2.85.3 (mu21p): 3. Bericht über Wirtschaftslage, Lohnbewegung und Schlichtungswesen.

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3. Bericht über Wirtschaftslage, Lohnbewegung und Schlichtungswesen.

Der Reichswirtschaftsminister wies auf die Bedeutung des Lohnkampfes in der sächsichen Textilindustrie hin und dankte dem Reichsarbeitsminister dafür, daß er die Entscheidung über die Verbindlichkeitserklärung des für Westsachsen gefällten Schiedsspruchs noch bis zu der von ihm erbetenen Aussprache im Kabinett hinausgeschoben habe3.

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Über den Lohnkonflikt in der sächsischen Textilindustrie hatte bereits am 11. Dezember 1928, nachm. 16 Uhr, unter Vorsitz des RK eine Chefbesprechung mit den Ministern Hilferding, Curtius und Wissell stattgefunden, in der keine Einigung zwischen RArbM und RWiM erzielt worden war. Zum Schluß der Sitzung hatte der RArbM erklärt, daß er den Schiedsspruch nicht am gleichen Tag für verbindlich erklären wolle, sondern die Angelegenheit nochmals überlegen werde. Er behalte sich aber volle Entscheidungsfreiheit vor (R 43 I /2055 , Bl. 376-378, hier: Bl. 378).

[300] Auf seine Bitte gab der Reichsarbeitsminister einen Überblick über den Sachstand4. Er verwahrte sich aber dagegen, daß in seine ausschließliche Zuständigkeit eingegriffen werde5.

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In der Chefbespr. vom 11.12.28 hatte der RArbM vorgetragen, „daß im November d. J. ein Lohnschiedsspruch für die Textilindustrie Westsachsens gefällt worden sei. Der Schiedsspruch sehe eine Erhöhung der Zeitlöhne um 5% vor. Der Schiedsspruch bedeute in seiner Gesamtauswirkung jedoch nur eine Erhöhung der Gesamtlöhne um 1%. Der Schiedsspruch sehe eine Laufzeit von 1½ Jahren vor. Dieser Schiedsspruch sei von beiden Seiten abgelehnt worden.“ Auch die Nachverhandlungen seien ergebnislos geblieben, so daß er (RArbM) nun vor der Frage der Verbindlichkeitserklärung stehe. Er fühle sich zur Verbindlichkeitserklärung verpflichtet. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wollten ein neues Schiedsverfahren. Die Forderung der Arbeitgeber gehe dahin, die gegenwärtigen Löhne auf mindestens 2 Jahre tariflich festzulegen, während den Arbeitnehmern die im Schiedsspruch zuerkannte Lohnerhöhung zu gering erscheine. „Von dem Schiedsspruch würden allein in Westsachsen 240 000 Arbeiter und 60 000 Heimarbeiter erfaßt. Hinzu komme, daß die Regelung für Westsachsen zwangsläufig Rückwirkungen auf die Textilindustrie Ostsachsens haben werde, wo 150 000 Arbeiter und eine große Anzahl von Heimarbeitern beteiligt seien, so daß die Lohnbewegung insgesamt rund eine halbe Million Arbeitnehmer betreffe.“ Komme ein neuer Tarif nicht zustande, sei mit Streik und Arbeiterunruhen zu rechnen. Er (RArbM) sei überzeugt, daß die Arbeitgeber die Erhöhung des Lohnniveaus um 1% tragen könnten. Durch die Verbindlichkeitserklärung werde das Allgemeininteresse gewahrt. „Diese scheine ihm aus innenpolitischen, aus außenpolitischen und aus sozialpolitischen Gründen unerläßlich“ (R 43 I /2055 , Bl. 376-378, hier: Bl. 376f).

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Vgl. dazu Dok. Nr. 52.

Der Reichswirtschaftsminister nahm zu den Ausführungen des Reichsarbeitsministers Stellung. Die Tarifverträge seien teilweise von den Gewerkschaften, zum größeren Teil allerdings von den Arbeitgebern gekündigt worden, vornehmlich, um zu einer Dauerregelung der Lohnverhältnisse zu gelangen. Der Schiedsspruch in der München-Gladbacher Textilindustrie und in Düren sei wesentlich günstiger für die Unternehmer als der Schiedsspruch in Westsachsen. Dort würde die Erhöhung von 5% für die Stundenlöhne eine Erhöhung des gesamten Lohnniveaus um mehr als 1% bedeuten und bei der üblichen Relation zwischen den Stundenlöhnen und den Akkordlöhnen gewiß in absehbarer Zeit noch eine Erhöhung der Akkordlöhne nach sich ziehen6.

