2.53 (mu11p): Nr. 53 Erlaß des Chefs der Heeresleitung. 18. April 1920

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Nr. 53
Erlaß des Chefs der Heeresleitung. 18. April 1920

R 43 I /683 , Bl. 108-110

[Betrifft: Reichswehr und Staat nach dem Kapp-Putsch.]1

1

Der Erlaß wurde der Rkei am 20. 4. zugeleitet. MinR Wever notierte dazu, der Erlaß sei das Ergebnis einer Besprechung beim RPräs. (R 43 I /683 , Bl. 107). S. a. F. v. Rabenau, Seeckt, S. 239 f.

Das Offizierkorps der Reichswehr steht in seiner Schicksalsstunde. Seine Haltung in der nächsten Zeit wird darüber entscheiden, ob es die Führerschaft im jungen Heer behält oder nicht. Entschieden wird damit zugleich, ob es der Reichswehr gelingt, das Wertvolle aus der Vergangenheit hinüber zu retten in eine tätige Gegenwart zu einer hellen Zukunft. Mit der Reichswehr ist Bestand und Gedeihen des Volkes und Staates unlöslich verknüpft. Als Teil des Volkes und stärkste Stütze des Staates muß die Reichswehr der Entwicklung folgen, die Volk und Staat durchleben. Noch sind wir mitten in den Wirren, die jede Neugestaltung eines Staatslebens mit sich bringt, mitten im Aufbau. Das gilt in ganz besonderem Maß für die Reichswehr und dies erfordert für sie vor allem Ruhe, Geduld und treue Arbeit. Wir können nicht erwarten, daß jetzt schon überall Festes, Bleibendes geschaffen ist; wir müssen selbst mitbauen und mitschaffen. Wir müssen alle erst lernen, das neue Haus der Reichswehr zu zimmern und in ihm zu wohnen. Diese Erkenntnis vermisse ich an vielen Stellen; ich sehe Unsicherheit, Unruhe und Mißtrauen. Damit kommen wir aber nicht weiter. Wenn nicht das alte Band des Vertrauens wiederhergestellt wird, sehe ich keine Möglichkeit der Besserung. Das bezieht sich nicht nur auf die Offiziere, sondern auf alle Glieder des Heeres. Jeder an seiner Stelle hat die Pflicht mitzuhelfen, daß das Vertrauen der Reichswehr zur Regierung und zu den höchsten Kommandostellen, daß aber ebenso das Vertrauen[132] zwischen Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren, und das Vertrauen des Volkes zur Reichswehr aufrecht erhalten und, wo es verloren gegangen, wiederhergestellt wird. Dazu ist eingehende Belehrung und offene Aussprache notwendig. Es ist nicht angängig, daß nur feindliche Äußerungen und Angriffe zur Kenntnis der Reichswehr gebracht, ihr aber Äußerungen der Fürsorge, des Dankes, der Anerkennung verschwiegen werden. Ich habe feststellen müssen, daß selbst zum Wohl der Reichswehr getroffene Verfügungen der Truppe nicht oder doch ganz verspätet bekannt gegeben worden sind, so daß Klagen, deren Grund längst abgestellt, immer wieder von neuem erhoben wurden. Der Vorgesetzte, dem solche Versäumnis zur Last fällt, versündigt sich schwer am Geiste der Reichswehr und trägt dazu bei, daß Unzufriedenheit und Mißtrauen wachsen statt zu schwinden.

Aus zahlreichen Anzeichen entnehme ich, daß vielen Angehörigen der Reichswehr die Lage noch nicht klar geworden ist, in welche wir durch die Ereignisse des März geraten sind, daß wir die Folgen tragen müssen von dem, was politische Kurzsichtigkeit in Gefolgschaft hochverräterischer Bestrebungen angerichtet hat. Es ist das tragische Schicksal solcher Taten, daß die schuldlose Masse für die Schuld Einzelner büßen muß. Wenn auch nicht geleugnet werden kann und soll, daß für die Mehrzahl der Verfehlungen das militärische Gehorsamgefühl entschuldigend eintritt, so dürfen wir doch nicht verkennen und bestreiten, daß in unseren Reihen Verschuldungen vorgekommen sind, die Sühne heischen. Erkennen wir das nicht, geben wir das nicht selbst zu und schlagen wir nicht selbst den Weg zur Besserung ein, dann dürfen wir nicht klagen, wenn von außen her angestrebt wird, ändernd einzugreifen. Ich verstehe unter solchen Verfehlungen nicht nur die, welche mit den politischen Ereignissen der letzten Wochen zusammenhängen, sondern vor allem die Fälle grober Indisziplin und roher Ausschreitungen, welche bei einzelnen Truppenteilen vorgekommen sind. Ich bin nicht gesonnen, solche Vorkommnisse zu dulden oder zu vergessen. Für Gruppen, welche die Ehre des Soldaten verletzt haben, ist in der Reichswehr kein Platz.

