2.222 (mu21p): Nr. 222 Der Staatssekretär in der Reichskanzlei an den Reichskanzler. Madrid, 9. Juni 1929

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Nr. 222
Der Staatssekretär in der Reichskanzlei an den Reichskanzler. Madrid, 9. Juni 1929

R 43 I /287 , Bl. 240-244

[Betrifft: Sachverständigenkonferenz und Tagung des Völkerbundsrates.]

Hochgeehrter Herr Reichskanzler!

Infolge der 2200 km Entfernung von Berlin kann ich erst verhältnismäßig spät mit meiner Berichterstattung beginnen. Herr Minister Stresemann ist mit Begleitung gestern, Sonnabendabend, programmäßig in Madrid eingetroffen. Von den Etappen der Reise darf ich nur einiges von dem Pariser Aufenthalt festhalten. Am Donnerstagnachmittag war beim Botschafter von Hoesch zu Ehren des Herrn Ministers ein Tee-Empfang mit dem Personal der deutschen Botschaft, zu dem auch die deutschen Sachverständigen eingeladen waren. Es war bekanntlich am Vorabend der Unterzeichnung des Pariser Sachverständigengutachtens1.[726] Herr Präsident Schacht war in rosigster Laune. Der Herr Minister hat über seine Eindrücke, soviel ich weiß, schon einiges an Herrn Köpke telegraphiert und geschrieben. Auch ich hatte Gelegenheit, sehr eingehend mit Herrn Schacht zu sprechen. Zunächst ist festzuhalten, daß seinerseits irgendeine Animosität gegenüber der Reichsregierung augenblicklich in keiner Weise besteht. Er ist gegenwärtig sehr optimistisch eingestellt und steht keineswegs unter dem Eindruck irgendeines Drucks seitens der Reichsregierung auf ihn2. Wenngleich auch er nicht der Auffassung ist, daß die Pariser Verabredungen auf sehr lange Zeit durchzuhalten sind, hält er doch das Pariser Ergebnis für einen sehr großen Fortschritt. Mir gegenüber hat er sich dahin geäußert, daß hiermit eine Etappe für die nächsten drei Jahre erzielt sei. In erster Linie betonte er natürlich die sehr starke zahlenmäßige Erleichterung, legte aber das Hauptgewicht auf die völlige Freistellung der Pfänder und die Beseitigung der Kontrollen. Meinerseits brachte ich das Gespräch auf die Formulierung hinsichtlich der Besatzungskosten und die Verabredung über das belgische Markproblem. Der genaue Text des Abkommens ist ja augenblicklich bereits in Berlin. Hinsichtlich der Besatzungskosten wies er mir nach, daß die am letzten Tage gefundene Formulierung für Deutschland noch durchaus tragbar sei. Es sei in dem Pariser Pakt ganz ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die etwa notwendig werdenden Verabredungen für die Zeit nach dem 1. September 1929 nur einen ganz vorübergehenden Charakter haben könnten3. Er hält es daher für ganz ausgeschlossen, daß auf Grund der gefundenen Formulierungen Deutschland eventuell noch für eine lange Besatzungszeit zu neuen Verbindlichkeiten gezwungen werden könnte. Bezüglich des belgischen Markproblems bestritt er mit großer Energie, daß Deutschland nunmehr Belgien überantwortet sei, etwa mit der Begründung, daß ein Inkrafttreten des Pariser Pakts erst eine für Belgien zufriedenstellende Regelung zur Voraussetzung haben müßte. Die