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In ähnlichem Sinn hatte sich der RWiM in der Chefbesprechung am 11. 12. geäußert und hinzugefügt, daß eine Verbindlichkeitserklärung des RArbM für den westsächsischen Schiedsspruch im Westen die Vergleichsverhandlungen zum Scheitern verurteile (R 43 I /2055 , Bl. 376-378, hier: Bl. 378).

Bei der außerordentlich schwierigen Lage, in der sich die Textilindustrie zur Zeit befinde, sei jede Lohnerhöhung wirtschafts- und sinnwidrig. Die Textilindustrie beschäftige nur etwa 62,5% der Vollarbeiter, die Produktionslage sei weit unter die der Jahre 1927 und 1925 gesunken, wohl auch in Auswirkung des deutsch-französischen Handelsvertrags7. Die Konkurrenz Frankreichs und der Tschechoslowakei arbeite mit Löhnen, die 34–42% niedriger seien als in Deutschland. In England und Amerika entfielen auf ein Stück Ware wesentlich weniger Arbeitsstunden als in Deutschland. Die deutsche Textilindustrie brauche starke eigene Mittel, um die Betriebe zu rationalisieren. Die Ausfuhr sei nur zu außerordentlich gedrückten Preisen möglich.

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Zum Handelsabkommen Deutschlands und Frankreichs v. 17.8.27 s. RGBl. II, S. 524  ff.

Auf die Stimmung der gesamten Arbeitgeberschaft sei Rücksicht zu nehmen. Sie halte bei der schwierigen Wirtschaftslage jede Lohnsteigerung für unerträglich. Auch ihm scheine es geboten, Lohnerhöhungen, soweit irgend[301] möglich, zurückzuhalten, wenn er auch zugebe, daß für einzelne Industriezweige und Unternehmungen noch günstige Verdienstmöglichkeiten bestehen, die Lohnsteigerungen zulassen würden8.

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In der Chefbespr. am 11. 12. hatte der RWiM auf eine Rede des RArbM hingewiesen, in der dieser erklärt habe, „daß im Zeichen absteigender Konjunktur allgemein Lohnerhöhungen unmöglich seien. Diese Erklärung müsse endlich in die Tat umgesetzt werden, denn anders sei an eine Gesundung der deutschen Industrie nicht zu denken“ (R 43 I /2055 , Bl. 376-378, hier: Bl. 377).

Würde der Schiedsspruch in Westsachsen nicht für verbindlich erklärt, so würde voraussichtlich zunächst weder ein Streik noch eine Aussperrung die Folge sein; die geltenden Verträge würden von Monat zu Monat weiterlaufen. Die Unsicherheit und die Gefahr der Arbeitsunterbrechung müsse aber auf alle Fälle vermieden werden. Er bitte deswegen, den Schiedsspruch nicht für verbindlich zu erklären, sondern einen neuen Spruch durch eine Schlichtungskammer herbeizuführen. Er hoffe, daß durch diesen die geltenden Löhne für etwa ein Jahr aufrechterhalten würden.

Der Reichsarbeitsminister führte aus, er könne den Schlichtern keine bestimmten Weisungen geben; in vierteljährlichen Besprechungen, an denen auch das Reichswirtschaftsministerium teilnähme, würde mit ihnen über die allgemeine Wirtschaftslage und über die Folgerungen verhandelt, die sich daraus für die Schiedspraxis ergeben.

Nach Mitteilung des „Konfektionär“ habe die deutsche Textilindustrie 1927 mit 11,2% Reingewinn gearbeitet. Die Durchschnittsdividende habe 6,2% betragen und würde nur von wenigen Wirtschaftszweigen überschritten. Die Abschreibungen hatten nahezu genau 10% des gesamten Anlagekapitals von 642 Millionen Mark betragen.

