüglich des Überstundenwesens wirklich stehe. Auch er habe Material zur Verfügung, das aber nicht ein so ungünstiges Bild wie das Material des Herrn Spliedt ergebe. Andererseits sei ihm bekannt, daß vielfach sogar die Nachfrage nach geeigneten Arbeitskräften nicht befriedigt werden könne. So herrsche gegenwärtig Mangel an voll leistungsfähigen Kohlenhauern im Ruhrgebiet. Die Zahlen, die das Oberbergamt mitgeteilt habe, ergäben im Gegensatz zu den Ausführungen des Herrn Spliedt ein Nachlassen des Überstundenunwesens. Er schlage vor, daß man zunächst einmal sachlich feststelle, wie die Lage bezüglich des Überstundenwesens wirklich sei.

Nach Abschluß dieser Erhebungen rege er eine neue Besprechung mit den Verbänden als Grundlage für die zu erlassenden gesetzgeberischen Maßnahmen [an].

Herr Fedisch weist auf die Schwierigkeiten hin, die Sachlage tatsächlich festzustellen.

Herr Leipart betont, er entnehme aus dem Gehörten, daß beim Reichsarbeitsministerium also jetzt schon eine Geneigtheit für eine gewisse Änderung der Arbeitszeitverordnung zu bestehen scheine. Er wolle daher die Vorschläge der Gewerkschaften zu diesen Fragen der Reichsregierung hiermit unterbreiten. Er übergibt die in der Anlage beigefügte Denkschrift14.

14

Das in der Anlage zu diesem Protokoll befindliche Druckstück enthält 1) eine „Kundgebung der gewerkschaftlichen Spitzenverbände zur Arbeitszeitfrage“, die mit der in Dok. Nr. 102 wiedergegebenen Entschließung der Gewerkschaften vom 28.10.26 identisch ist; 2) den „Entwurf eines Notgesetzes zur Verkürzung der Arbeitszeit“, der die geltende ArbeitszeitVO vom 21.12.23 (RGBl. I, S. 1249 ) in zahlreichen Punkten abändert; durch die Änderungen sollen die in der Arbeitszeit-VO vorgesehenen Ausnahmen vom Achtstundentag weitgehend beseitigt werden. Der hier von den Gewerkschaften vorgelegte GesEntw. stimmt im wesentlichen überein mit dem „Entwurf eines Gesetzes betr. Abänderung der Verordnung über die Arbeitszeit“, den die SPD-Fraktion am 4.2.27 im RT einbrachte (RT-Bd. 413 , Drucks. Nr. 2961 ).

[340] Der Reichsarbeitsminister bemerkt hierauf ausdrücklich, daß er zu den soeben überreichten Vorschlägen der Gewerkschaften eine Erklärung nicht abgeben könne, daß jedoch Maßnahmen gegen das Überstundenwesen getroffen werden müßten. In dieser Richtung könne etwas geschehen. Die Regierung würde sich mit diesen Fragen alsbald befassen. Dabei handle es sich

1.

um Abschaffung des § 11 der Arbeitszeitverordnung,

2.

um Verstärkung der Strafbestimmungen,

3.

um eine Verstärkung der Gewerbeaufsicht,

4.

um eine Reform des Schlichtungs- und Einigungswesens.

Der Reichskanzler dankte den Erschienenen. Er hoffe, daß die eingehende Aussprache zur Klärung der Fragen beigetragen habe. Er wies ausdrücklich auf die Vertraulichkeit dieser Aussprache hin.

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