2.77.1 (mu21p): [Beilegung des Arbeitsstreits.]

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[Beilegung des Arbeitsstreits.]

Der Reichskanzler setzte den Erschienenen in ähnlicher Weise, wie er dies am Vormittage gegenüber den Arbeitgebervertretern getan hatte2, die Beweggründe auseinander, die die Reichsregierung zum Eingreifen in den Arbeitskampf bei Nordwest veranlaßt haben. Er unterrichtete sie sodann über den Vorschlag der Reichsregierung, den Streit durch den Spruch eines vom Vertrauen beider Parteien getragenen Obmannes beilegen zu lassen, ferner darüber, daß die Reichsregierung als geeigneten Obmann den Reichsinnenminister Severing vorschlage und schließlich auch über das wesentliche Ergebnis der Verhandlungen mit den Arbeitgebern zur Sache. Er unterstrich besonders, daß für den Fall des Einverständnisses der Arbeitnehmer der Arbeitskampf sofort zu Ende sein werde.

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Siehe Dok. Nr. 76.

Die Arbeitnehmervertreter baten darauf, zunächst in Abwesenheit der Vertreter der Reichsregierung allein unter sich verhandeln zu können. Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen vor dem Reichskanzler erklärte der Reichstagsabgeordnete Brandes als Sprecher für sämtliche Arbeitnehmer, daß sie zur Person des als Obmann vorgeschlagenen Reichsminister Severing absolutes Vertrauen hätten, und daß sie sich seinem Spruche unterwerfen würden mit dem alleinigen Vorbehalt, daß der bereits für verbindlich erklärte Schiedsspruch des Reichsarbeitsministers in der Lohnfrage3 unangetastet bleiben müsse. In der Lohnfrage liege nach ihrer Auffassung ein auf klarer Rechtsgrundlage stehender fester Tatbestand vor, den der Obmann unter allen Umständen anerkennen müsse. Das letzte Wort in dieser Frage liege beim Reichsarbeitsgericht. Für den Fall des Obsiegens der Arbeitnehmer stünden den Arbeitnehmern, wie dies bereits vor Präsident Bergemann festgelegt sei, die Lohnsätze des Schiedsspruchs unkündbar bis zum 31.3.1929 zu.

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Vgl. Anm. 3 zu Dok. Nr. 54.

In ähnlichem Sinne sprach sich für die Freien Gewerkschaften Herr Wolf aus.

[271] Der Reichskanzler erwiderte, daß der Oberschiedsrichter bei der Übernahme seines Amtes eine Bindung an irgendwelche Bedingungen weder von Arbeitgeberseite noch von Arbeitnehmerseite zulassen werde und daß die Vermittlungsaktion der Reichsregierung als gescheitert gelten müsse, wenn die Arbeitnehmer an ihren Bedingungen festhalten sollten. Die Reichsregierung sei bei ihrem Entschluß zum Eingreifen einmütig der Auffassung gewesen, daß der Kampf der Parteien möglichst sofort abgebrochen werden müsse. Die deutsche Volkswirtschaft vertrage keine Fortsetzung des Kampfes. Insbesondere sei sie der Auffassung gewesen, daß bei einer Fortsetzung des Kampfes bis zur Rechtskraft des Urteils des Reichsarbeitsgerichts, zumal da bis zu diesem Termin noch lange Zeit vergehen könne, die deutsche Volkswirtschaft in nicht zu verantwortender Weise Schaden erleiden werde. Im übrigen sei ja vorgesehen, daß die Möglichkeit der Entscheidung der im Rechtsstreit aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen durch das Reichsarbeitsgericht nicht ausgeschaltet werden solle.

Der Reichsarbeitsminister ergänzte diese Ausführungen dahin, daß für die Haltung der Reichsregierung nicht nur innenpolitische, sondern auch außenpolitische, insbesondere reparationspolitische Gesichtspunkte ausschlaggebend gewesen seien. Bei einer Fortsetzung des Arbeitskampfes werde die deutsche Volkswirtschaft schwersten Schädigungen ausgesetzt sein, und es bestehe die große Gefahr, daß das Ausland Deutschland angesichts seiner gefährdeten Wirtschaftslage für eine Endlösung des Reparationsproblems noch nicht für reif halten werde. Reichsminister Severing werde als Obmann die Gesamtlage sorgsam und sachlich prüfen und insbesondere beide Parteien anhören und mit ihnen verhandeln. Er legte den Arbeitnehmervertretern dringend nahe, dem Vorschlage des Reichskanzlers zuzustimmen.

Herr Wolf antwortete, daß die Arbeit[geber]4 sich über Recht und Gesetz hinweggesetzt und den Kampf gewollt hätten, während das Recht auf seiten der Arbeitnehmer sei. Die Reichsregierung habe früher eingreifen sollen; jetzt sei es zu spät.

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In der Niederschrift: „Arbeitnehmer“.