Bisher sei ein neuer Schiedsspruch nur dann gefällt worden, wenn es sich um erhebliche Abweichungen vom bisherigen Lohnstande gehandelt habe. Diese Voraussetzung treffe in Westsachsen nach seiner Überzeugung nicht zu. Er halte deswegen ein neues Schlichtungsverfahren nicht für möglich. Die Chefbesprechung über die Lage in der Textilindustrie und die gegenwärtigen Verhandlungen im Kabinett bedeuteten für ihn einen starken Druck. Er könne aber nach seiner Überzeugung sein Amt nicht weiterführen, wenn von ihm verlangt würde, im Falle Westsachsens eine Schiedsrichterkammer zu bestellen.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte, das Jahr 1927 sei für die Textilindustrie besonders günstig gewesen9. Bei der raschen Abnutzung und Überalterung der Anlagen der Textilindustrie sei eine Abschreibung von mindestens 10% angemessen. Die Dividenden bewegten sich, selbst in dem guten Jahre 1927, noch wesentlich unter dem Reichsbankdiskont10. Die Arbeitslöhne seien im Jahre 1927 auf 187–200% der Vorkriegshöhe gestiegen.

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In der Chefbespr. am 11. 12. war vom RWiM erklärt worden „daß die deutsche Textilindustrie allerdings den Tiefpunkt der Konjunktur erreicht zu haben scheine. Gleichwohl könne sie eine noch so geringfügige Erhöhung des Lohnniveaus nicht ertragen, da sich noch keinerlei Anzeichen für ein Anziehen der Konjunktur gezeigt hätten.“ Sie bedürfe einer Ruhezeit ohne Lohnerhöhungen. „Es sei richtig, daß die Löhne der Textilarbeiter nicht übermäßig hoch seien, immerhin seien sie aber gegenüber dem Friedensstand durchaus angemessen gestiegen“ (R 43 I /2055 , Bl. 376-378, hier: Bl. 377).

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Der Reichsbankdiskont betrug 7%.

[302] Keine Steigerung könne bei dieser Sachlage als geringfügig angesehen werden. Er beantragte keine Abstimmung zu der Streitfrage, halte aber die Aussprache wegen der Gefahr starker Unruhe in der Öffentlichkeit bei Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruchs für erforderlich.

Der Reichskanzler führte aus, er habe sich in seiner Fraktion gegen Lohnerhöhungen ausgesprochen. Es sei schon ein Erfolg, wenn es gelinge, bei der absinkenden Konjunktur die Reallöhne zu halten. Wenn der Schiedsspruch für verbindlich erklärt werde, so würden beide Parteien gegen den Reichsarbeitsminister Angriffe richten. Solche Lagen seien auf die Dauer für keinen Minister erträglich.

Der Reichswirtschaftsminister hielt es für erforderlich, gleichzeitig mit der Regelung der Verhältnisse in der Textilindustrie auch den Lohnkampf in der Werftindustrie zu beenden, der nach zweimonatlicher Dauer für die Unternehmungen und die Schiffahrt zu außerordentlichen Schädigungen führe11. Die beiden großen Neubauten des Norddeutschen Lloyd würden nicht rechtzeitig fertiggestellt werden können, wenn die Arbeit nicht noch vor Weihnachten aufgenommen würde. Er schlage deswegen vor, daß das Kabinett in einer öffentlichen Erklärung auf die Notwendigkeit hinweise, nach Wiederherstellung des Arbeitsfriedens in Nordwest auch zu einer Befriedung der Werftindustrie und der Textilindustrie zu gelangen12.

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Am 1.10.28 war ein Werftarbeiterstreik ausgebrochen, nachdem ein Schiedsspruch von beiden Parteien abgelehnt worden war, der eine Lohnerhöhung von 4 Pfg pro Stunde und eine Verkürzung der Arbeitszeit von 54 auf 52 Wochenstunden vorsah. Im Streik standen 50 000 Arbeiter („Der deutsche Volkswirt“ II, S. 6). Die Beendigung des Streiks erfolgte auf Grund eines Schiedsspruchs am 21.12.28, durch den die Löhne durchschnittlich um 5 Pfg pro Stunde erhöht wurden. Der Tarif sollte bis zum 30.6.30 gelten (a.a.O., S. 475).

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Die Lohnauseinandersetzungen in der Textilindustrie setzten sich bis Anfang März 1929 fort. Siehe dazu „Der deutsche Volkswirt“ III, S. 475, 573, 616, 685 und 740.

Der Reichsarbeitsminister erklärte sich mit diesem Vorschlage einverstanden. Die beiliegende Pressenotiz wurde zwischen den zuständigen Ministern vereinbart13.

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Die Notiz wurde vom WTB am 14.12.1928 veröffentlicht: „In einer Aussprache des Ministerrats über die Wirtschaftslage wurde die Notwendigkeit anerkannt, nach der Wiederherstellung des Arbeitsfriedens im Bezirk Nordwest die beiden, das Wirtschaftsleben zur Zeit lebhaft beunruhigenden großen Lohnkonflikte in der Werftindustrie und in der sächsischen Textilindustrie unverzüglich zur Lösung zu bringen. Der RArbM war in der Lage mitzuteilen, daß er entsprechende Maßnahmen eingeleitet habe und alsbald durchführen werde“ (R 43 I /2055 , gefunden in R 43 I /1434 , Bl. 384).