Belgier würden auch weiterhin unter einem starken internationalen Druck4 stehen und bestimmt nicht in der Lage sein zu verlangen und zu behaupten, daß die Regelung zahlenmäßig nur 37 x 25 Millionen aussehen dürfe. Hinsichtlich des Zeitpunkts der neuen Verhandlungen Gutt–Ritter war Herr Schacht der Auffassung, daß wir uns an sich nicht zu beeilen brauchten. Wir dürften natürlich diese Verhandlungen nicht verschleppen, sollten sie aber lediglich in den Rahmen der allgemeinen5 Regelung des Pariser Pakts einspannen. Präsident Schacht meinte auch, Deutschland könne durchaus verlangen, daß diese Verhandlungen weder in Paris noch in London geführt werden dürften, sondern eventuell sogar in Berlin oder an einem anderen uns genehmen Orte. Wir besprachen[727] dann auch die anscheinend zeitweise zutagegetretenen französischen Absichten über einen Ersatz der politischen Konferenz durch einen diplomatischen Notenaustausch. Präsident Schacht hielt diese Gefahr für überwunden und meinte auch, daß Deutschland eine politische Konferenz eventuell dadurch erzwingen könne, daß es sich andernfalls nicht an den Arbeiten der Organisationskomitees beteiligen würde. Über den weiteren Zeitablauf sagte er, daß er persönlich zunächst jedenfalls das begreifliche Bedürfnis hätte, sich gründlich auszuruhen. Er werde sich noch am Tage der Unterzeichnung sofort nach Marienbad begeben, wo seine Frau bereits Zimmer für einen mehrwöchigen Kuraufenthalt gemietet habe. Er beabsichtige unter keinen Umständen, während dieser Zeit sich irgendwie über das Ergebnis von Paris zu äußern. Seine erste offizielle Äußerung über Paris werde vielmehr erst am 28. Juni d. J. in München erfolgen6 auf der Tagung des Deutschen Industrie- und Handelstags7. Über das Programm dieses Tages habe er sich mit Präsident von Mendelssohn, der am Tage vorher in Paris gewesen sei, bereits ausgesprochen; er werde jedenfalls Gelegenheit nehmen, doch beizeiten vor diesem Termin mit der Reichsregierung in Verbindung zu treten. Da Herr Minister Stresemann ja schon mehrere Tage vor diesem Termin in Berlin sein wird, wird eine etwa erforderlich werdende eingehende Aussprache des Präsidenten Schacht mit dem Reparationskränzchen des Reichskabinetts möglich sein. Über den Ort der politischen Konferenz hat Präsident Schacht noch keine bestimmte Auffassung und möchte die Regelung dieser Frage durchaus der Reichsregierung überlassen. Insgesamt ist er jedenfalls gleichfalls der Meinung, es müsse jedenfalls versucht werden, auch innenpolitisch, die parlamentarische Erledigung des Pariser Pakts bis zum vorgesehenen 1. September d. J. sicherzustellen, d. h. also Reichstagstagung etwa im letzten Drittel August. Auf seinen Streitfall mit Parker Gilbert ist Präsident Schacht nicht mehr zurückgekommen; ich habe diesen Punkt natürlich auch nicht mehr angeschnitten; ich entnahm aber den Ausführungen des Präsidenten Schacht, daß er mit meinem letzten Briefe, in dem ich ihm die Meinung des Reichskabinetts zu diesem Punkte mitgeteilt hatte, durchaus einverstanden war.