Der Reichsarbeitsminister riet nochmals zum Frieden. Die Aufwerfung der Schuldfrage führe zu nichts. Er gebe ferner zu bedenken, daß die öffentliche Meinung möglicherweise angesichts des Entgegenkommens der Arbeitgeber zu Ungunsten der Arbeitnehmer umschlagen könne, wenn die Einigung heute an den Arbeitnehmern scheitere.

Der Reichskanzler führte aus, daß für das Reichskabinett so lange kein Anlaß zum Eingreifen vorgelegen habe, wie der Präsident Bergemann im Einvernehmen mit der Reichsregierung zwischen den Parteien vermittelt habe. Die Reichsregierung habe sofort die Initiative ergriffen, nachdem erkennbar geworden sei, daß die Bemühungen des Präsidenten Bergemann negativ verlaufen würden. Es gehöre nach seiner Meinung keine große Prophetengabe dazu, vorherzusagen, wem sich die öffentliche Meinung zuneigen werde, wenn die Arbeitnehmer auf den Vorschlag der Reichsregierung nicht eingingen.

[272] Der Reichstagsabgeordnete Brandes meinte, es sei für die Arbeitgeber leicht, sich dem Spruche eines Obmannes bedingungslos zu unterwerfen, weil sie bei einem solchen Spruch angesichts des Ausganges des gesetzlichen Schlichtungsverfahrens nur gewinnen und nichts mehr verlieren könnten. Für die Arbeitnehmer liege die Sache anders, für sie sei ein Zurück in der Lohnfrage unannehmbar. Die Person des von ihnen hochgeschätzten Reichsinnenministers Severing stehe ihnen zu hoch, als daß sie ihm das Amt zumuten wollten, einen klaren Rechtsanspruch zu Ungunsten der Arbeitnehmer zu mindern. In der Arbeitszeitfrage dagegen würden sie eine etwaige Änderung durch den Obmann anerkennen.

Der Reichskanzler erwiderte, daß Reichsminister Severing sich aus persönlichem Verantwortlichkeitsgefühl zur Verfügung gestellt habe in der Überzeugung, daß das politische und wirtschaftliche Unglück, das bei wochenlanger weiterer Fortsetzung des Kampfes drohe, unbedingt abgewendet werden müsse.

Der Reichswirtschaftsminister bemerkte, daß die Arbeitnehmer doch in etwa auch dem Umstand Rechnung tragen müßten, daß der endgültige Ausgang des Schlichtungsverfahrens noch nicht feststehe, weil das Reichsarbeitsgericht noch nicht gesprochen habe.

Hierauf erwiderte Herr Tost, daß diese Erwägungen die Haltung der Arbeitnehmer nicht beeinflussen könnten.

Der Reichstagsabgeordnete Stegerwald führte aus, daß es der Reichsregierung offenbar in erster Linie darauf ankomme, den Kampf sofort abzubrechen. Der Obmann werde vor Fällung seines Spruches die Lage sorgfältig und eingehend prüfen müssen. Möglicherweise werde er mit dieser Prüfung von der Entscheidung des Reichsarbeitsgerichts, die am 15. Dezember 1928 fallen soll5, noch nicht fertig sein. Er werde alsdann den Spruch des Reichsarbeitsgerichts bei seiner Entscheidung mit in Rücksicht ziehen können.

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Die Entscheidung fiel erst am 22.1.29 und erneuerte das Urteil des Arbeitsgerichts Duisburg.

Der Reichsarbeitsminister griff diese Gedanken auf und sagte, daß die Annahme, der Obmann werde in der Lohnfrage unter allen Umständen gegen die Arbeitnehmer entscheiden müssen, keineswegs mit der Bestimmtheit aufgestellt werden könne, wie dies heute von seiten der Arbeitnehmer geschehe.

Der Reichswirtschaftsminister gab seiner persönlichen Auffassung dahin Ausdruck, daß der Obmann seine Prüfung zeitlich über den 15. Dezember hinaus erstrecken müsse, daß auch die Arbeitgeber durchaus mit dieser Möglichkeit rechneten.

Herr Schmitz führte für die christlichen Gewerkschaften aus, daß die innen- und außenpolitischen Gesichtspunkte, die für den Vorschlag der Reichsregierung sprächen, von ihnen keineswegs verkannt würden. Von ihnen müsse aber in erster Linie in Rücksicht gezogen werden, wie eine etwaige Annahme des Vorschlages der Reichsregierung auf ihre Mitglieder wirken würde. Immerhin sei die Sachlage für sie durch die von den Vertretern der Reichsregierung vorgetragenen Gesichtspunkten inzwischen klarer geworden, so daß er eine nochmalige Beratung der Arbeitnehmervertreter unter sich anrege.