Der Reichspostminister führte aus, daß auch in der Post Tarifverhandlungen begännen und daß hierauf bei der Erklärung Rücksicht genommen werden müsse. Im übrigen sei die Behauptung, die von der Reichsbahn aufgestellt werde, daß die Post abwarte, bis die Tarifverhandlungen bei der Reichsbahn zu Ende geführt seien, um dann in der eigenen Verwaltung gewisse Erhöhungen der gleichliegenden Tarife zuzugestehen, als unrichtig zurückzuweisen. Er erklärte sich bereit, sich bei den Tarifverhandlungen auf die gleiche Linie einzustellen wie die Reichsbahn14.

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Bereits am 15.3.28 hatte sich das RKab. in 2 Kabinettssitzungen mit Lohnforderungen der RB- und Reichspostarbeiter beschäftigt, nachdem die Gewerkschaften der RB-Gesellschaft die Tarife zum 31.3.28 gekündigt hatten und Forderungen stellten, die nach Meinung der RB-Gesellschaft eine jährliche Mehrbelastung von 240–285 Mio RM bedeuteten. Von Seite des Vizekanzlers Hergt war mit einer entgegenkommenden Lohnerhöhung gerechnet worden. Der RPM hatte ein getrenntes Vorgehen der öffentlichen Betriebe abgelehnt. Zur weiteren Entwicklung Dok. Nr. 179, P. 2.

[303] Der Reichswirtschaftsminister regte an, daß im Reichsministerium monatlich einmal – wegen der Zusammenstellung der Ergebnisse der Handelsstatistik etwa am 12. – zweckmäßig jeden Donnerstag nach dem 12. abends über die Wirtschaftslage eine Aussprache stattfinden möge.

Der Reichskanzler erklärte sich bereit, dafür zu sorgen, daß die angeregten Besprechungen regelmäßig stattfinden. Auf Grund früherer Erfahrungen hielt er es aber für die erste Voraussetzung, daß sich das Reichsministerium dazu vollzählig einfinde.

Weiter schlug der Reichswirtschaftsminister vor, daß nach Veröffentlichung der Entscheidung des Reichsarbeitsgerichts im Lohnkampf Nordwest der Reichsminister des Innern und der Reichsjustizminister die Rechtsfrage prüfen möchten, ob nicht auch bei der gegenwärtigen Rechtslage der Reichskanzler die Fragen des Schiedsspruchs vor das Kabinett bringen könne15.

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Eine entsprechende Aufforderung wurde vom StSRkei unter Bezugnahme auf die Kabinettssitzung vom 14. 12. an den RIM und den RJM gerichtet (R 43 I /2055 , Bl. 391). Die Auseinandersetzung wurde jedoch nicht zur Entscheidung gebracht.

Der Reichsarbeitsminister erklärte sich bereit zu einer Aussprache über diese Frage, bat aber, keinen Zeitpunkt hierfür zu bestimmen.

Auf Grund des Berichts des Reichswirtschaftsministers sowie der Aussprache beschloß das Reichskabinett

a)

ein Gutachten über die Frage, ob die in der Verordnung über das Schlichtungswesen statuierte Zuständigkeit des Reichsarbeitsministers für die Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen eine ausschließliche ist, oder ob sich der Reichsarbeitsminister unter gewissen Voraussetzungen eine Einwirkung des Reichskabinetts auf seine Entschließung gefallen lassen muß, von den zuständigen Reichsministern des Innern und der Justiz ausarbeiten zu lassen;

b)

an jedem ersten Donnerstag nach dem 12. eines jeden Monats zu einer Aussprache über die allgemeine Wirtschaftslage abends zusammenzutreten16.

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Der RArbM beantragte am 27.12.28, wegen der größeren Bedeutung den Punkt b zum Punkt a umzuändern, dagegen den Punkt a an den zweiten Platz zu rücken. MinR Feßler schlug vor, diesen Wunsch den Ressorts zur Kenntnisnahme mitzuteilen (R 43 I /2055 , Bl. 396). Über die Besprechungen zur Wirtschaftslage und ihre Häufigkeit oder Regelmäßigkeit konnte in R 43 I nichts ermittelt werden.

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