1

Die Unterzeichnung des Pariser Sachverständigenberichts war am Abend des 7. 6. vollzogen worden (WTB 1109 vom 7. 6.; R 43 I /277 , Bl. 402. Siehe auch Schultheß 1929, S. 485).

2

In Erwiderung auf Zeitungsmeldungen hatte Kastl bereits in der Pressekonferenz am 3. 6. „feierlich und ausdrücklich“ erklärt, „daß keinerlei Versuche der Beeinflussung der Sachverständigen durch Private oder die RReg. stattgefunden hätten. Korrekter habe niemand sich in der ganzen Angelegenheit verhalten können, als es geschehen sei“ (Telegramm Wingens vom 3. 6.; R 43 I /287 , Bl. 204).

3

Siehe RGBl. 1930 II, S. 438 , Ziffer 95.

4

An den Rand setzte der RK ein Fragezeichen.

5

Vom RK doppelt angestrichen und mit einem Fragezeichen versehen.

6

Vom RK doppelt angestrichen.

7

Vgl. die Arbeit des Reichsarchivs über „die Entstehung des Young-Plans“ im zweiten Teil (BA: Nachlaß Pantlen  7) und Schultheß 1929, S. 141 ff.

Sonstige Besprechungen mit französischen Persönlichkeiten hat Herr Minister Stresemann in Paris nicht gehabt. Da für ihn die Reise recht anstrengend war, hat er in San Sebastian einen Ruhetag eingeschoben, wo er sich lediglich als Privatperson aufgehalten hat. Sein angebliches Interview mit spanischen Journalisten über das Minderheitenproblem und namentlich die Einstellung Spaniens hierzu ist ein ganz gemeiner Schwindel gewesen. Er hat überhaupt keine Journalisten gesehen, geschweige denn gesprochen. Über die sofortige Gegenäußerung der spanischen Regierung zu diesem angeblichen Interview war der Minister ziemlich ungehalten, da die spanische Regierung zuvor noch hätte feststellen müssen, ob überhaupt irgend eine Äußerung seinerseits erfolgt wäre.[728] Dieser kleine Zwischenfall ist im übrigen mittlerweile völlig beigelegt8. Der Empfang des Herrn Ministers gestern abend in Madrid war überhaupt imposant, wie überhaupt die spanische Regierung es an Entgegenkommen gegenüber Deutschland, seiner Delegation und dem Delegationsführer gegenüber, in nichts hat fehlen lassen. Als Beispiel darf ich erwähnen, daß der Minister mit seiner Begleitung in dem Hofzug des spanischen Königs von der Grenze bis nach Madrid gefahren ist und daß ein leibhaftiger Herzog von Zaragoza der Lokomotivführer war. Auf dem Hauptbahnhof in Madrid war ungeheurer Betrieb. Primo de Rivera war mit großem Gefolge persönlich erschienen und hat in überaus betont liebenswürdiger Weise den Reichsminister mit seiner Gattin und der Begleitung begrüßt.

8

Vgl. Stresemann, Vermächtnis III, S. 420.

 

Über das im Augenblick noch im Vordergrund stehende Minoritätenproblem brauche ich nicht zu berichten, da hierüber, wie ich gleich festgestellt habe, seitens der Delegation in drei Telegrammen bereits berichtet worden ist. Die Tagung des Rats als Minderheitenkomitee ist zur Stunde ja noch nicht abgeschlossen, und der Minister wird Gelegenheit haben, in der nächsten Sitzung am Dienstag persönlich in die Debatte einzugreifen. Zwischendurch erfolgt am morgigen Montagvormittag die offizielle Eröffnung des Rats. Der Herr Minister hat die Absicht, möglichst bald die nebenher beabsichtigten politischen Gespräche in Gang zu bringen. Deshalb hatten wir gestern auf der Fahrt von San Sebastian nach Madrid den altbekannten Herrn Jules Sauerwein vom Matin im Zuge mitgenommen, mit dem der Herr Minister eine sehr eingehende Aussprache über die politischen Fragen hatte. Die Besprechung war natürlich nicht für den Matin oder überhaupt die Presse bestimmt, sondern endete mit der Bitte des Ministers, Herr Sauerwein möchte nach Ankunft in Madrid seinerseits sofort Fühlung mit Herrn Minister Briand aufnehmen, damit die Besprechung Briand–Stresemann alsbald stattfinden könne. Es ist wahrscheinlich, jedenfalls möglich, daß diese erste Aussprache der beiden Staatsmänner am morgigen Montagnachmittag stattfinden wird. Hierüber werde ich dann sofort telegrafisch berichten9.

9

Siehe Dok. Nr. 224, Anm. 4.

Hoffentlich ist inzwischen in Berlin alles Weitere programmäßig verlaufen. Infolge der weiten Entfernung laufen die Nachrichten über den Gang der Dinge in Berlin naturgemäß hier nur spärlich ein. Indem ich die Ehre habe, zum Schluß die verbindlichsten Grüße des Herrn Ministers Stresemann aussprechen zu dürfen, verbleibe ich persönlich mit den ehrerbietigsten Empfehlungen, hochgeehrter Herr Reichskanzler,

Ihr Ihnen stets ganz ergebener

Pünder

[…]

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