[273] Dieser Anregung schloß sich Herr Czieslik für die Hirsch-Dunker-Arbeitnehmervertreter an. Er bemerkte noch, daß die Arbeitnehmer letzten Endes in Rechnung stellen müßten, daß ihnen die neuen Lohnsätze des Schiedsspruches ja nur bis zum 31. März 1929, also für eine verhältnismäßig kurze Zeit, sicher seien.

Die Arbeitnehmer verhandelten daraufhin erneut in Abwesenheit der Vertreter der Reichsregierung.

Nach Wiedereröffnung der Verhandlungen durch den Reichskanzler erklärte Reichstagsabgeordneter Brandes, wiederum als Sprecher für alle Arbeitnehmervertreter, daß sie zu ihrem Bedauern heute keine endgültige Entscheidung treffen könnten. Nach der Gewerkschaftsverfassung seien einzelne Mitglieder nicht befugt, eine die Gesamtheit bindende Entscheidung allein zu treffen. Zu einer solchen Entscheidung bedürfe es einer Mitwirkung der Vertrauensleute. Er könne aber für die Erschienenen die bindende Erklärung abgeben, daß sie bis Sonntagabend der Reichsregierung eine Mitteilung über den Ausfall der Entscheidung der zuständigen Gewerkschaftsinstanzen zukommen lassen würden. Die Vertretungen aller drei Gewerkschaftsrichtungen würden Sonntag Bezirkskonferenzen abhalten, und zwar so zeitig, daß die Entscheidung bis Sonntagabend da sein könne.

Der Reichskanzler antwortete, daß er angesichts dieser Stellungnahme der Arbeitnehmervertreter die Befürchtung habe, daß die letzte Entscheidung der Gewerkschaften an Bedingungen geknüpft sein werde, was nach dem Vorhergesagten dem Scheitern der Vermittlungsaktion der Reichsregierung gleichzuachten sei. Er stellte die Frage, ob die anwesenden Arbeitnehmervertreter wenigstens dahin übereingekommen seien, für ihre Personen den Vorschlag der Reichsregierung gegenüber den Gesamtvorständen und den Revierkonferenzen zu befürworten.

Die Antwort des Herrn Brandes lautete dahin, daß die Anwesenden nur darüber einig gewesen seien, daß die Gesamtvorstände und die Revierkonferenzen gefragt werden sollten.

Der Reichskanzler stellte weiter die Frage, welch anderen Weg die Arbeitnehmervertreter zur Beilegung des Arbeitskonflikts vorschlagen könnten, wenn das Ergebnis der Sonntagsverhandlungen ein negatives sein sollte.

Hierauf antwortete Herr Schmitz, daß sich die Arbeitnehmer über diese Frage erst in einem weiteren Stadium der Entwicklung schlüssig werden könnten.

Sodann besprach der Reichskanzler die Situation allein mit den anwesenden Vertretern der Reichsregierung, in Abwesenheit der Arbeitnehmervertreter.

Nach Wiedereröffnung der gemeinsamen Verhandlung setzte der Reichskanzler den Arbeitnehmervertretern auseinander, daß er es für dringend angebracht halte, die Entscheidung der Arbeitnehmer außerhalb des Reviers herbeizuführen. Er legte ihnen auch sehr nahe zu erwägen, die Entscheidung lediglich durch die Gesamtvorstände der Gewerkschaften unter Ausschluß der Revierkonferenzen treffen zu lassen.

Nach einiger Überlegung erklärte Reichstagsabgeordneter Lemmer, daß die Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine mit einer Entscheidung ihres Gesamtvorstandes[274] auskommen und daher schon heute für den Vorschlag des Reichskanzlers stimmen könnten.

Abg. Stegerwald gab darauf für die Christlichen Gewerkschaften eine gleichlautende Erklärung ab.

Die Vertreter der Freien Gewerkschaften baten, sich zunächst noch einmal unter sich aussprechen zu können.

Nach Beendigung dieser besonderen Aussprache teilte Reichstagsabgeordneter Brandes mit, daß die Freien Gewerkschaften sich leider außerstande sähen, an den in den Gewerkschaftssatzungen vorgesehenen Instanzen vorbeizugehen. Ein Übergehen der Revierkonferenz sei für sie nach den Satzungen unmöglich.

Alle Gewerkschaftsvertreter baten daraufhin, in die zu veröffentlichende Pressenotiz aufzunehmen, daß die Vertreter der Gewerkschaften sich die Entscheidung noch bis zu einer am kommenden Sonntagvormittag stattfindenden Sitzung ihrer Gewerkschaftsinstanzen vorbehalten müßten6.

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Am 2. 12. telegrafierten der Christliche Metallarbeiterverband, der Gewerkverein deutscher Metallarbeiter und die Freien Gewerkschaften ihre Zustimmung zum Vorschlag der Reichsregierung auf Einsetzen Severings als Schiedsrichter (R 43 I /2055 , Bl. 322-324).

Die Sitzung wurde daraufhin vom Reichskanzler geschlossen.

[Entwurf der Pressenotiz.]

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