In Fällen strafbarer Handlungen wird das gerichtliche Verfahren Platz greifen, das zum Zweck der Feststellung der Wahrheit und Wahrung der Ehre des Einzelnen und der Gesamtheit nach besten Kräften zu fördern und zu unterstützen unsere Pflicht ist. Daneben ist in manchen Fällen zu prüfen, ob ein Offizier, abgesehen von dem gerichtlichen Verfahren, in seiner Dienststelle oder im Heere verbleiben kann. Von keiner Seite ist Gesinnungsriecherei, von keiner Proskription zu erwarten, jeder Einzelfall wird geprüft und beurteilt werden, wobei neben der Sorge um die Ehre der Gesamtheit auch alle dienstlichen Verhältnisse ihre volle Berücksichtigung finden werden.

Mit Ernst und Nachdruck ist allen Gerüchten entgegenzutreten, die auf nichts weniger als auf eine völlige Auflösung oder grundlegende Umformung der Reichswehr hindeuten. Zeitungsnachrichten solcher Art sollte nicht bereitwillig Glauben geschenkt werden. Leider hat die politische Lage noch nicht erlaubt, das Wehrgesetz zu verabschieden. Von keiner maßgebenden Stelle ist beabsichtigt, die Grundsätze, nach denen der Aufbau der Reichswehr in allen ihren Teilen begonnen wurde, zu ändern. Die Reichswehr soll in allen Stellen[133] jedem Volksgenossen offen stehen; die Auswahl ihrer Führer wird nach wie vor auf Grund der dienstlichen Eignung und des Charakters erfolgen.

Mit allen Kräften soll die politische Betätigung jeder Art dem Heere ferngehalten werden. Politische Kämpfe innerhalb der Reichswehr vertragen sich weder mit dem Geist der Kameradschaft noch mit der Disziplin und können die militärische Ausbildung nur schädigen. Wir fragen nicht nach der politischen Färbung des Einzelnen; aber von jedem, der jetzt noch in der Reichswehr dient, muß ich annehmen, daß er seinen Eid ernst nimmt und sich freien Willens und als ehrlicher Soldat auf den Boden der Reichsverfassung gestellt hat.

Wer den unglücklichen Märzumsturzversuch nicht verurteilt, wer gar glaubt, daß von seiner Wiederholung irgend etwas anderes als neues Unheil für Volk und Reichswehr entstehen könnte, der sollte selbst das Gefühl haben, daß für ihn kein Platz mehr im Heer ist.

Bei der Beurteilung unserer Lage und der Härten, die diese Zeit uns allen auferlegt, vermisse ich oft das Verständnis dafür, daß wir für sie das unabwendbare Unglück des Friedensvertrages verantwortlich machen müssen. Vor allem gilt dies von der Unsicherheit unserer Heeresorganisation. Es darf nicht die leider von manchen Stellen bisher genährte Auffassung Platz greifen, als ob die Regierung und die höchsten militärischen Stellen nicht alles versuchten, um eine Besserung zu erzielen. Ebenso muß die von der gleichen Seite verbreitete Annahme bekämpft werden, als ob wir irgendwelche Aussicht hätten, die sofortige Herabsetzung der Heeresstärke auf 200 000 Mann zu vermeiden. Diese Stärke über den 10. Juli hinaus zu erhalten, wird auf allen Wegen angestrebt. Alle damit befaßten Stellen werden versuchen, den zur Entlassung kommenden Mitgliedern aufzulösender Formationen den Übergang in das bürgerliche Leben oder die Anstellung in anderen Truppenteilen zu erleichtern. Das ist aber nur angängig und zu erwarten, wenn der Auflösung der zu bezeichnenden Formation von keiner Seite Schwierigkeiten gemacht werden.

In diesen dunklen Schicksalstagen der Reichswehr gibt uns das Vertrauen in eine bessere Zukunft die zuverlässige Haltung der großen Mehrzahl aller Truppen. Mit Dank und Bewunderung sehen wir auf die treue Pflichterfüllung unserer Kameraden in Thüringen, Sachsen und im Ruhrgebiet, mit Trauer auf die schweren Verluste, die wir erlitten, und hegen die Hoffnung, daß bald der Kampf gegen eigene Volksgenossen ein Ende finden möge.

Im festen Vertrauen auf das Offizierskorps bin ich an die Spitze der Heeresleitung getreten. 35 Jahre lebe ich in der Armee und für sie. Ihr gehört der Rest meiner Kräfte. Niemand kann tiefer als ich im Herzen die Nöte und Sorgen aller mitempfinden. Wenn wir zusammen stehen, werden wir der Schwierigkeiten wie schon so oft Herr werden. Es ist nicht zu erwarten, daß ein jeder den Wandel der Zeit in seinem Herzen begrüßt. Durchdrungen muß aber ein jeder von uns von der inneren Überzeugung sein, daß nur, wenn der Soldat treu zu seiner verfassungsmäßigen Pflicht steht, der Weg wieder aufwärts führt2.

2

Vgl. F. v. Rabenau, a.a.O., S. 240.

[134] Dieser Befehl ist durch Verlesen zur Kenntnis aller Offiziere zu bringen und daß dies geschehen, von den Wehrkreisen dem Reichswehrministerium (T 1) zu melden. Für die Mannschaften ist er zum Gegenstand der Unterweisung zu machen.

gez. v. Seeckt

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